Die AfD und ihr Untergrund
27. Oktober: Die Welt schaut auf Thüringen
Am Sonntag sind Landtagswahlen in Thüringen. Erwartet wird ein knappes Ergebnis. Derzeit scheint Die Linke dank der Popularität des amtierenden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow vorne zu liegen, gefolgt von der AfD. Während die CDU mit diesen beiden Parteien Schritt halten kann, erfahren Grüne und Sozialdemokraten weniger als halb so viel Zustimmung. Die FDP muss die 5%-Hürde fürchten.
Noch mehr als bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg richtet sich das besondere Augenmerk auf das Abschneiden der AfD. Der erste Grund dafür liegt in dem Umstand, dass sie das erste Wählervotum nach den Ereignissen des 9. Oktober in Halle dokumentieren werden. An diesem Tag versuchte ein schwer bewaffneter Nazi, ein Massaker in der Synagoge der Stadt anzurichten, wo sich zahlreiche Mitglieder und Freunde der jüdischen Gemeinde versammelt hatten, um den Feiertag Jom Kippur zu begehen. Als es ihm nicht gelang, die stabile Eingangstür des Gotteshauses aufzubrechen, warf er Sprengkörper auf den jüdischen Friedhof und erschoss eine Passantin, Jana L., die ihn deswegen angesprochen hatte. Anschließend machte er vor einem Döner-Imbiss halt, um einen jungen Mann, Kevin S., abzuknallen.
Was hat das mit der AfD zu tun? Nichts, erklärt die Partei empört, und ihr Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland echauffiert sich im Bundestag, als sei die Kritik an seiner Partei das Schlimmste an dem Geschehen von Halle. Viele AfDler glauben, das Attentat sei unter falscher Flagge inszeniert worden, um der Partei zu schaden.
Also hat es doch mit der AfD zu tun. Kein Linker, kein Christdemokrat, Sozialdemokrat oder Grüner ist auf die Idee gekommen, der Angriff auf die Synagoge und die anschließenden Morde hätten in Wirklichkeit dem Ziel gegolten, ihnen politisch zu schaden. Unwillkürlich räumen die Distanzierungen der AfD ihre Nähe, ihre Affinität, ihre Verwandtschaft zum Rechtsterrorismus ein.
Denn die sogenannten Einzeltäter wie der Amokläufer von Halle oder der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke plappern in ihren gestammelten Bekenntnissen gerade das nach, was sie von Björn Höcke, Alexander Gauland oder Alice Weidel gehört und verstanden haben: dass das deutsche Volk gegenüber den Migranten das Nachsehen haben werde, dass eine Umvolkung oder ein großer Bevölkerungsaustausch im Gange sei, dass dieser angebliche Prozess von global herrschenden Eliten geplant und betrieben werde und dass ein Tag X kommen werde, an dem sich ein nationaler Widerstand erhebt und mit seinen Feinden abrechnet. Das ist, in kurzer Beschreibung, Gemeingut in der faschistischen Szene, deren Ausläufer weit in die AfD hineinreichen, wo sie nicht nur geduldet werden, sondern das Wort führen.
In Erwartung des "nächsten gewaltigen kalten Realitätsschocks"
Sie nennen sich Reichsbürger, Hooligans, Identitäre und geben vor, eine Heimat schützen zu wollen, die ihre Vorgänger schon einmal wirksam zerlegt haben. Sie fürchten ihren Tag X nicht, im Gegenteil, sie fiebern ihm entgegen. Einige können es nicht erwarten, die Waffendepots, Munitionsvorräte und anderen Ausrüstungen einzusetzen, die sie vorsorglich angelegt haben. Es reicht ihnen nicht, ihren Hass am Bildschirm zu befriedigen und anschließend in den Keller zu gehen, um das Schießwerkzeug zu polieren. Sie wollen praktisch werden, mit Gewalt Aufmerksamkeit erregen und ein Fanal setzen, um den Abstand zur ersehnten Krise zu verkürzen.
An diese Leute wendet sich Alexander Gauland mit dem Wink, taktische Zurückhaltung zu üben. Man müsse sich "auf die Lippe beißen", empfiehlt er, um bürgerliche Wähler nicht zu verschrecken. "Geduld, Geduld und nochmals Geduld", fordert auch ein Chefideologe der Rechtsextremen, Götz Kubitschek, in seiner Zeitschrift Sezession. Es sei ja schon "fast alles vorhanden", es müsse bloß noch "der nächste gewaltige kalte Realitätsschock in die Deutschen fahren" - eine alternative Formulierung für den Tag X. Mit anderen Worten: Dann können wir euch brauchen. Nicht zu früh losschlagen, eure Stunde kommt schon noch. So spricht die AfD zu ihren Anhängern mit der ganz speziellen Mentalität.
