Die Bertelsmann Stiftung und die Ökonomisierung der Politik
Die durch die Stiftung mit forcierte Abdankung des Politischen vollzog sich durch unauffällige Reformkonzepte
Vor fünf Jahren, erst vor fünf Jahren, entdeckten Publizisten und Sozialwissenschaftler die Bertelsmann Stiftung als eine Reformagentur mit großem Einfluss auf die Entwicklung in nahezu allen Bereichen der deutschen und europäischen Politik. Aber die Stiftung hatte sich und ihre Arbeit nie versteckt, und an ihrer Arbeit war nichts Auffälliges. Entdeckt wurde also die Unauffälligkeit von Reformkonzepten, die darauf abzielen, die Tätigkeit der staatlichen und kommunalen Institutionen sowie das Gesundheitssystem nach ökonomischen Maßstäben effizient und wettbewerbstüchtig zu machen. Unauffällig auch deshalb, weil sie von Politikern fast aller Couleur nachgefragt und vielfach von anderen großen Konzern- und Parteistiftungen mitgetragen werden.
In den Blick geriet die Abdankung des Politischen, die Ausrichtung des politischen Handelns und Verstehens nach betriebs- und globalwirtschaftlichen Zielvorgaben, ergänzt durch universalethisches Beiwerk. „Wir sind unpolitisch“, stellte im Juli 2008 der alte und neue Stiftungsvorstand Gunter Thielen fest1, und er traf mit dieser Bemerkung, mit der er sich gegen Unterstellungen wehrte, den Nagel fast auf den Kopf. Präziser wäre es gewesen, wenn er gesagt hätte: Wir sind anti-politisch.
Die Entdecker, mich selbst eingeschlossen, zeigten und zeigen sich verblüfft über das Ausmaß und den Erfolg der von Gütersloh aus betriebenen Beratungstätigkeit. Ihre Verblüffung scheint aber nicht sehr ansteckend zu sein. Zwar gelang es dem Anti-Bertelsmann-Netzwerk, mit Hilfe des harten Widerstandskerns, der organisierten Lehrer und Hochschullehrer, einige Landesverbände der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zu distanzierenden Beschlüssen zu bewegen. In den überregionalen Zeitungen und Wochenzeitungen, von Spiegel und taz abgesehen, gingen daraufhin namhafte Wirtschafts- und Medienjournalisten vorbeugend auf Abstand zum Bertelsmann-Komplex, allerdings meist nur zum engstirnigen Kurs der Familie Mohn, von der sowohl Europas größer Medienkonzern, die Bertelsmann AG, als auch Europas größte Stiftung gelenkt wird.
Aber die Sympathie der Bundesregierung, zumal der Bundeskanzlerin, auch des Bundespräsidenten, der Landesregierungen und der im Bundestag vertretenen Parteien – mit bisheriger Ausnahme der „Linken“ – für die Effizienzformeln von Bertelsmann scheint nicht beeinträchtigt worden zu sein. Die Formatierung der Bundesrepublik Deutschland zum reinen Wirtschaftsstandort geht kontinuierlich weiter. Die Reputation der Bertelsmann Stiftung als neutraler Begegnungsstätte hat durch die Analysen linker Wissenschaftler nicht gelitten. Zu ihren Foren und „Internationalen Konferenzen“ drängen sich Premier- und Außenminister und Mitglieder der Europäischen Kommission, und auch der UN-Generalsekretär findet sich ein.
