Die Corona-Krise. Die Linke. Und die Sterblichkeit
Eine Halbjahresbilanz
Auch wenn es eine gefühlte Ewigkeit ist, liegen gerade einmal sechs Monate hinter uns, die uns in eine "neue" Zeit katapuliert haben, mit Begriffen wie: Corona, COVID-19, Aerosole, Lockdown bis hin zu (Über-)Sterblichkeitsraten und Abstandsregeln.
Auch wenn man wenig oder viel zu wenig über COVID-19 weiß, werden mit Verweis auf COVID-19 ganz einschneidende Maßnahmen begründet, die Grund-und Schutzrechte einschränken bzw. außer Kraft setzen, wie es in der Bundesrepublik noch nicht - in dem Maße - der Fall war.
Im ersten Teil geht es darum, den Gründen nachzugehen, die Gegner dieser Maßnahmen anführen, dagegen zu protestieren. Halten sie dem Vorwurf stand, sie hätten nur pure "Verschwörungstheorien" anzubieten? Und haben die Gegner der "Corona-Leugner" eine eigene Analyse der gegenwärtigen Lage, die über die Einhaltung der Corona-Maßnahmen hinausweist?
Der zweite Teil versucht den Blick auf diesen Ausnahmezustand zu weiten, indem er ihn mit anderen vergleicht. Dazu geht der Beitrag bis ins Jahr 1968 zurück. Gibt es eine Logik, eine Handschrift für ausgerufene Notstände? Kann man anhand dieser Beispiele belegen, dass die Angst vor XY (COVID-19, Kommunismus, Islamismus) vor allem ein Klima erzeugen soll, das Maßnahmen erlaubt, für deren Akzeptanz man unfassbare Angst braucht?
Wenn man an die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen denkt, dann betonen die Teilnehmer selbst die Vielfalt und die Verschiedenheit der Anliegen, der Motive und politischen Visionen, während die am Rand Stehenden vor allem die Neonazis, Reichsbürger und Identitären zählen … und den großen Rest bestenfalls für liebenswürdige Spinner halten.
Wenn ich an die zahlreichen Bewegungen der letzten 40 Jahre zurückdenke (an die Friedensbewegung der 1980er Jahre, die Anti-Atom-Bewegung, die Startbahnbewegung am Frankfurter Flughafen) dann könnte man ähnliche Charakterisierungen - gerade am Anfang - vornehmen. Bewegungen schöpfen ihre Kraft und Attraktivität aus der Heterogenität und ihre Dynamik aus der Existenz dieser aufeinanderprallenden Widersprüche. Ich kann mich noch bestens an unsere sehr zurückhaltende Einstellung zu "Sitzblockaden" vor US-Militärbasen erinnern, an die "Becarel-Inis" als Antwort auf Tschernobyl 1987, an den weit verbreiteten und von uns belächelten Glauben, dass man "die Politiker" nur mit unseren besseren Argumenten überzeugen müsse.
Bei aller Häme und Kritik: Wir standen dabei nicht am Rand, sondern haben uns mit diesem Widerspruch eingemischt, anstatt das Homeoffice damit zu politisieren.
Der Kampf um die neue/alte Realität
Vielleicht kann man bei all den notwendigen bis schwer auszuhaltenden Unterschieden trotzdem einen großen gemeinsamen Kern ausmachen: Die Demonstranten gegen zahlreiche Corona-Maßnahmen wollen den Kapitalismus zurück, den sie vor dem Lock-down hatten, mit dem sie sich arrangiert haben. Ein Kapitalismus, der Freiheit denen gibt und gönnt, die sich das durch harte/viel Arbeit verdient haben. Möglicherweise drückt sich das in ganz vielen Slogans aus, die um das Wort "Freiheit" kreisen, die man zurückhaben möchte, die man mit den Corona-Maßnahmen verloren hat.
