Die Atombombe war eine Zäsur für die Grundlagenwissenschaft der Physik

Seite 2: "Wissenschaft wird zum Schlüssel für die Weltherrschaft"

Sie haben eine ganz interessante These entwickelt, die weniger mit der Oberflächlichkeit zu tun hat, sondern eher mit dem Motiv, Wissenschaft zu betreiben, nämlich im Zusammenhang mit der Militarisierung. Da steht ja auch die Atombombe ganz vorne dran, aber auch die Raketentechnik und ähnliche Dinge. Und USA ist die dominante Militärmacht, viele der Universitäten und Forschungsansätze werden vom Pentagon mitfinanziert. Der rüstungswissenschaftliche Komplex ist da schon viel ausgeprägter als vermutlich in Europa vor dem Weltkrieg.

Alexander Unzicker: Ja, definitiv. Ich will zwei Sachen vorausschicken. Wenn man genau hinschaut auf den Ersten Weltkrieg, haben sich Physiker auch an der Kriegsführung beteiligt. Chemische Waffen sind ein nicht sehr schönes Beispiel dafür. Der andere Punkt ist, dass es nicht nur gegen Amerika geht. Die Amerikaner haben großartige Dinge auf die Beine gestellt. Sie haben auch Manches einfach gemacht, ohne sich theoretisch den Kopf zu zerbrechen. Man erinnere sich nur an das Motorflugzeug der Gebrüder Wright.

Das ist eine Mentalität, die sehr erfolgreich ist in ihrer Art, Großprojekte zu organisieren. Die Uran-Anreicherung zu schaffen, hat man in Europa einfach für unmöglich gehalten. In Amerika waren die Kooperation und die Organisation sehr stark. Sie konnten Projekte auf die Beine stellen, die Europa nicht geschafft hätte. Aus dem Grund waren sie wohl auch vorne dran mit der Kernwaffenforschung.

Es ist auch ein tragischer Aspekt, dass eine Wissenschaft, die sich eigentlich für die elementaren Naturgesetze interessiert, zum Schlüssel für die Weltherrschaft wird. Auf die Weise ist das Militär eingesickert in die Forschung, hat alles finanziert, diese ganzen Anlagen gebaut und auch die ganze Intelligenz mehr oder weniger eingesammelt.

Es gibt ein schönes Zitat von Emilio Segrè, der von Italien in die USA emigriert ist. Er sagte: Nach dem Krieg standen die Physiker da und wussten nicht so recht, was sie tun sollten. Das beschreibt die Situation sehr treffend.

Aber das Militär hatte schon dauerhaft den Fuß in der Tür und war nicht mehr herauszukriegen. Das heißt nicht, dass alle zur Waffenforschung verpflichtet wurden, aber es gab immer diese stille Kraft der Finanzierung, die bis heute fortwirkt. Das Militär ist auch heute noch bei vielem in der Grundlagenforschung dabei. Die Nasa hat beispielsweise zwei Seiten: mit der Satellitentechnik, aber natürlich auch mit Raketen, also wie bringe ich was ins Ziel. Neutronenforschung, wie sich Neutronen verhalten, ist letztlich ein Kernwaffenthema.

Die generelle Methodik, dass man mit großen Organisationen arbeitet, dass es diese Großprojekte gibt, das kommt aus dieser Zeit und ist immer noch ein Überbleibsel. Darunter leidet, glaube ich, die Erkenntnis bis heute.

Was wären denn offene Fragen, die seitdem nicht mehr beantwortet oder gefragt werden?

Alexander Unzicker: Da gibt es viele. Aus meiner Sicht ist der richtige Zugang, dass Naturkonstanten geklärt werden müssten. Das sind, wenn man so will, unerkannte Zahlen, die uns jetzt der liebe Gott schenkt. Aber es ist der Job des Physikers, sich damit auseinanderzusetzen. Ein Beispiel: Paul Dirac wurde einmal von zwei jungen Wissenschaftlern eine Theorie vorgetragen, worauf er sagte: Moment mal, können Sie die Feinstrukturkonstante berechnen? Also eine Zahl, die in der Physik unerklärt ist? Nein? Kommen Sie wieder, wenn Sie so weit sind. Das war die damalige Denkweise.

