"Die Aufrechterhaltung eines starken Keils zwischen Deutschland und Russland"

Nord Stream 1 und 2, die Lecks, die Konkurrenz auf dem Energiemarkt und die geostrategischen Interessen der USA, Teil 2.

Wenn der ehemalige Chef der Deutschen Energieagentur, Stephan Kohler, in einem Interview mit einem russischen Medium von einem "politischen Keil" sprach (siehe Teil 1: Nord Stream: Der Angriff auf die Pipelines), ist man jetzt vielleicht versucht, ihn als russischen Propagandisten einzustufen.

Doch es gibt irritierenderweise auch einflussreiche Personen aus dem Westen, die sich genau dieses Sprachbildes bedienen. So zum Beispiel einer der renommiertesten US-Geostrategen, George Friedman, dessen Einschätzungen und Analysen in der Außenpolitik wie in nachrichtendienstlichen Kreisen geschätzt werden. Friedman schreibt 2010 in seinem Buch "The Next Decade: What The World Will Look Like":

Russland bedroht nicht Amerikas globale Position, aber die bloße Möglichkeit, dass es mit Europa und insbesondere Deutschland zusammenarbeitet, eröffnet die größte Bedrohung in diesem Jahrzehnt, eine langfristige Bedrohung, die im Keim erstickt werden muss.

George Friedman

und weiter:

Die Aufrechterhaltung eines starken Keils zwischen Deutschland und Russland ist für die Vereinigten Staaten von überwältigendem Interesse.

George Friedman

Diese Forderung hat Friedman bei seinem Auftritt vor dem Chicago Council on Global Affairs (vormals Chicago Council on Foreign Relations), einem transatlantischen Thinktank, im Jahre 2015 erneuert:

Das Hauptinteresse der Vereinigten Staaten, wegen dem wir jahrhundertelang Kriege geführt haben – den Ersten, den Zweiten und den Kalten Krieg –, ist die Beziehung zwischen Deutschland und Russland, weil sie dort vereint die einzige Kraft sind, die uns bedrohen könnte. Und wir müssen sicherstellen, dass das nicht passiert.

George Friedman

Im April 2011 veröffentlicht der Deutschlandfunk eine wenig schmeichelhafte Rezension zu Friedmans "The Next Decade". Darin wird seine geostrategische Grundüberzeugung folgendermaßen zusammengefasst:

Aufgabe kommender US-Präsidenten sei es, zur Eindämmung Deutschlands die EU-Partner systematisch gegeneinander auszuspielen und vor allem enge Beziehungen etwa zu Polen oder Dänemark zu pflegen. Von der früher gepflegten transatlantischen Rhetorik ist bei Friedman nichts mehr zu finden. Er argumentiert sogar, dass die USA zur Durchsetzung ihrer Politik der regionalen Balancen lieber gleich Organisationen wie die Nato abwickeln sollten.

Deutschlandfunk über "The Next Decade" von George Friedman

Unverhohlenes Weltmachtstreben

Seit Beginn des gegen das Völkerrecht verstoßenden Einmarschs Russlands in die Ukraine publiziert Friedman auf seinem Portal Geopolitical Futures regelmäßig Artikel zum Ukraine-Krieg und den beteiligten Akteuren.

Deren Fokus liegt auf der Kritik Russlands und seiner Narrative ("Die irre Nazi-Erzählung und anderer Blödsinn") sowie der Bedeutung des Konflikts für eine Neuordnung der Welt unter US-amerikanischer Vorherrschaft ("Wir erleben das Ende einer Ära", "Warum Amerika wieder zum Hegemon wird"). In der letztgenannten Publikation heißt es:

Das Wachstum Russlands und Chinas hat die Vereinigten Staaten dazu veranlasst, in jene Position zurück zu streben, die sie zwischen 1945 und 1991 innehatten. Die USA engagieren sich jetzt in Russland und China und, was das betrifft, auch in Europa.

George Friedman

In den Texten von Friedmans Mitstreitern bei Geopolitical Futures spiegelt sich dieser Tenor des Kalten Krieges in Form von unfundierten Verdachtsbekundungen und relativ unverhohlener Block-Mentalität wider, so etwa zuletzt in "Warum Russland Interesse an der Sabotage (von Nord Stream 2, d. Red.) hat".

2012 hat die Enthüllungsplattform Wikileaks Dokumente veröffentlicht, die Einblicke in die Verstrickungen und Interessenssphären von Friedmans Beratungsunternehmen Strategic Forecasting (Stratfor) geben.

Die Enthüllungen zeichnen das Bild eines eng mit Nachrichtendiensten verbundenen Unternehmens, das selbst nicht vor der Anwendung unlauterer Mittel zur Beschaffung von Informationen zurückschreckt.