Das mag man für einen recht bescheidenen Protest halten - aber man muss ihn deshalb nicht mit einer neonazistischen Demonstration gleichsetzen. Wenn man fair und hoffnungsvoll ist, dann kann man die "Querdenker" sowohl rechts- wie links-offen verorten. Und wer sich die Geschichte von Bewegungen anschaut, der weiß, dass dies in den allermeisten Bewegungen so der Fall war. Es sei nur daran erinnert, dass sehr viele "links-willigen" Kommentatoren die "Gelbwesten"bewegung in Frankreich als eine rechte Gefahr bezeichnet haben und nun … ganz still geworden sind (erst recht, was ihre falsche Einschätzung angeht).
Wenn man also von dieser vorläufigen Hypothese ausgeht, dass viele nur eine Rückkehr zu einem Kapitalismus wollen, der denen Spaß verspricht, die es sich "verdient" haben, dann gibt es doch erst recht keinen Grund zur Überheblichkeit! Denn dann wäre doch die Frage an die Gegendemonstranten zu richten: Verharrt ihr nicht auch in einem Status Quo, der die Entscheidung der Großen Koalition gegen die "Querdenker" verteidigt?
Wenn der (verlorene) Spaß am Kapitalismus zu wenig ist - und dafür gibt es allerhand Gründe -, der müsste sich und anderen sagen, worum es dann gehen muss!
Was wäre also eine tatsächliche Kapitalismus-Kritik, die die Corona-Zeiten berücksichtigt? Hat die parlamentarische, die außerparlamentarische Linke so etwas wie eine antikapitalistische Kritik, die man - in der Tat - auf den Querdenker-Demos meist nur in sehr homöopathischer Dosis wahrnehmen kann?
Zwei Seiten des Konformismus
Es werden anscheinend viele Parolen auf der "falschen" Demo (der Querdenker) gerufen: "Niemand hat das Recht zu gehorchen" … "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht". Liegt das nur an verirrten Parolenträger oder auch an dem Umstand, dass es keinen Widerstand gibt, wo diese Parolen keine (Ent-)Täuschung sind?
Wenn das Rebellentum der Querdenker tatsächlich etwas von einer "konformistischen Rebellion" hat, die das Versprechen des Kapitalismus eingelöst sehen will und gar nichts gegen den Kapitalismus hat, dann fragt man sich: Wo bleiben, wo sind die Rebellen, die mehr wollen als einen guten, party-tauglichen Kapitalismus? Zeigen sie sich nicht (vor allem) als Begleitschutz der Großen Koalition?
Das Virus und der linke Konformismus
Wenn Regierung und Regierungswillige zusammen die Corona-Maßnahmen summa summarum, die Suspendierung elementarer Grund- und Schutzrechte für angemessen halten, wenn "Antifaschist" den Protest dagegen für den falschen halten und sich als politische Ordnungsmacht verstehen, nach Verboten rufen und zu Gegendemonstrationen aufrufen, dann gibt es keine Opposition mehr, sie hat sich aufgelöst. Dann sollte man sich auch nicht beklagen, dass die richtigen Parolen auf den falschen Demos gerufen und gezeigt werden.
In der August-Ausgabe des Monatsmagazins Konkret diagnostiziert der Publizist Felix Klopotek "das Verdämmern linker Kapitalismuskritik in der Coronakrise". Seine Vorwürfe an die Linken:
Das Geschäft der einst so verhassten Medien zu betreiben, Leute der Lächerlichkeit preiszugeben, die längst schon lächerlich sind? Den Staatsvirologen Drosten zu verteidigen, auch wenn der nie ernsthaften Gegenwind zu spüren bekam? Die staatskapitalistischen Interventionen mal offen, mal verdruckst zu goutieren, die ohnehin Konsens sind?
Felix Klopotek/Konkret 8/2020
Dem stillen Argument vieler Linker, angesichts der Pandemie sei Kapitalismuskritik nicht mehr so wichtig, entgegnet Klopotek.
