Die Arbeit der Wahrnehmung

Der Übergang zur postindustriellen oder Informationsgesellschaft macht die Arbeit zum Spiel oder das Spiel zur Arbeit. Nach dem Taylorismus steht die Kognitionswissenschaft, nach dem Körper das Gehirn im Zentrum, wenn es um Mensch-Maschine-Systeme geht, die sowohl für Arbeit und Freizeit als auch für den Krieg eingesetzt werden. Lev Manovich zeigt, wie es dazu kam.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Arbeit oder Spiel

Die Schriften Walter Benjamins nahmen immer wieder Bezug auf die für die Moderne prototypischen Räume der Wahrnehmung: die Fabrik, das Kino, die Einkaufspassage. Bei der Untersuchung dieser neuen Räume stellte Benjamin die Nähe zwischen dem Arbeitsplatz und dem, was außerhalb von ihm geschieht, hinsichtlich perzeptueller Erfahrungen heraus.

Wenn Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. Was am Fließband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde.

Walter Benjamin

Die moderne Ordnung der Wahrnehmungsarbeit, in der das Auge konstant Stimuli prozessieren muß, manifestiert sich für Benjamin gleichermaßen in der Arbeit und in der Freizeit. Das Auge wurde trainiert, um mit dem Rhythmus der industriellen Produktion in der Fabrik Schritt halten und durch die komplexe Semiosphäre jenseits der Fabriktore navigieren zu können. Doch was wären für die perzeptuelle Erfahrung der Postmoderne die Äquivalente des Films und des Fließbandes? Am Vergleichbarsten wären wohl ein Computerspiel der Art, wie man sie für Spielhallen herstellt, und ein Simulator für die militärische Ausbildung. Jetzt aber enthalten die beiden Erfahrungsfelder nicht nur dieselben Stimuli, sie basieren überdies auf derselben Technologie.

Seit dem Beginn der 90ger Jahre konvertieren viele Unternehmen, die bislang sehr teure Simulatoren für das Militär herstellten, diese in Unterhaltungssysteme für Spielhallen. Eines der ersten dieser Systeme, die bereits in einer Reihe von Städten wie Chicago oder Tokio kommerziell eingesetzt werden - Battletech Center von World Virtual Entertainment, Inc. - wurde direkt auf der Grundlage von SIMNET (Simulation Network) modelliert, das von der DARPA (Defense Advanced research Projects Agency) entwickelt wurde. SIMNET kann als das erste Modell des Cyberspace gelten, als die allererste VR-Umgebung für mehrere Benutzer. SIMNET besteht aus einer Anzahl von einzelnen, miteinander vernetzten Simulatoren, die jeweils eine Kopie der auf Daten basierenden Welt und der virtuellen Repräsentation aller anderen Teilnehmer eines Konflikts, z.B. des Kriegsschauplatzes in Kuweit, enthalten. Ganz ähnlich vereint ein Battletech Center eine Reihe von vernetzten futuristischen Cockpitmodellen mit VR-Steuerung. Für jeweils sieben Dollar können sieben Spieler sich gegenseitig in einer simulierten Umgebung bekämpfen. In einem anderen Fall kooperierten 1992 Lucas Arts und Hughes Aircraft und verbanden so das Wissen über die Herstellung von Computerspielen mit dem über die Herstellung von Flugsimulatoren, um durch dieses Joint Venture Fahrten für Themenparks zu entwickeln.

Ein Computerspiel und ein Flugsimulator (oder ein wirkliches Cockpit) sind nur die offensichtlichsten Beispiele dafür, wie die zeitgenössische visuelle Kultur heute immer mehr von interaktiven computergrafischen Informationsoberflächen durchdrungen wird. Ihre Präsenz weist auf ein wesentliches Merkmal der postindustriellen Gesellschaft hin, in der Menschen sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit als Teile eines Mensch-Maschine-Systems integriert werden, bei dem visuelle Handlungen eine wichtige Schnittstelle zwischen dem Menschen und der Maschine sind.

Ein Mensch-Maschine-System wird definiert als "ein Maschinensystem, in dem mindestens eine Komponente ein Mensch ist, der von Zeit zu Zeit mit den den Operationen der Maschinenkomponenten des Systems interagiert oder in diese eingreift."

Im Gegensatz zu einem Handarbeiter des industriellen Zeitalters ist derjenige, der in einem Mensch-Maschine-System arbeitet, vorwiegend mit der Beobachtung von Oberflächen beschäftigt, die Informationen in Echtzeit über die sich verändernden Zustände eines Systems oder einer Umgebung liefern, gleich ob diese real oder virtuell ist - ein Radarschirm sucht den umgebenden Raum ab; ein Computerbildschirm aktualisiert die Preise von Wertpapieren; ein Videoschirm eines Computerspieles zeigt ein imaginäres Schlachtfeld; eine Kontrollanzeige eines Automobils gibt dessen Geschwindigkeit an, etc.

Von Zeit zu Zeit veranlaßt eine Information den Benutzer, eine Entscheidung zu treffen und in den Ablauf des Systems einzugreifen: dem Computer anzuweisen, einen feindlichen Bomber zu verfolgen, der auf dem Radarschirm gesichtet wurde; Wertpapiere zu kaufen oder zu verkaufen; einen Joystick zu drücken; den Gang zu wechseln. Bei einigen Situationen können diese Eingriffe jede Sekunde notwendig sein - ein Pilot, der mit einem Feind kämpft; ein Spieler eines Computerspiels; eine Finanzanalyse, bei der die Kurse der Wertpapiere verfolgt werden -, während sie in anderen Situationen nur sehr selten erforderlich sind - der Techniker, der eine automatisierte Produktion, ein Elektrizitätswerk, einen Atomreaktor überwacht; der Beobachter eines Radarschirmes, der auf potentielle feindliche Flugzeuge wartet.

Die zuerst genannten Situationen können als unmittelbare Fortsetzung der von Benjamin beschriebenen Erfahrung betrachtet werden. In dem oben angeführten Zitat charakterisiert Benjamin die moderne Erfahrung als einen konstanten periodischen Rhythmus von Wahrnehmungsschocks. Ein Fließbandarbeiter, ein Fußgänger oder ein Filmzuschauer sind dieser Erfahrung ausgesetzt, die auch für einen kybernetischen Arbeitsplatz charakteristisch ist: die konstante und überwältigende Menge an Informationen; die konstante Kaskade an kognitiven Schocks, die unmittelbare Reaktionen erzwingen (ein Pilot, der mit einem Feind kämpft; ein Spieler ein Computerspiels).

Die zweite Form der Situation weist jedoch auf eine andere Arbeitserfahrung hin, die in der postindustriellen Gesellschaft neu ist: Arbeit als Warten darauf, daß etwas geschieht. Der Beobachter eines Radarschirmes, der darauf wartet, daß ein kleiner Punkt auf dem Bildschirm auftaucht; der Techniker, der eine automatisierte Produktion, ein Elektrizitätswerk, einen Atomreaktor überwacht und weiß, daß ein Fehler in der Software sich möglicherweise selbst manifestiert, indem ein Zeiger auf einem der zahlreichen Kontrollanzeigen in den roten Bereich schießt ...