Heute produzieren wir nicht nur eine unerklärte Zahl, sondern gleich Dutzende davon und keiner interessiert sich eigentlich mehr dafür. Einstein hat gesagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine gute Theorie der Physik gibt, in der eine willkürliche Zahl vorkommt, die der liebe Gott einfach aus einer Laune erfunden hat, Gott würfelt nicht. Es gibt eine Menge offener Fragen. Man braucht nur nachlesen, was die Physiker vor hundert Jahren geschrieben haben. Es ist alles unbeantwortet.

"Europäische Forschungskultur des Grübelns und Nachdenkens ist abgestorben"

Und warum interessiert es nicht mehr? Das wäre ja dann nicht nur in den USA so, sondern auch in Europa würde keine Grundlagenwissenschaft mehr betrieben werden.

Alexander Unzicker: Nicht in dieser Weise, ja. Es ist tatsächlich so. Die europäische Forschungskultur des Grübelns und Nachdenkens ist abgestorben zu jener Zeit und es wurde eine ganz andere Art von Wissenschaft in den USA gegründet, die sich inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet und ganz Europa rekolonialisiert hat, übrigens auch den sowjetischen Teil damals.

Diese Denkweise dominiert heute überall. Man kann auch sagen, die westliche Zivilisation hat sich überall ausgebreitet und auch ihre Erfolge erzielt. Heutzutage sehen wir allmählich die Schattenseiten. Wissenschaftliche Vormachtstellung und militärisch politische Vormachtstellung waren in der Geschichte immer zusammen und die Frage ist jetzt, wohin uns das ein bisschen oberflächliche Denken, wie ich es nenne, heute bringt.

Man könnte sagen, es ist der Wissenschaftsbetrieb, der sich verändert hat. Ganz allgemein könnte man sagen, die Tradition der Humboldt-Universität ist übergegangen in einen Wissenschaftsbetrieb mit Tausenden von Unis weltweit und Hunderttausenden von Publikationen, die gefüllt werden müssen, um nachzuweisen, dass die Wissenschaft Sinn ergibt, indem man irgendetwas "Neues" produziert. Das führt zu einem gewissen Leerlauf. Vielleicht hat sich weniger das Denken verändert, sondern die Strukturen der wissenschaftlichen Forschung.

Alexander Unzicker: Das hängt natürlich zusammen. Karl Popper sagte einmal: Big Science may destroy Great Science. Heutzutage ist die Wissenschaft von großen Institutionen beherrscht. Man meint, man sei dann führend in der Wissenschaft, wenn man möglichst viel Geld ausgibt, möglichst viele Projekte und Institute gründet, möglichst viele Publikationen macht und Patente anmeldet.

Und es gibt, wie Sie sagen, diese äußeren Messlatten, mit denen versucht wird, den Erfolg von Forschung zu messen, die aber einfach ungeeignet sind, weil man wie in der Wirtschaft vorgeht. Also je mehr produziert wird, desto besser, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber das ist nicht das, was den wirklichen wissenschaftlichen oder technologischen Fortschritt ausmacht.

Man könnte doch auch sagen, Sie deuten es im Buch auch an, dass die Relativitätstheorie und die Quantentheorie, die dann gefolgt ist, ein Wendepunkt gewesen sein könnten, wo etwas in der physikalischen Forschung umgekippt ist. Sehe ich das falsch?

Alexander Unzicker: Für diese Krise der Physik gab es Ursachen, die in der Physik lagen, weil sie einfach zu schwierig wurde, wenn man so will. Die Probleme, dessen waren sich die Physiker schon bewusst, waren riesig und ungelöst. Und dann kamen von der anderen Seite die weltpolitischen Entwicklungen dazu.

Aber es gab damals schon eine Krise, wie bestimmte Dinge zu vereinigen sind. Es wird heute, glaube ich, auf falsche Weise daran geforscht. Die Physiker sagen zwar heute, Quantentheorie und Relativitätstheorie sind unvereinbar, aber man versucht dennoch, mit Gewalt ganz raffinierte mathematische Mechanismen zu erfinden, um sie vereinigen zu können. Ich glaube, Einstein hätte das für ziemlich aussichtslos oder lächerlich gehalten. Ja, man müsste wirklich zu den Fragen zurückkehren, die die Physiker damals gestellt haben.