Das Virus ist für große Teile der intellektuellen Linken … eine Ausrede für einen Konformismus, der sich bereits vor der Pandemie entwickelte und mit ihr nicht zum Abschluss kommt.
Felix Klopotek
Ökonomische und politische Herrschaftsstrukturen sichtbar zu machen, ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Grundbedingung für ein linkes Selbstverständnis
Zweifellos findet man wenige Ansätze und Versuche, die Corona-Zeiten staatstheoretisch einzuordnen. Wer verdient an einer Krise? Wem nützt eine Krise? Wer wird die Krise bezahlen? Schützt ein Notstand die Menschen oder das System?
Im Großen und Ganzen macht die Linke auch dazu keine Anstrengungen. Umso mehr stürzt man sich auf das wenige, was aus Querdenkerkreisen kommt. Dort wird sehr oft Bill Gates im Munde geführt. Ein über 100 Milliarden US-Dollar schwerer Unternehmer, der erst mit Microsoft steinreich geworden ist und nun mit seinem Kapital und seiner Macht auch in den Pharmasektor "investiert". In der reaktionären und autoritären Kritik ist Bill Gates mehr als ein unfassbar reicher Unternehmer, der genau das macht, was alle mit Kapital machen: Profit maximieren und politische Entscheidungen beeinflussen. Er steht für die Charakterisierung und Personalisierung des Bösen, für die ganz dunklen Seiten des Kapitalismus. In diesem Denken ist Bill Gates ein Exzess, ein schlimmer Auswuchs und nicht das glänzende Ergebnis eines Unternehmens, das die Regeln nicht gebrochen, sondern exzellent angewandt hat.
In der Person Bill Gates kann man das "Böse" externalisieren, als läge es an dem verwerflichen Charakter und nicht an der Beherrschung und Anwendung der Spielregeln. Damit wird der Kapitalismus nicht verstanden, sondern zum Verschwinden gebracht. Auch das ist nicht neu, sondern sehr geübt - gerade in Deutschland. Was jetzt Bill Gates als Ami verkörpern soll, war früher der Jude, den es auch nur als raffenden und geldgierigen Juden gab, der über Leichen geht.
Man zerlegt den Kapitalismus in zwei Hälfen, wie bei dem Zaubertrick des Magiers, der eine Frau, die sich in einem Kasten befinden soll, genau in der Mitte durchsägt: Die gute Hälfte ist das "schaffende Kapital" (also weiß/deutsch/fleißig), die miese andere Hälfte wird durch das "raffende Kapital" (in der Figur eines Bill Gates, eines Juden) gestellt. Dass der Kapitalismus notwendig beide Seiten hat und gerade in diesem dynamischen Zusammenspiel existiert, will und muss eine rechte/autoritäre Kritik leugnen. Genau das, was eine reaktionäre Kritik zerlegen will, beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Alois Schumpeter als innere Gesetzmäßigkeit: schöpferische Zerstörung.
Das Kapital ist also weder für das Gute da, noch zur Sinnstiftung, sondern zur Akkumulation (Karl Marx) oder weitaus blumiger: "Kaufen, wenn die Kanonen donnern, verkaufen, wenn die Violinen spielen." (Kalman Mayer Rothschild)
Zu einer dezidiert rechten Kritik gehört auch, dass man die Macht, den Einfluss, den Wenige über ganz Viele haben, in eine geheime Schaltzentrale auslagert, die die politisch Verantwortlichen zu hilflosen Marionetten macht. Bill Gates wird dann zu einem (Allein-)Herrscher, der alle anderen für sich tanzen lässt, anstatt das sehr vielschichtige System der Herrschaft zu begreifen.