Ähnlich wie andere Konzernstiftungen, aber mit überlegenen finanziellen Mitteln und geduldiger Lobby- und Gremienarbeit, verleiht die Bertelsmann Stiftung dem marktradikalen Konsens der politischen, administrativen und ökonomischen Eliten in Deutschland und der Europäischen Union ihre eigene sprachliche Note. Sie hat sich selbst zu einer Art Praeceptor Germaniae ernannt und gebärdet sich als fürsorgliche und gemeinnützige Vermittlerin des Unvermeidlichen, der wirtschaftlichen Globalisierung. „Die Stiftung“, sagt Gunter Thielen, „ist ein Instrument, das helfen kann, unser Land weiterzubringen. Ich kenne die Welt ganz gut, wir haben aufzuholen.“2
Allerdings hat Bertelsmann als Konzern selbst seine liebe Not mit der Entgrenzung der Medien- und Finanzmärkte. Sein Kurs der Privatisierung ist im Wesentlichen der Versuch, auf seinem Heimatmarkt zu retten, was noch zu retten ist.
In den letzten vier Jahren sind an die zehn bertelsmannkritische Bücher erschienen, unter ihnen der Reader „Netzwerk der Macht – Bertelsmann“ mit 28 Abhandlungen von Sozialwissenschaftlern und Publizisten über die Gütersloher Projekte3. Von der Stiftung verlautete, man sehe in diesem Sammelband einen Beleg für die wirksame und erfolgreiche Reformarbeit der Stiftung. Den Vorwurf privater Einflussnahme auf die Regierungstätigkeit parierten die Stiftungssprecher mit Aussagen wie: „Aber wie sollen wir Politik machen, wenn die Politiker das nicht wollen?“4 Beklagt man, die Stiftung lege selbstherrlich fest, was unter „Gemeinwohl“ zu verstehen sei, kommt aus Gütersloh die Antwort, man fühle sich dem Gemeinwohl verpflichtet.
Das ökonomistische Reformdeutsch übertönt alle Einwände, indem es einfach weitergesprochen wird. Es rechtfertigt sich mit jedem Satz selbst. Sofern andere Deutungen der eigenen Arbeit überhaupt wahrgenommen werden, erscheinen sie als böswillige Missverständnisse. Aber auch das Anti-Bertelsmann-Netzwerk bestätigt sich seine moralische Überlegenheit tautologisch, nämlich durch routinemäßige Anrufung von Leitideen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Chancengleichheit“, „demokratische Partizipation“ und „demokratische Kontrolle“, ehrbaren Begriffen, die ihren allseits hohen Gebrauchswert heute vor allem ihrer Unbestimmtheit und politischen Beliebigkeit verdanken. Wäre es anders, hätte das Netzwerk schon längst über die weitgehende Wirkungslosigkeit seiner vernichtenden Kritik am Bertelsmann-Komplex nachgedacht und das Ergebnis zu einem Kernstück seiner Analyse gemacht. Wenn eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen enthüllt wird, aber die öffentliche Meinung gleichgültig darüber hinweggeht – sind es dann noch Ungeheuerlichkeiten?
Was wird der Bertelsmannschen Leerformel vom „Gemeinwohl“ denn entgegengehalten? Leider kaum so etwas wie politischer Widerstand. Für welche Polis sprechen die Kritiker, und für welchen Demos? Offensichtlich für keine, ebenso wenig wie die Kampagne „Du bist Deutschland!“, allenfalls für eine potenzielle „neue soziale Bewegung“ oder für eine imaginäre globale Zivilgesellschaft. Irgendein Land und irgendein Volk sind ganz offensichtlich nicht gemeint. Die Forderung nach demokratischer Teilhabe hat keinen Ortsbezug, bewegt sich also in keinem politischen Raum. Sie bewegt sich in der Sphäre öffentlichen Betroffenmachens, in der sich beispielsweise auch Liz Mohn bewegt, wenn sie in ihrer Rolle als Menschheitsanwältin für eine „Sprache der Menschlichkeit“ wirbt, für „eine Sprache, die Gräben überwindet und Verantwortung ausdrückt und den Menschen unabhängig von Volk, Kultur und Religion eine Stimme gibt“5.
