Die Armut der Mitte

Drittes Entlastungspaket offenbar Resultat stark divergierender Wunschvorstellungen. Heraus kam ein unsystematisch wirkendes Sammelsurium. Zu den Auswirkungen von Pandemie, Energiekrise und Inflation.

Seit dem Frühjahr 2020 haben sich die Lebensbedingungen vieler Millionen Menschen in Deutschland zum Teil drastisch verschlechtert, weil sich die gesellschaftlichen Krisen häuften und gleichzeitig verschärften. Mit der Covid-19-Pandemie und dem ersten bundesweiten Lockdown setzten inflationäre Tendenzen ein, die sich mit dem Ukraine-Krieg und den westlichen Sanktionen gegenüber Russland als Reaktion darauf verschärften und haben ihren Höhepunkt vielleicht noch gar nicht erreicht haben.

Betroffen sind zwar besonders einkommensarme und armutsgefährdete Personengruppen, weil ihnen im Unterschied zu wohlhabenden Bevölkerungskreisen finanzielle Rücklagen fehlen, inzwischen herrscht Angst vor der Verarmung jedoch auch in weiten Teilen der Mittelschicht.

Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass Armut und soziale Ungleichheit momentan große Aufmerksamkeit in der (Medien-)Öffentlichkeit finden.

Während der Pandemie: Armut wie noch nie seit Jahrtausendwechsel

Wie fast alle Pandemien traf die Corona-Krise finanzschwache Bevölkerungsgruppen, die oft auch eher immunschwach sind, besonders hart: Nicht erst seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 stiegen die Lebenshaltungskosten, insbesondere die Preise für Lebensmittel und Haushaltsenergie stark. So betrug die Inflationsrate im Dezember 2021 bereits 5,3 Prozent.

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt.

Zu den Hauptleidtragenden der Pandemie wie der sich anschließenden Teuerungswellen gehörten mit den Wohnungs- und Obdachlosen, den Migrant:innen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, den Menschen mit Behinderungen, den Pflegebedürftigen, den Suchtkranken, den Sexarbeiter:innen, den Erwerbslosen, den Geringverdiener:innen, den Kleinstrentner:innen und den Transferleistungsbezieher:innen (Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen) sowie den Bewohner:innen von Gemeinschaftsunterkünften, etwa Strafgefangenen, Geflüchteten, (süd-)osteuropäischen Werkvertragsarbeiter:innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken und Saisonarbeiter:innen in der Landwirtschaft sämtliche Bevölkerungs- und Berufsgruppen, die ohnehin als sozial Benachteiligte gelten müssen.

Finanzhilfen des Bundes: Unsummen für Wirtschaft, Brosamen für Arme

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise fast über Nacht enorme Summen für direkte Finanzhilfen, Ausfallbürgschaften und Kredite mobilisiert, die in erster Linie großen Unternehmen zugutekamen.

Aus dem schon im März 2020 geschaffenen Wirtschaftsstabilisierungsfonds des Bundes mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro erhielten größere Unternehmen umfangreiche Finanzspritzen. Zu den Konzernen, deren Anträge bewilligt wurden und die Staatshilfen in erheblichem Umfang bekamen, gehörten die Lufthansa, TUI, Adler Modemärkte und Galeria Karstadt Kaufhof.

Offenbar wurden die staatlichen Mittel nicht nach dem Bedarfsprinzip, sondern nach dem neoliberalen Leistungsprinzip vergeben. Und als "Leistungsträger" gelten einer stark vom Neoliberalismus beeinflussten Öffentlichkeit allemal erfolgreiche Unternehmer.

Wer für den "Wirtschaftsstandort D" produktiv tätig war, wurde großzügig bedacht, wer schon vor der Pandemie in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt hatte, ging hingegen teilweise leer aus. Bezieher:innen der Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wurden – wenn überhaupt – nur am Rande berücksichtigt.

Sie erhielten erst im Mai 2021, also 14 Monate nach Beginn der Pandemie, 150 Euro als Einmalzahlung. Zum 1. Januar 2022 stiegen die Regelbedarfe auch für Kinder und Jugendliche trotz der anrollenden Teuerungswelle bei Nahrungsmitteln und Energie um weniger als ein Prozent.

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