Den Parteistrategen ist es wichtig, dass die SA (Sturmabteilung, paramilitärische Kampftruppe der NSDAP) einstweilen einen bestimmten Rahmen einhält. Diesen Rahmen hat der Attentäter von Halle abrupt gesprengt, indem er seinen Judenhass in nicht mehr zu überbietender Deutlichkeit zur Schau stellte. Während die AfD mühsam die verfolgte Unschuld mimt, wenn sie mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert wird, offenbart der Killer unerbittlich, wie es um die Szene bestellt ist.
Es handelt sich um den nationalsozialistischen Untergrund, wie der Name jener Organisation von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe treffend lautete. Dieser traditionelle Untergrund trumpft auf. Er drängt nach oben, macht sich im Internet breit, zeigt sich auf den Straßen, bildet "national befreite Zonen" - weil es die AfD gibt, die seine Inhalte erfolgreich in die Politik und die Gesellschaft trägt, wenn auch in scheinbar gemäßigter Form.
Wahlerfolge der AfD geben der NS-Szene weiteren Auftrieb. So einfach ist das. Deswegen wird das Abschneiden der AfD in Thüringen gerade jetzt so bedeutsam sein. Machen die Wähler der Partei das mit? Während des Wahlkampfs gab es Morddrohungen gegen den Bundesvorsitzenden der Grünen, Robert Habeck, gegen den Landesvorsitzenden der CDU, Mike Mohring, gegen den Fraktionschef der Grünen im Landtag, Dirk Adams, gegen Rechtsextremismus-Experten und Journalisten. Diese Drohungen wurden sicherlich nicht von Politikern der AfD ausgestoßen. Sie kamen nur aus ihrer Ecke. Wird jede vierte Thüringerin und jeder vierte Thüringer dafür seine Stimme abgeben?
Und da ist noch Björn Höcke
Der zweite Grund, warum das Abschneiden der AfD im allgemeinen Fokus steht, obwohl Thüringen nur etwa 1,75 Millionen Wahlberechtigte stellt, heißt Björn Höcke. Er ist nicht irgendein Landesvorsitzender der AfD, ultrarechts, nationalistisch und populistisch wie die anderen auch. Er ist Gründer und unumstrittene Nummer 1 des sogenannten Flügels innerhalb der AfD, eine Sammlung, von der man nicht genau weiß, ob es sich um eine Fraktion oder letztlich um die gesamte Partei handelt, die bezeichnenderweise nur einen, nämlich einen rechten Flügel hat.
Höcke hat ein Führerprogramm zu seinem speziellen Erkennungsmerkmal gemacht. Als ehemaliger Geschichtslehrer meint er zu wissen: Faschismus ohne Führer geht nicht. Für diese schwere Aufgabe hat er den geeigneten Anwärter in sich selbst gefunden. Dementsprechend erbebt er vor seiner eigenen historischen Rolle, wenn er sich seinen Anhängern präsentiert. Wisst ihr überhaupt, wie schwer das ist? Obwohl ich doch auch nur ein Mensch bin, ruft er seinem Publikum zu, welches umso ergriffener lauscht, je älter es ist.
Der Thüringer AfD-Chef wird wahrscheinlich selbst wissen, dass er nicht gerade wie ein Held aus Leni Riefenstahls Repertoire über die Leinwand flimmert, aber er wird sich - nicht zu Unrecht - sagen, dass es dem GRÖFAZ anfangs ähnlich erging. Pflichtgemäß gibt er auf seinen Wahlkampfveranstaltung etwas über Bildung, Energie oder Migration von sich, aber man merkt ihm an, wie wenig ihn das interessiert. Höcke braucht die Thüringer Stimmen, um seinen Führungsanspruch in der AfD durchzusetzen, den nächsten Vorstand nach seinem Geschmack zu bestimmen und seine innerparteilichen Gegner zu deklassieren. Erst muss die Partei hinter dem Führer stehen, dann holt er sich unser Land zurück.
Was böse oder wohlmeinende Stimmen über die AfD behaupten, was sie ihr wahrheitsgemäß unterstellen oder mit böser Absicht anhängen, folglich auch was in diesem und anderen Artikeln zum Thema vorgetragen wird, ist im Grunde unerheblich. Die Kriterien, nach denen diese Wahl bewertet werden wird, stehen fest. Das hat sich Thüringen nicht so ausgesucht. Aber so ist nun mal die Situation.
Thüringen stellt den Zeiger auf der Faschisierungsskala ein. Der muss ja nicht immer nach oben gehen, wie die Beispiele Österreich und Schweiz zeigen. Er kann auch mal kräftig nach unten ausschlagen.