Grundsätze wie Mitbestimmung, Gleichbehandlung und Anerkennung bestimmter Bedürfnisse oder Selbststeuerung bestimmter Bereiche – Pädagogik, Sozialarbeit, Wissenschaft – solche Grundsätze lassen sich von Gewerkschaften wie von Wirtschaftsverbänden, von Protestbewegungen wie von Stiftungen, von Graswurzelprojekten wie von Private-Equity-Firmen trefflich in Anspruch nehmen und passend machen – etwa dadurch, dass man gleich aufs Ganze geht und weltweite Chancengleichheit und Solidarität einfordert und die in Europa noch einigermaßen mit Bildung, Arbeit und Arbeitnehmerrechten, Medizin und Wasser Versorgten als erbarmungslose Verteidiger ihrer Privilegien entlarvt. Politik aber lässt sich durch Alles-Richtig-Machen-Wollen nicht ersetzen. Mit allgemeinen Postulaten lässt sich nur dann Politik machen, wenn bereits Politik gemacht wird: durch Entscheidungen eines Souveräns oder mit Bezug auf diesen. Aber existiert denn in Deutschland und Europa überhaupt ein politischer Souverän? Und ist nicht genau das der Kern unseres Problems?
Was sich heute in den Staaten mit repräsentativem Regierungssystem auf beiden Seiten des Nordatlantiks vollzieht, ist die Privatisierung, genauer, die Ökonomisierung der Politik. Sie hat zwei Dimensionen: zum einen die Ablösung kollektiver und territorial gebundener Identitäten durch austauschbare Standorte, zum anderen die Neutralisierung demokratischer Verfahrensweisen und staatlicher Institutionen durch Absprachen in elitären Netzwerken. Politisches Handeln und Staatstätigkeit rechtfertigen sich in letzter Instanz als Garanten überlegener wirtschaftlicher Ratio.
Die gegenwärtig vorgetragene Kritik am Wirken der Bertelsmann Stiftung greift meist zu kurz, denn sie beruht auf einem latenten Einverständnis mit der Vereinnahmung des Politischen durch rationalistische und individualistische Denkmodelle, sei es im Sinne der Markt- und Wettbewerbslogik, sei es unter dem Sinnaspekt individueller Bedürfnisse und Verwertungschancen. Von Bertelsmann und Anti-Bertelsmann wird das politische Kräftespiel als der Abgleich gebündelter individueller Interessen verstanden, und diese Interessen erfahren eine fast ausschließlich ökonomische Deutung. Nach diesem gemeinsamen Verständnis erhöht sich das „Gemeinwohl“ mit dem Durchschnittseinkommen, der durchschnittlichen Beteiligung am wirtschaftlichen Wachstum und dem durchschnittlichen Niveau von Bildung und Lebenshaltung. Interessenkonflikte sollen möglichst durch Anwendung universalethischer Prinzipien wie Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Toleranz restlos geregelt werden. Nur wenn ein solches Verständnis bei allen großen Parteien und Verbänden vorherrscht, ist es überhaupt möglich, dass bestimmte Unternehmen und ihre Denkfabriken als Oberaufseher des politischen Handelns auftreten, indem sie prüfen, ob im Gemeinwesen hinreichend effizient gewirtschaftet wird.
