Die Biologisierung des Sozialen
"Es gibt kein System ohne Parasiten!"
"Vor dem Essen, nach dem Essen, Händewaschen nicht vergessen." – diese Faustregel der Kindererziehung zielt ins Zentrum des Themas "Parasiten". Dass es hierbei nämlich keineswegs nur um namenloses Geglibber geht, um nur mikroskopisch erkennbare Krabbler, um Saugmilben oder Rebläuse, betont auch der französische Philosoph Michel Serres, der auf der Idee des Parasiten eine ganze Kulturtheorie aufbaut, und die Naturwissenschaft flankiert dies mit der Information, dass auf eine freilebende Tierart vier Parasitenarten kommen - Parasiten sind die Gewinner der Evolution.
Immer stärker erschienen auch Menschen als Parasiten, noch in der antiwohlfahrtsstaatlichen Formel vom "Sozialschmarotzer" tauchen sie auf, zuletzt setzte George W. Bush Terroristen mit Parasiten gleich. Auch in den Debatten über Einwanderung und Migration sind sie präsent. In der Dokumentation "Die Parasiten sind unter uns!" (heute Abend auf arte) zeigt Kirsten Esch einen Streifzug durch 2000 Jahre Parasitengeschichte, der Schwerpunkt des Filmes liegt auf dem 20.Jahrhundert. Denn hier wurde die Biologisierung des Sozialen auf die Spitze getrieben. Es ist der Traum von absoluter Reinheit und Sterilität und entsprechend die Angst vor Verunreinigung, die das Thema aktuell und politisch machen. Am Ende gilt auch hier das Fazit von Michel Serres: "Es gibt kein Leben ohne Parasiten. Waschen Sie sich nicht zu oft die Hände, sonst werden Sie krank." Telepolis sprach mit der Kulturwissenschaftlerin:
Als Kulturwissenschaftlerin beschäftigen Sie sich mit dem Thema "Parasiten". Was macht das aktuell, was bringt heute die Forschung an diesem Gegenstand?
Kirsten Esch: Man kann etwas über den Umgang mit dem Ungeliebten lernen, über die Prinzipien Einschluß und Ausschluß. Wo beginnt Abgrenzung, und wozu führt Abgrenzung? Das lässt sich am Parasiten sehr gut erzählen.
Wozu sollen wir überhaupt mit dem Ungeliebten umgehen?
Kirsten Esch: Weil es da ist.
Warum kann man nicht sagen, das machen wir weg?
Kirsten Esch: Weil das totalitär wäre.
Zwangsläufig?
Kirsten Esch: Ja. Das ist ja das Bedauerliche. Es gibt keine liberale Form von Parasitenvernichtung. Ich glaube, letztendlich geht es auch bei diesem Thema um unseren Umgang mit dem Tod. Um unsere Angst vor dem Tod, und die Hoffnung auf ein unendliches Leben. Was mich fasziniert hat, ist der Widerspruch zwischen Paradies und Nichtparadies. Der Paradies ist die Verneinung des Todes. Da kommt der Parasit ins Spiel, denn der führt uns Richtung Tod. Der Parasit ist Veränderung. Jeder kennt das: Man hat das Zimmer aufgeräumt – und schon gibt es wieder Dreck. Man hat die Post erledigt. Aber schon kommt ein neuer Brief vom Finanzamt. Die ideale Ordnung ist nicht stabil und nicht von Dauer. Was wir eigentlich wollen, wird ständig gestört, und wenn wir die Störung ausschließen, ist dass, was wir wollen grausam und fürchterlich. Das interessiert mich. Der Parasit ist diese Störung. Das Prinzip des Lebens. Auch alle totalitären Systeme wollten ja ausschließen.
Gibt es überhaupt Parasiten? Was sind überhaupt Parasiten?
Kirsten Esch: Ich unterscheide das Parasitäre – ein Lebensprinzip – von den Parasiten, das sind die Einzelnen. Der benennbare Gegenstand, der dann bekämpft wird. Das Parasitäre kann man nicht ausgrenzen, weil es alles durchdringt. Im gesellschaftlichen wie im naturwissenschaftlichen Sinne sprechen wir vom Parasiten, vom Parasitären. In beiden Bereichen ist der Parasit ein hochproblematischer Begriff, der extrem negativ konnotiert ist. Naturwissenschaftlich betrachtet lebt der Parasit auf Kosten eines anderen, ohne eigene Leistung. Er lebt von bereits Vorhandenem, hilft, das Vorhandene zu verbrauchen und beteiligt sich nicht am Wiederaufbau. Parasiten, das sind Schmarotzer, der Befall von Parasiten kann Leben bedrohen, oder Systeme. Parasiten gefährden Systeme, Körper. Und doch sind sie immer da, und wenn sie weg waren, dann kommen sie wieder. Ganz bestimmt. Es gibt kein System ohne Parasiten. Die Naturwissenschaft hat lange versucht, die Strategien des Parasiten auszumachen, ihn zu definieren und seine Existenz auszuschließen - sei es nun als Schädling am Körper der Pflanze, als Sozialschmarotzer: ein Tier, das es sich im Nest eines anderen gemütlich macht, der Kuckuck, als Parasit, der am oder im Menschen schmarotzt, wie die Zecke, oder der Wurm, oder als Krankheitserreger, die Viren und Bakterien- Ziel der Parasitologie war es, einen Körper unversehrt zu halten, störungsfrei, frei von Parasiten. Gesellschaftliche Systeme haben ebenfalls immer versucht und versuchen bis heute, den/die Parasiten in ihrer Mitte zu erkennen, zu stigmatisieren, um ihre vermeintliche Homogenität zu garantieren, den Gesellschaftskörper unbeschadet zu halten, störungsfrei, frei von Parasiten. Der Wirt, sei es der biologische Körper, oder der Volkskörper, lebt in ständigem Kampf gegen den Parasiten, um Ausgrenzung des von innen oder von außen ihn schädigenden Elementes bemüht.
