Die Darwin Maschine
Positive und kritische Aspekte der Selbstorganisationstheorie
Simon Penny ist Künstler und hat eine interdisziplinäre Dozentenstelle für Kunst und Robotik an der Carnegie Mellon University. Im folgenden Artikel gibt er eine Übersicht über den Ideenkosmos des Künstlichen Lebens und setzt sich kritisch mit deren zugrunde liegenden Annahmen auseinander.
Was meinen wir bloß mit Künstlichem Leben (KL)? Der Name wurde von einer Gruppe interdisziplinärer Wissenschaftler in Anspruch genommen: Biologen, Robotiker, Computerwissenschaftler, die seit 1988 mehrere Kongresse unter diesem Namen am Santa Fe Institut für die Wissenschaft von der Komplexität" durchgeführt haben. Ähnliche Events gab es seither am MIT, in Europa und Japan. Die "Alifers" sind peripher mit den verwandten, vielleicht weniger deterministischen Gebieten der nichtlinearen Dynamik und Komplexitätstheorie verbunden, was ihrem gemeinsamen Interesse für selbstorganisierende Systeme und emergente Ordnung entspringt, Ideen, die aus dem Studium des Chaos entstanden sind. Die Anwendungen dieser Techniken reichen von der Schaffung digitaler Lebensräume, in denen die Dynamik von Evolutionsprozessen studiert werden kann, bis hin zur Formung und Gestaltung dieser Systeme, so daß sie Algorithmen ausbrüten, welche bestimmte arithmetische, grafische oder informationelle Aufgaben ausführen.
Die Forschergemeinde der "Alifers" beinhaltet:
1. Computergestützte Biologie: Bis jetzt war die natürliche Selektion, der Mechanismus der Evolution, auf Organisches beschränkt. Die Realisierung sich entwickelnder und reproduzierender digitaler Spezies auf Silikonbasis, welche genetische Algorithmen benutzen, wirft die Frage auf: "Ist es wirklich lebendig?" Diese Frage teilt die "Alifers" in zwei Gruppen:
1a."Harte Alifers" wollen uns glauben machen, daß sich selbst replizierende digitale Organismen in jeder Weise als lebendig zu betrachten sind und daß die Biologie das Studium möglicher Lebensformen beinhalten muß, und so zu einem Punkt kommt, an dem universelle Gesetze gefunden werden, die sowohl auf digitales als auch auf "nasses" Leben zutreffen.
1b. "Weiche Alifers" sagen, daß genetische und evolutionäre Simulationen nützlich sein können, um die Dynamik biologischer Systeme zu verstehen, doch betrachten sie diese als nicht mehr als bloß Simulationen.
Um diese zentralen Gruppierungen ordnen sich einige weitere an:
2. Erzeuger prozeduraler Systeme, wie die Boids von Craig Reynolds und die Robotschwärme von Jessica Hodgin. Kürzlich erst wurden solche Systeme Sich-selbst-entwickelnd, wie z.B. in der Arbeit von Karl Sims über sich entwickelnde 3D Morphologie und Verhalten durch Wettbewerb, und die sich entwickelnden animierten Charaktere von Jeff Ventralla.
Anmerkung der Red.:Sie können sich die Boids von Craig Reynolds auch live im Netz ansehen, URL.
3. Subsumierende "bottom-up" Robotiker, die ethnologische Analogien benutzen, um "von unten nach oben" emergentes Verhalten in mobilen Maschinen zu erzeugen.
4. Konstrukteure autonomer digitaler Agenten, welche in der digitalen Realität tätig werden.
5. "Nasse Alifers", das sind Molekularbiologen, die sich selbst replizierende Gruppen von Proteinen, Enzymen und Nukleinsäuren ausbrüten oder konstruieren. Die Instrumentalisierung der natürlichen Selektion gilt nicht nur für die digitalen "Alifers" sondern auch für die "Wet-Alifers". Die Nähe im Zugang zwischen Künstlichem Leben und den neuen genetischen und reproduktiven Technologien und Nanotechnologien sollten nicht übersehen werden.
Eliza's Kinder, Frankensteins Enkelkinder
Tom Ray, ein Biologe und Konstrukteur des Tierra Systems, machte kürzlich einen Vorschlag zur Erhöhung der Artenvielfalt im Netz, ein verteiltes digitales Wildnis-Reservat im Internet, in dem sich digitale Organismen entwickeln sollen, die sich periodisch in verfügbaren CPUŽs niederlassen. Diese Kreaturen würden eine gute Fähigkeit zur Navigation im Netz entwickeln, ebenso ein gutes Gespür für verfügbare CPUŽs, neben anderen Dingen. Räuber und Parasiten würden entstehen. Ray bemerkt daß, "die Evolution ganz natürlich nützliche Eigenschaften hervorbringt". Er argumentiert für seinen Vorschlag in folgender Weise:
Man kann sich keine Seidenraupe vorstellen, wenn es keine gäbe und selbst wenn man sie sich vorstellen kann, kann man die Evolution nicht anweisen, eine hervorzubringen. Doch die Evolution hat sie hervorgebracht, wir können sie nehmen, kreuzen, neutralisieren, ihre giftigen Eigenschaften ausmerzen, sie domestitzieren.