Dies ist ein historisch völlig neuartiger Zustand. Noch niemals in der europäischen Geschichte haben die Menschen ihr Zusammenleben in erster Linie als Träger äquivalenter, somit quantifizierbarer Ansprüche gestaltet, anders gesagt, als Privatleute, mit dem Staat als Schiedsrichter und Sozialstation. Sie waren – und sind – vielmehr politische, je schon assoziierte Wesen, deren Überlieferungen, Maßstäbe für Recht und Gesetz und Ordnungsideen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind und die das kollektive Bild von sich selbst im Mit- und Gegeneinander entwickeln. Was wir sind und wo wir in der Welt gemeinsam stehen, erfahren wir in der Auseinandersetzung mit Anderen. Politik, die praktische Staatslehre, fußt auf einem Sockel des Unverhandelbaren. Am Beispiel der parlamentarischen Abstimmung hat Elias Canetti für das Wesen des politischen Kampfes in seiner essayistischen Hauptschrift „Masse und Macht“ die folgenden Worte gefunden:
Niemand hat je wirklich geglaubt, dass die Meinung der größeren Zahl bei einer Abstimmung durch ihr Übergewicht auch die klügere sei. Es steht Wille gegen Wille, wie in einem Krieg; zu jedem dieser Willen gehört die Überzeugung des größeren eigenen Rechts und der eigenen Vernünftigkeit... Der Sinn einer Partei besteht gerade darin, diesen Willen und diese Überzeugung wach zu erhalten. Der Gegner, der überstimmt wird, fügt sich keineswegs, weil er nun plötzlich an sein Recht nicht mehr glaubt; sondern er gibt sich einfach geschlagen.
Elias Canetti
Allerdings konnte sich Canetti offenbar noch keine Parteien vorstellen, die, frei von Klassen- und Gesinnungsbanden, ihre Programmatik jeweils nach den Erfolgsaussichten bei den nächsten Wahlen modellieren.
Wettbewerb statt Politik
Ganz im Geiste ihres Gründers Reinhard Mohn sieht die Bertelsmann Stiftung im Staat lediglich ein Dienstleistungsunternehmen, in der Willensbildung des Volkes ein leutselig zugestandenes Ritual und in den Bürgern eine Ansammlung von Kunden und Mitarbeitern, die einen gewissen Zusammenhalt bewahren, sofern und solange sie Aussicht auf Gewinnbeteiligung am Unternehmen Deutschland oder am Unternehmen Frankreich haben.
Wenn die Stiftung im Geiste Reinhard Mohns der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit mit Kennziffern, Erfolgsrechnungen, Nutzwertanalysen, Leistungsvergleichen und Rankings auf die Sprünge hilft, egal, ob es um Arbeitsvermittlung, Gesundheit, Familie, Bildung, Einwanderung oder Entwicklungshilfe geht, auf kommunaler, Landes-, Bundes-, europäischer und globaler Ebene, so verwandelt sie alle politischen Themen in Produktarten, in denen die Angebote jeweils miteinander verglichen und nach gleichem Maß bewertet werden können. Grundsätzlich stehen alle Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und ihre Leistungen miteinander im Wettbewerb, und die Gemeinden, Länder, Staaten und auch die Europäische Union sind Gewerbegebiete und Absatzmärkte, die sich im Standortwettbewerb zu behaupten haben. Bereits mit dem Messen und Vergleichen hält die Kommerzialisierung in Politik und Verwaltung Einzug, auch wenn dies im Zeichen von „Eigenverantwortung“ oder von „Bürgernähe und Dezentralisierung“ oder von „Partnerschaft“ oder von „Gerechtigkeit“ geschieht.
Achten wir darauf, dass beim verschwenderischen Gebrauch des Etiketts „neoliberal“ nicht das Wesentliche des in Gütersloh propagierten „Systemwandels“ hinter althergebrachter Kapitalismuskritik verschwindet: Im Ausnahmezustand eines beschleunigten globalen Wettbewerbs übernimmt das fürsorgliche Unternehmertum die Regie. Der Staat wird auf die Erledigung von Kernaufgaben und die Übernahme von Bürgschaften beschränkt und hat mit seiner Restkompetenz die Bürger auf wettbewerbsgerechte Weise zu aktivieren und optimale Voraussetzungen für effizientes Wirtschaften zu gewährleisten. Er steht in einem subsidiären Verhältnis zu den Unternehmen, die gleichsam als verantwortungsbewusste Bürger die Ertüchtigung der Gesellschaft in die eigenen Hände nehmen – so gründen sie den so genannten „dritten Sektor“ neben Öffentlich und Privat.