Es geht also um kulturelle Metaphern, nicht naturwissenschaftlich feststellbare Vorkommnisse?
Kirsten Esch: Wo das Parasitäre liegt, ist eine Frage der Perspektive. Die Naturwissenschaftler haben ihre Definitionen vom Parasiten, aber die sind viele und in sich widersprüchlich. Die Naturwissenschaften können ihre Widersprüche nicht auflösen. Auch in den Kulturwissenschaften gibt es viele Definitionen: Der französische Philosoph Michel Serres, der ein Buch über den Parasiten als Metapher geschrieben hat, geht so weit, das parasitäre Leben vom Nicht-Parasitären nicht mehr trennen zu wollen, vielmehr spricht er von einer Kaskade des Parasitären, an deren Spitze der Mensch steht: er parasitiert am "Fest des Lebens", nährt sich von der Ressourcen der Erde, bringt Störung in die Ordnung, ist aber genau darum kreativ. Carl Zimmer, amerikanischer Wissenschaftsjournalist und Autor von "Parasitus Rex" hält die Menschen für ziemlich schlechte Parasiten. Eigentlich, erklärt er mir, ist ein Parasit immer darauf bedacht, seinen Wirt nicht zu sehr zu schädigen. Ist er doch der Wirt seine Zuflucht und sichert sein Überleben. Wir Menschen aber, findet Zimmer, schädigen die Erde irreversibel, wir sind unvorsichtig, gefährden wird doch das, was uns Leben ermöglicht: unseren Wirt, die Erde.
Sie beschreiben die Biologisierung des Sozialen.
Kirsten Esch: Die im Extremfall zur Vernichtung von Menschen - "wie Läuse" sagte Hitler – führt. Schädlinge wurden konstruiert, erfunden. So lässt sich an dem Thema viel ablesen. Die Menschen sind von dem ständigen Willen beseelt, sich ihrerseits von Parasiten zu distanzieren, zu befreien. Sicher auch zu Recht: Im medizinischen Sinne sind Parasiten oft genug bedrohlich bis hin zu tödlich in ihren Auswirkungen. Das menschliche Immunsystem ist ständig damit beschäftigt, die Fremdlinge zu erkennen, und sie aus dem Körper rauszuhalten: die Parasiten, einmal als fremd erkannt, haben dann keine Chance mehr, denn das Immunsystem ist schlau- aber nicht schlauer als die Parasiten: sie haben viele Gesichter und oft genug gelingt es ihnen mit ausgefeilten Strategien das Immunsystem auszutricksen, es zu umgehen und trotz aller Gegenwehr schaffen sie es doch, in den Körper zu gelangen, sich dort zu nähren, sich fortzupflanzen. gegen den Willen des Wirtes, der oft genug noch nicht einmal von ihrer schmarotzenden Existenz ins Bild gesetzt wurde. So liegen das Immunsystem und der Parasit in einem ständigen Wettkampf: der Wirt bekämpft den Parasiten und der Parasit den Wirt. Ein Kampf, der den Körper ständig in Bewegung hält, der Körper muss flexibel reagieren, der Parasit hält ihn, seinen Wirt fit – und umgekehrt. Der Parasit tötet seinen Endwirt nicht.
Aber was heißt das im konkreten sozialen Zusammenleben? Ihr Film zitiert Werbespots. Die verweisen darauf, dass es diese Reinheitsvorstellungen ja auch im Privaten gibt: Diese Wohnungen, die absolut exakt aufgeräumt sind, sehr sauber, wo nichts herum liegt, nichts Spontanes sichtbar ist... Ist das, was da praktiziert wird, eine Form des Totalitären im Privaten? Geht es um Spießertum?
Kirsten Esch: Ich könnte mir vorstellen, dass diese Menschen nicht sehr lebendig sind. Solche Lebensformen lassen halt nichts zu. Sie sind nicht großzügig. Aber der Parasit garantiert Veränderung, nichts bleibt wie es ist.
"Die Parasiten sind unter uns!", ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch läuft heute Abend auf arte als Teil eines Themenabends "Ungebetene Gäste – Parasiten"