Während also alle anderen von verwirrenden und undurchsichtigen Zeiten reden, verspricht diese Erkenntnismethode einzigartige Klarheit: Wenn man so die Welt, die Krisen, das damit einhergehende Leid denkt, dann muss nur "Bill Gates" weg und alles ist wieder gut. Damit schließt sich der Kreis, zumindest unter der Annahme der eingangs aufgestellten Hypothese: Man will den (guten) Kapitalismus (mit Spaß) zurückhaben und muss jetzt nur "Bill Gates" als den Bösen zum Teufel jagen.
Diese Kritik ist mitnichten eine antikapitalistische Kritik, sie ist der letzte Schutzwall. Es ist ein gigantisches Rettungsprogramm für den Kapitalismus, wenn das "Böse" für etwas Absonderliches und nicht als Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Ordnung verstanden wird.
Auch das zweite zentrale Axiom einer rechten Kritik ist herrschaftssichernd. Wenn man Bill Gates, Google und Co. zu Illuminaten einer geheimen Weltregierung macht, rettet man die realen Herrschaftsverhältnisse, für die es keinen Untergrund braucht. Was also eine rechte Kritik von einer linken unterscheidet, ist der Umstand, dass die rechte Kritik die realen Herrschaftsverhältnisse verschleiert, während eine linke Kritik sie sichtbar und (an-)greifbar machen muss, also müsste.
Was würde also eine linke Kritik auszeichnen? Es ginge darum, die Bedeutung von Bill Gates und seiner Stiftung genau zu benennen. Dabei geht es am allerwenigsten darum, Bill Gates nett, philanthrop oder unsympathisch zu finden. Es geht um die ungeheure Summe, die überall auf der Welt zu einer Macht verhilft, die sich nicht zur Wahl stellen muss, die mit Investitionen und Deinvestitionen mehr erreichen und bewirken kann, als dies geheime Zirkel können.
Zum anderen geht es darum, zu erklären, warum das Geraune von einer im verborgenen agierenden Macht die Herrschaftsverhältnisse nicht aufdeckt, sondern verschleiert. Die "Bill Gates" dieser Erde brauchen keine Unterwelt, sie sitzen in den Beraterstäben von Regierungen, sie investieren in Think Tanks und NGOs (Nichtregierungsorganisationen), halten sich Stiftungen, um so auf vielstimmige Weise Meinungshoheit zu schaffen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Und genau diese Arbeit aufseiten der Linken steht aus.
Wenn man den Ausnahmezustand als Verschwörungstheorie behandelt, hat man sich als Linke aufgegeben
Auf einer "Querdenkerdemonstration am 12. September 2020 in München kam es zu einer bizarren Situation: Es gab einige antifaschistisch gesinnte Gegendemonstranten, die gegen die "Querdenker*" protestierten und ihnen "Solidarität statt Verschwörungstheorie" entgegenschrien.
Ein "Querdenker" kam auf sie zu und fragte die Gegendemonstranten, wogegen sie wären. Die Antifaschisten wollten gegen Nazis kämpfen. "Der Querdenker" schaute sich um, schüttelte den Kopf und ließ die Antifa mit dem Satz alleine: "Ihr seid doch nur Söders Truppe."
Vielleicht war die parlamentarische Linke zu Beginn der Pandemie überfordert, als es darum ging, die Grundrechtseinschränkungen, die faktische Selbstentmachtung des Parlaments (gegen die Die Linke kein "Nein" setzte, sondern sich der Stimme enthielt) einzuschätzen und zu qualifizieren. Aber sie hätte sehr wohl das Wissen zurate ziehen können, das es zu ähnlichen Ausnahmezuständen gibt, also zum Beispiel zu den Notstandgesetzes 1968, dem "Deutschen Herbst" 1976/77 oder zu "9/11" in Folge des Terroranschlages in den USA 2001. Wenn man diese Beispiele in Erinnerung ruft, dann hilft das enorm, die aktuelle Situation zu begreifen.
Demnächst in Teil 2: Ausnahmezustände verschwinden nicht, sondern verwandeln sich in eine neue Form des Normalzustandes.
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