Die Corona-Krise hat viele Fehlfunktionen unseres Systems offengelegt
Wollen wir zur alten Normalität zurückkehren?
Es könnte auch alles ganz anders sein.
Harald Welzer
Plötzlich ist alles ganz anders, nicht weil wir es wollten, sondern weil es uns durch die Corona-Grippe aufgezwungen wird. Niemand hat das so gewollt, diese Seuche ist kein Volkserziehungsprogramm. Sie hat chaotische Auswirkungen in alle Richtungen, und wir hoffen, dass sie bald vorbei ist. Allerdings: Wollen wir dann wirklich zur alten Normalität zurückkehren? Wie Churchill sagte: "Es wäre schade, eine Krise ungenutzt verstreichen zu lassen."
Die Corona-Krise hat viele Fehlfunktionen unseres Systems offengelegt. Im großen Rahmen zeigt sie die Schwächen einer übertriebenen Globalisierung auf, die die lokal mögliche Produktion von lebenswichtigen Gütern erschwert, so dass wir nicht einmal mehr ein Low-Tech-Produkt wie Gesichtsmasken selbst herstellen können. Die gleiche Globalisierung hat auch zu mehr Fernflügen geführt, über die eben Viren schnell verbreitet werden können: Was in Wuhan begann, ist über Nacht in Mailand.
In unserem Land selbst hat die extreme Funktionsteilung - wohnen hier, arbeiten dort, einkaufen wieder anderswo - mit dem dafür notwendigen Herumreisen in überfüllten Zügen zur Verbreitung des Virus beigetragen. Darum werden Bewegungen von Menschen jetzt auch generell eingeschränkt. Natürlich ist das jetzt nicht das ideale ökologische Verkehrskonzept, denn es fördert den Autoverkehr und behindert den Fußgängerverkehr.
Eine Umstellung der ganzen Wirtschaft auf weniger Produktion und nähere, synergetische Produktionsweisen, z.B. Quartierwerkstätten, Re-use, Repair und Recyclingzentren ist ökologisch erforderlich und wäre sogar "seuchentauglicher" als die heutigen über-vernetzten Strukturen. Diese Umstellung ist aber graduell zu verstehen. Wir brauchen nach wie vor übergreifende öffentliche Dienste und funktionierende Zentralregierungen, aber weniger davon und mehr lokale Organisation.
Schwächen in der Versorgungsstruktur
Die aktuelle Krise zeigt auch Schwächen in der Versorgungsstruktur auf. Statt auf nahe Lebensmitteldepots in Nachbarschaften (eines der Kernkonzepte von Neustart Schweiz) zählen zu können, müssen wir jetzt zu Großverteilern pilgern.
Individualisierte Lieferdienste sind überfordert. In unserem Hausdepot haben wir zum Beispiel wie jedes Jahr vier Paletten WC-Papier eingekauft - da muss niemand hamstern, weil wir ja sozusagen kollektiv hamstern, d.h. größere Lieferungen übers Jahr hinweg planen können. Einkaufen geht mit dem Lift - oder jetzt durch einen internen Wohnungslieferdienst, damit die Mitglieder der Risikogruppen (z.B. ich) sogar in ihren Wohnungen bleiben können.
Wo schon Nachbarschaftsorganisationen bestanden, ging die Umstellung sozusagen über Nacht, aber auch in bisher wenig organisierten Nachbarschaften sind Hilfsnetze spontan entstanden, nicht weil jemand das konzipiert hatte, sondern weil es emergent notwendig und richtig ist.
Food-waste zu verhindern und lange Lieferketten zu verkürzen, ist wichtiger als je. Wir können auch die Bäuerinnen jetzt nicht allein lassen, wenn wir keine Versorgungskrise riskieren wollen. Eingespielte Direktbelieferung in entsprechend ausgerüstete Nachbarschaftsdepots wäre jetzt ideal.
Auch die Mithilfe bei der Landarbeit kann so auf eine robuste Art organisiert werden. Warum sollte das, was jetzt improvisiert wird, nicht auf eine dauerhafte Grundlage gestellt werden? Funktionierende Konzepte gibt es schon heute.