Vorbereitet und flankiert werden die Kampagnen der Stiftung durch eine langfristig praktizierte Sprachregelung. Die ständige Wiederholung von Schlagworten und Wendungen legt uns eine bestimmte Problemauffassung gewissermaßen auf die Zunge. Bürokratieabbau, Flexibilisierung, Fördern und Fordern. So wird die öffentliche Verständigung über offene Fragen auf wenige Erwartungen hin verengt. Demselben Zweck dient die Präsentation der Ergebnisse zirkelschlüssiger Meinungsumfragen und methodisch anfechtbarer Rankings. Dadurch erübrigt sich viel herkömmliche Lobbyarbeit.
Allerdings können die entbürokratisierten, die verschlankten, flexiblen, leistungsgerechten, dezentralen und kundenorientierten öffentlichen Einrichtungen gar nicht leisten, was sie leisten sollen. Die Erfahrungen mit öffentlich-privaten Partnerschaften sind ernüchternd, und die großen Reformideen aus Gütersloh erweisen sich als Luftschlösser. So sollte doch das Patentrezept der Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmenskapital den sozialen Frieden im Unternehmen Deutschland stiften. Doch kaum verordnet, versagt es. Die Unternehmen winken ab: unrealisierbar. Die Verkennzifferung der Hochschulen erzeugt – was? Ausgerechnet eine neue Bürokratisierung. Die Fusion von Arbeitsvermittlung und Sozialhilfe sorgt für bleibendes organisatorisches Chaos.
Outsourcing und Privatisierung kommen die Haushalte der Gemeinden und Landkreise auf längere Sicht teurer zu stehen als das bisherige defizitäre Wirtschaften, abgesehen davon, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen und zunehmend mehr Mühe und Kosten auf die Bürger abgewälzt werden. Der neue Leistungswettbewerb ist auch ein Verdrängungswettbewerb. Er drückt die zur Eigenwerbung untauglichen Einrichtungen in eine wirtschaftliche Grauzone und macht Patienten mit geringer Selbstkontrolle zu Menschen, die an ihrem Elend selber schuld sind. Dem sozialen Frieden dient das nicht, und es stößt die widerstrebend steuerzahlenden, dienstleistenden und der öffentlichen Gewalt gehorsamen Einzelnen in ihre Gruppenegoismen zurück, die sich auch durch Wohltätigkeit und Ehrenamtlichkeit zu keinem Gemeinwesen verknüpfen.
Staatliche Ohnmacht: keine Ideologie
Aber erfolgreich oder nicht erfolgreich: auch ohne die Moderation durch die Stiftung würden die Bundes- und Landesregierungen und die meisten Kommunen und Hochschulen den Ausweg aus ihren wachsenden Haushaltsdefiziten in der Selbstbewirtschaftung suchen. Sie folgen Lösungsmodellen, die nicht nur im Trend liegen, sondern auch Anschlusszwang ausüben.
Lassen wir Bertelsmann einmal beiseite. Weil uns viel daran liegt, Verantwortliche dingfest zu machen und das eigene Handeln sinnvoll auszurichten, neigen wir häufig dazu, die Entwicklung der Weltwirtschaft auszublenden und die globalisierten Verhältnisse hierzulande als Kammerspiel zu betrachten – als Auseinandersetzung zwischen den Interessen einzelner Akteure. Wir privatisieren gleichsam auf unsere Weise. Aber ohne jene Entwicklung wären die neoliberalen Standardrezepte undenkbar bzw. fänden keine Beachtung.