Fragwürdige Methoden

Das Kundenportfolio von Friedmans Beratungsfirma erstreckt sich den Wiki-Leaks-Dokumenten zufolge auf so unterschiedliche Unternehmen und Institutionen wie die Bank of America, das US-Verteidigungsministerium, Ärzte ohne Grenzen, das nationale US-Forschungslabor in Los Alamos sowie die Vereinten Nationen.

Wie der Guardian 2012 berichtet, waren unter den Stratfor-Kunden auch multinationale Konzerne wie der Chemie-Riese Dow Chemical, die Rüstungsunternehmen Lockheed Martin, Raytheon und Northrop Grumman sowie Coca-Cola. Sie sollen Stratfor unter anderem dafür bezahlt haben, (kompromittierende) Informationen über ihre Kritiker einzuholen.

Friedmans Firma soll außerdem Verträge mit Sicherheitdiensten geschlossen haben und direkt in der Überwachung von proto-revolutionären Gruppen wie der Occupy-Bewegung involviert gewesen (Rolling Stone) sein und sogar koordinierte Angriffe auf Demonstranten geplant haben.

Wie Al Jazeera berichtete, soll Stratfor der Bank of America angeboten haben, den Journalisten Glen Greenwald zu überwachen, der 2013 durch die Publikation der NSA-Leaks Bekanntheit erlangte.

Aber zurück zum Keil zwischen Deutschland und Russland.

Kalkulierte Eskalation

Am 8. Februar, einen Tag nachdem US-Präsident Biden seine Drohung aussprach, das Nord-Stream-2-Projekt falls nötig zu beenden, schreibt der renommierte US-amerikanische Ökonom und Schuldenforscher Michael Hudson (Inspiration für David Graebers berühmtes Buch) auf seinem Blog einen Text mit dem Titel "Amerikas wahre Feinde sind seine europäischen und anderen Verbündeten".

Darin stellt Hudson die These auf, dass den USA ihre Weltmachtposition zu entgleiten droht:

Amerika hat nicht mehr die Währungsmacht und den scheinbar chronischen Handels- und Zahlungsbilanzüberschuss, der es ihm 1944-45 ermöglichte, die Regeln für den Welthandel und die Investitionen aufzustellen.

Die Bedrohung für die Vorherrschaft der USA besteht darin, dass China, Russland und [Halford] Mackinders eurasische Weltinsel bessere Handels- und Investitionsmöglichkeiten bieten als die Vereinigten Staaten, die von ihren NATO- und anderen Verbündeten zunehmend verzweifelt Opfer verlangen.

Michael Hudson

In diesem drohenden Niedergang des US-amerikanischen Einflusses auf das ökonomische und damit geopolitische Weltgeschehen sieht Hudson den Grund, warum das Projekt Nord Stream 2 von den USA so konsequent torpediert wurde:

Das eklatanteste Beispiel ist das Bestreben der USA, Deutschland von der Genehmigung der Nord Stream 2-Pipeline abzuhalten, um russisches Gas für den kommenden kalten Winter zu beziehen […]

Die einzige Möglichkeit, die den US-Diplomaten bleibt, um europäische Käufe zu blockieren, besteht darin, Russland zu einer militärischen Reaktion zu veranlassen und dann zu behaupten, dass die Rache für diese Reaktion schwerer wiegt als jedes rein nationale wirtschaftliche Interesse.

Michael Hudson

Nun mag man auch Hudson – dessen Vater immerhin Trotzkist war, und der sich zeit seines Lebens für die marxistische Theorie der politischen Ökonomie interessierte – eine ideologische Nähe zum Kreml unterstellen und daher die (indirekte) Anschuldigung einer bewussten Provokation durch die USA im Ukraine-Konflikt folgerichtig als Hirngespinst bezeichnen. Doch es gibt ein Dokument, das Hudsons These zumindest diskussionswürdig macht.

Der US-amerikanische Thinktank RAND Corporation, die semi-offizielle Interessenvertretung der US-amerikanischen Sicherheits- und Rüstungsindustrie (dem sogenannten military-industrial complex, der am Ukraine-Krieg "kräftig mitverdient"), veröffentlicht am 2019 ein Dokument mit dem Titel "Overextending (etwa: Überspannen, überreizen) and Unbalancing Russia".

In diesem Dokument entwirft die Lobby-Institution eine Kosten-Nutzen-Rechnung über Strategien zur gezielten Provokation Russlands – mit dem Ziel, die Kreml-Regierung zu destabilisieren, schließlich: einen weiteren Regime Change herbeizuführen (von dem auch Biden in diesem Zusammenhang einmal gesprochen hat).