Einstein kam ja mit der Quantentheorie auch nicht ganz zurecht. Er hat sie abgelehnt, oder?

Alexander Unzicker: Es gibt diesen berühmten Satz von ihm: Gott würfelt nicht. Er war zwar Atheist, aber hat das als Argument benützt. Es ist ein wissenschaftsmethodisches und wissenschaftshistorisches Argument, er konnte sich damit nicht abfinden, dass es Zufall in der Natur gibt. Die heutigen Physiker sagen, der alte Sturkopf habe das halt nicht verstanden und wollte es nicht akzeptieren.

Tatsächlich ist es eine Frage wert, warum es den Zufall in der Natur gibt? Gibt es prinzipielle Hindernisse, die uns nicht erlauben, bestimmte Dinge vorherzusagen? Er hat das präzisiert und gesagt: Ich wünsche mir nicht so sehr, dass man diese Wahrscheinlichkeit zerstört, ich möchte nur bitteschön, es vernünftig hergeleitet haben, also dass man einen Grund dafür findet und nicht einfach so beschreibt, dass es halt so ist. Basta.

Sie sagen, die Wissenschaft heute geht an den wichtigen Fragestellungen vorbei. Wie müsste denn die Wissenschaft aufgestellt werden oder wo müsste sie andocken, um wieder ein Fenster dafür zu öffnen?

Alexander Unzicker: Ich habe da auch kein Patentrezept. Ich denke, die Wissenschaft ist zu sehr auf die Gegenwart fokussiert, das heißt, es gibt immer aktuelle Projekte, die Leute lesen nur, was in den letzten fünf Jahren publiziert worden ist. Das wird nicht funktionieren. Eine Idee, die man verfolgen könnte, wäre, dass man begabten Leuten, die sich wirklich für die Natur interessieren, ein sicheres Auskommen als eine Art Forschungsmönch gibt. Man kann bescheiden leben und forschen, es wird an nichts fehlen, es wird keinen Luxus geben, mach mal. Auf dieser Basis sind einige tolle Ideen in der Wissenschaftsgeschichte entstanden.

Das wäre so eine Art Akademie?

Alexander Unzicker: Ja, ohne zu viel zu evaluieren und zu hohen Output oder zu viele Berichte zu verlangen. Das ist nur Sand im Getriebe der Wissenschaft. Wissenschaftler sind so viel mit Bürokratie beschäftigt, mit dem Schreiben von Anträgen und Gutachten, mit Diskussionen über die Veröffentlichung. Das hat alles nichts mit echter Erkenntnis zu mehr zu tun. Und wir brauchen eine offene Geisteshaltung, wir müssen toleranter sein.

Das gilt für einige Gebiete der Gesellschaft andere Meinungen, andere Wege als zumindest mal verfolgenswert zu akzeptieren. Es gibt so viele ideologische Gemeinden in vielen Wissenschaftsgebieten. Da dürfen die falschen Fragen nicht gestellt werden. Das höre ich immer wieder. Spaßeshalber sagte jemand mal: "Der hat seine Karriere ruiniert. Er wollte die Quantenmechanik verstehen."

Und jetzt sagen Sie uns noch zum Abschluss: Was wäre eine der wirklich großen Fragen in der Physik, wo es wichtig wäre, ihr nachzugehen und sie zu beantworten?

Alexander Unzicker: Wenn ich jetzt mein Steckenpferd der Naturkonstanten nenne, werden Ihre Leser vielleicht lächeln und sagen: Ja, aber ist es wirklich wichtig, herauszubekommen, warum die Gravitationskonstante so groß ist, wie sie ist?

Aber ich denke, unsere Zivilisation entwickelt sich nur dann weiter, wenn wir wirklich echte Fortschritte machen in diesen Fragen. Das hat die Geschichte auch immer gezeigt. Warum ist die Gravitationskonstante so groß? Warum ist die Feinstrukturkonstante so groß? Wie hängen Gravitation und Quantentheorie zusammen? Das wird uns als Menschheit letztlich zu neuen Horizonten führen, aber nicht, wenn wir irgendetwas perfektionieren oder so weiterwursteln wie bisher.

Dieser Text erschien auch auf unserer Partnerseite krass & konkret.