Der Globalisierungsdruck und der Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Politik, die US-amerikanische bislang ausgenommen, gingen von der Deregulierung der Finanzmärkte aus, welche wiederum aus dem Siegeszug der Aktiengesellschaften resultierte, die in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen unstillbaren Bedarf an transnationalen Krediten entwickelten. Wie Colin Crouch in seiner Schrift über die „Postpolitik“ ausführt, verlagerte sich etwa Mitte der Siebzigerjahre der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Dynamik vom Massenkonsum auf die Aktienmärkte.6 Die Kapitalverkehrskontrollen, Zinsregulierungen, Zulassungsbeschränkungen und Preisvorschriften für die Börse wurden weitgehend abgeschafft und die Wechselkurse freigegeben.7
Die globale Finanzwirtschaft sprengte die Fesseln der Waren- und Dienstleistungswirtschaft und ordnete diese ihrer Eigenbewegung unter. Zugleich war und ist dies ein hochpolitischer Prozess, denn wie es eine lakonische Formel, die Henry Kissinger nachgesagt wird, auf den Punkt bringt: „Globalisierung ist nur ein anderes Wort für die US-Herrschaft.“ Jedenfalls die Globalisierung durch das spekulative Finanzkapital, das sich heute auf das Erbeuten und Ausschlachten von Unternehmen und Unternehmensteilen konzentriert und in der verbleibenden Realwirtschaft eben keine perfekten Märkte schafft, wie es die neoliberale Lehre verheißt, sondern Oligopole der größten Unternehmen begünstigt.8
Die nationalen Aufsichtsbehörden haben ihre Ohnmacht gegenüber dem Finanzmarktaggregat bereits akzeptiert. Im Verlauf der Finanzmarktkrise, mittels staatlicher Beteiligungen und Bürgschaften für Banken und Konzerne und mittels der angekündigten Kontrollen von Finanzprodukten, übernimmt der Staat konsequenterweise eine Art von Gesamtverantwortung für den Kapitalverkehr. Die Regierungen haben ja die Liberalisierung selbst nach Kräften vorangetrieben – über die Welthandelsorganisation, den OECD, den Internationalen Währungsfonds und die EU. Seit den Achtzigerjahren – Stichwort New Public Management – wird die Politik praktisch von der Wirtschaft beaufsichtigt. Zwar sieht es nun so aus, als sei es umgekehrt, aber dieser Eindruck entsteht, indem sich der Staat zum vollgültigen Akteur auf den Finanzmärkten mausert. Heute stülpt sich in allen Ländern der Europäischen Union das Marktprinzip über den Staatsapparat, und den Behörden wird mehr und mehr abverlangt, wie Unternehmen zu agieren. Unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg der Öffentlich-Privaten-Partnerschaften werden die innen- und außenpolitischen Fragen primär nach Paradigmen des ökonomischen Wettbewerbs gewichtet und gedeutet. Mögliche Grenzen des Ökonomismus zeigen sich nur dort, wo seit Beginn des neuen Jahrhunderts bestimmte Grenzen der Pax Americana aufzutauchen scheinen – geopolitisch, religionspolitisch.
Was kann in dieser Lage die Gegenwehr der Beteiligten ausrichten – in Schulen, Ämtern, Projekten, Instituten und Praxen? Enttäuschungen und Widerstand können sicherlich zur Rückkehr mancher Dienste unter rein staatliche oder kommunale Verantwortung beitragen. Sie werden aber nicht verhindern können, dass Politik an die Standortkonkurrenz um Investoren fixiert bleibt, und überall dort, wo Kosten anfallen und Leistungsträger ausgebildet werden, der Fetisch der Effizienz aufgepflanzt wird – und, damit wir uns recht verstehen, nach der Entmachtung des Politischen lässt sich dagegen auch schlecht argumentieren.
Die Rückkehr des Politischen jedoch kann in Europa nur parallel zum Anbruch einer multipolaren Weltordnung einsetzen – eine Bedingung, die gegenwärtig mehr denn je erfüllbar erscheint. Nur das Ende der unipolaren Weltordnung nämlich entzieht die Finanzmärkte der Oberaufsicht eines einzigen politischen Souveräns, und nur dann stellt sich auch im neuen Europa erstmals die Frage der Souveränität.