Zu den Strategien zählt die RAND Corporation unter anderem die Expansion der US-Energieproduktion, die Stärkung der Militärpräsenz, Streitkräfte-Verlegungen an der Nato-Außengrenze (sog.: Reposture), den Ausstieg aus dem Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF, geschehen unter Trump 2018), das "Werben um Liberalisierung" in Weißrussland sowie die Lieferung von (Defensiv-)Waffen in die Ukraine.

Das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis weist dem RAND-Dokument zufolge jedoch schlicht die "Rufschädigung" der russischen Regierung auf – also Propaganda, Desinformation.

Talkshows mit der Transatlantik-Lobby

Es gibt auch innerhalb Deutschlands Stimmen, die sich gegen eine zu enge Verbindung Deutschlands mit Russland und, als Kristallisation dieser postulierten geopolitischen Gefährdung, gegen Nord Stream 2 aussprechen.

Bemerkenswerterweise haben prominente Akteure selbst enge Verbindungen zu transatlantischen Netzwerken und lassen somit Zweifel an ihrer neutralen Perspektive aufkommen.

Zu diesen gern in Talkshows geladenen Gästen gehören etwa die Vorsitzende des Bundesverteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die 64-Jährige vertritt nicht nur eine Partei, die sich, wie auch die Grünen, bei der Bundestagswahl 2021 eigentlich gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete ausgesprochen hatte.

Die NGO Lobbycontrol sieht in Strack-Zimmermanns Positionen als Vizepräsidentin des Nato-Interessenverbands Deutsche Atlantische Gesellschaft sowie als Präsidiumsmitglied in den Rüstungslobby-Vereinen Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik sowie Förderkreis Deutsches Heer eine mögliche Gefährdung ihrer politischen Neutralität.

Strack-Zimmermann hält auch Vorträge bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einer Organisation, die sich dem Ziel verschrieben hat, die öffentliche Meinung und politische Entscheidungsträger im Sinne der transatlantischen Interessen zu beeinflussen.

Christian Mölling, der Sicherheits-Experte, der in einer Folge der ZDF-Sendung Markus Lanz wenig Zweifel an der Verantwortlichkeit Russlands für die Nord-Stream-Sabotage aufkommen ließ, ist Forschungsdirektor der DGAP und leitet dort das Programm "Sicherheit und Verteidigung".

Zuvor war Mölling unter anderem beim German Marshall Fund of the United States (GMF) tätig, der ebenfalls als transatlantische Einflussorganisationen gilt. Norbert Röttgen und Roderich Kiesewetter, deren O-Töne ebenfalls gerne zur Ukraine-Krise eingefangen werden, sind Mitglieder im transatlantischen Lobby-Verein Atlantik-Brücke.

Parteiische Freundschaften

Zu guter Letzt gibt es auch eine Partei, deren Mitglieder schon vor Beginn des Ukraine-Kriegs am 24. Februar entschieden gegen den Bau der Ostsee-Pipeline protestiert haben: Die Grünen. Sowohl Omid Nouripour als auch Annalena Baerbock wie auch Robert Habeck orientierten sich dabei eng an der Darstellung aus Übersee ("Defensivwaffen liefern", "geopolitischer Fehler", "mehr Druck auf Russland ausüben").

Auffällig ist, dass auch innerhalb der Partei, die das Außen- und Wirtschaftsministerium sowie das Landwirtschaftsministerium besetzt, enge Verknüpfungen mit transatlantischen Organisationen gibt – und das gilt nicht nur für Ralf Fücks’ und Marie-Luise Becks üppig mit Staatsgeldern versorgtes Zentrum Liberale Moderne.

So ist etwa Annalena Baerbock nicht nur ehemaliger Young Global Leader des World Economic Forum, sondern auch Mitglied im European Council on Foreign Relations, ebenso aber auch Teilnehmerin von Studienreisen der Atlantik-Brücke oder Rednerin bei Online-Konferenzen des transatlantischen Lobby-Vereins Atlantic Council (so im Mai 2021 zum Thema "Ein 'transatlantischer Green Deal' und Deutsche Strategien gegenüber Russland und China").

Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir ist seines Zeichens "Transatlantic Fellow" des German Marshall Fund, einer Organisation, die der Journalist Friedrich Küppersbusch zuletzt für ihre tendenziöse Darstellung Deutschlands im Bericht "Transatlantic Trends" kritisiert hat.

Eine vermeintliche "wachsende Unbeliebtheit" Deutschlands innerhalb der EU wurde dabei unter anderem auf die zögerliche Haltung der Bundesrepublik bei der Entscheidung zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zurückgeführt.

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