Organisieren wir unser Leben lokaler
Eine Folgerung, die man aus der aktuellen Krise ziehen könnte, wäre also: Organisieren wir unser Leben lokaler, stärken wir Nachbarschaftsorganisationen. Die Lähmung von Wirtschaft und öffentlichem Leben, die heute richtig und notwendig ist, ist noch kein Konzept einer ökologischen Lebensweise. "Wenn es vorbei ist", stehen wir den alten Herausforderungen wieder gegenüber. Immerhin haben wir gelernt, dass "alles auch ganz anders" und schnell anders sein könnte.
Unsere Flexibilität im Handeln und Denken wurde unter äußerem Zwang radikal erhöht. Nutzen wir sie, um den ökologischen Umbau an die Hand zu nehmen. Wir wissen nun, dass wir auch anders können. Es wäre schade, diese Krise ungenutzt verstreichen zu lassen und einfach in die alten Muster zurückzufallen.
Neustart Schweiz hat schon letztes Jahr unten stehende Vorschläge für eine klimagerechte Gesellschaft gemacht. Sie klingen auch unter den aktuellen Bedingungen nicht falsch.
Vorschläge
Wenn wir bei den drei größten Umweltbelastungsfaktoren ansetzen - Essen, Wohnen, Fahren -, dann sind folgende Vorschläge wirkungsvoll:
1. Baustopp für alle Großprojekte, inklusive im Verkehrsbereich.
2. Ein Unterstützungsprogramm des Bundes für den Umbau des Landes in sozial und ökologisch optimierte Nachbarschaften mit einer internen Alltagsinfrastruktur (siehe unser Modell in: Nach Hause kommen, 2019)3. Vom Bund mitfinanzierte Modell- und Referenz-Projekte von neuen Nachbarschaften in den zehn größten Städten.
4. Ein Bundesprogramm zur Stärkung von Quartierzentren oder Kleinstadtzentren mit allen Schulen bis und mit Gymnasium, ABC, Fair-Trade-Depot usw.
5. QUIKs (Quartier-Industrie-Kooperativen) in allen Quartieren und Kleinstädten für Reparatur/Recycling/Ausleihe/haushaltsnahe Produktion/Fuhrpark usw.
6. Eine Arbeitsplatztauschplattform (Job/Wohnungs-"Tinder"), die es ermöglicht im gleichen Quartier oder in der gleichen Stadt zu wohnen und zu arbeiten.
7. Öffentliche Wohnungstauschplattformen mit Ausgleichsfonds, die es ermöglichen ohne zusätzliche Mietkosten in eine passende, möglichst kleine Wohnung in der Nachbarschaft oder im Quartier umzuziehen.
8. Ein nationaler Klimafonds für analoge Projekte in Weltregionen mit ungenügenden Ressourcen.
Die Wirkungen dieser Vorschläge sind vielfältig. Die neue Lebensweise in Nachbarschaften dämmt die heutige Flut an Konsumgütern ein und garantiert trotzdem ein angenehmes Leben. Wir können selbstverwaltet teilen, tauschen, mitbenutzen.
Ausgebaute Nachbarschaften mit gemeinsamem Haushalten verlagern Arbeitsplätze von überregionalen Verteil- und Dienstleistungsstrukturen in die Nähe. Regional vernetzte QUIKs schaffen alltagsnahe Produktionsstätten und relokalisieren weitere Arbeitsplätze. Sie ersetzen das aussterbende Gewerbe.
Der Kreislauf mit der Lebensmittelproduktion wird geschlossen: wenig Food-Waste, angepasste Ernährungsweisen (weniger Fleisch/Milch, effizientes Lagern und Kochen), saisonales Bewusstsein. Verminderter Konsum reduziert überflüssige Produktion und führt zu Arbeitszeitverkürzungen. Ein Teil der gewonnenen Zeit kann für eine breite Palette an freiwilliger Arbeit in Nachbarschaften und Quartieren eingesetzt werden. Die allgemeine Relokalisierung von Funktionen reduziert das Transportaufkommen.
Durch die Vorschläge 4 und 5 kann zusätzlich der Wohnflächenbedarf und das Pendeln reduziert werden. Experimente mit kleinen Wohnformen in den Modellprojekten tragen zu ihrer Propagierung bei (micro-living usw.).
Alle acht Punkte sind nicht bloße Regulierungen von oben, sondern Angebote, die wir uns gemeinsam machen, um unsere Selbstwirksamkeit zu unterstützen.
Der Beitrag von Hans Widmer erscheint auch im Blog von Eine Erde e.V.
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