Tom Ray
Dieser Vorschlag ist emblematisch für den Paradigmawechsel, der KL charakterisiert. Der traditionellen christlichen Sicht folgend, die als Basis für die Ideologie des industriellen Kapitalismus dient, können die Menschen (und insbesondere wir "Westler") die Früchte der Artenvielfalt ernten und sie als Komponenten in die industrielle Maschinerie einspannen.
Im Postindustrialismus machen sich "Alifers" den Mechanismus der Artenvielfalt selbst zu nutze. Ein irgendwie heimtückisches Beispiel dieser Tendenz ist ein japanische Projekt, ein künstliches Gehirn für das Internet zu bauen. Diese Konzeption sieht das Internet als Nervensystem und bezieht sich auf die Evolutionstheorie, um deren Behauptung zu beweisen, daß Nervensysteme entwickelt werden, bevor Gehirne entstehen, so daß es also nur logisch ist, daß das Internet nun ein Gehirn entwickelt. Die zentrale Technik in diesem Forschungsprojekt wird als "Darwin-Maschine" bezeichnet und weist eine mehr als nur schwache Ähnlichkeit mit dem Frankensteinthema auf. Genau wie Dr.Frankenstein versuchen die Entwickler dieser Darwin-Maschine eine quasi-menschliche Maschine zusammenzustöpseln.
Wie die meisten technowissenschaftlichen High-end Projekte vermeiden es Alifers geflissentlich, davon zu sprechen, zu welchen praktischen Anwendungen ihre Forschungsergebnisse genutzt werden könnten. Der Anthropologe Stefan Helmreich hat festgestellt, daß die Alife Gemeinde statistisch gesehen 30 bis 40 Jahre jung ist, weiß, männlich und heterosexuell, agnostisch oder atheistisch mit einem jüdisch-christlichen Hintergrund. Innerhalb dieser Gruppe werden subjektive und mit Werten aufgeladene Annahmen als Axiome verkleidet dargestellt. Als ein Beispiel für derartige Annahmen zitiert Helmreich Tom Ray: "Ich bin allwissend bezüglich der physischen Aspekte der Welten, die ich erschaffe". Helmreich bemerkt, wie ähnlich dies der jüdisch-christlichen Annahme eines allwissenden Schöpfergottes ist. Die von den Wissenschaftlern gewählte Interpretation der Evolutionstheorie unterstützt implizit den Sozialdarwinismus und sogar noch geschmacklosere soziale Modelle wie z.B. Rassismus.
KL umgeht die Aspekte der Zelldynamik, in welcher das Informationelle und das Materielle zutiefst miteinander verstrickt sind und stützt sich auf eine simplifizierende DNA=Algorithmus Verallgemeinerung . KL ist auf die aus den Computerwissenschaften kommende Annahme gegründet, daß der informationelle Inhalt des Lebens von seinem materiellen Substrat getrennt werden kann, ebenso wie man Software von Hardware trennen kann. Das induziert die Annahme, daß moderne Computertechniken den tiefen Strukturen biologischen Lebens strukturell ähnlich sind.
Wir müssen uns im klaren sein, daß das ein rhetorischer Kunstgriff ist, eine Gültigkeitserklärung durch Rückführung auf einen angenommenen Naturzustand. Es ist ein Beispiel unter vielen, wie Computertechnologie als die paradigmatische Technologie unserer Ära dient, um in Begriffen von Jay David Bolter zu sprechen. Die Teilung von "Sache" und "Information" in biologischen Systemen ist eine sehr altmodische und wohlbekannte rhetorische Konstruktion, welche tief im Konzept der Aufklärung verwurzelt ist. Sie dient dazu, weitere solcher überholt geglaubter Dualismen wieder einzuführen, wie Inhalt und Form und nicht zuletzt Geist und Körper.
An anderer Stelle habe ich die Ähnlichkeit der Einstellung zum Körper von St.Augustin und Descartes mit jener der Cyberpunks diskutiert, verkörpert in jener Aussage Gibsons , "der Körper ist Fleisch". [8] Durch solche Beispiele können wir sehen, wie sogenannte "objektive Wissenschaften" durch kulturelle Werte vorbelastet sind und damit dualistische und kolonialistische Ideologien weitertragen. High-Tech Unternehmungen wie KI und "Top-Down"-Robotik verleihen diesen Ideen zusätzliche Gültigkeit mit der ganzen rhetorischen Kraft, die sie daraus beziehen, hochtechnologisch und futuristisch zu sein.
Paradigmasprenger
Wissenschaftliche Ideen haben einen starken Einfluß auf die Entwicklung der westlichen Kultur. In vielen Fällen hat der große Einfluß der "harten" Wissenschaften soziale Wissenschaften und humanistische Disziplinen ermutigt, "wissenschaftlicher" zu werden (und damit per definitionem rigoroser und respektabler), indem sie wissenschaftliche Denk- und Vorgehensweisen übernehmen. Die Relativitäts- und die Quantentheorie sind Beispiele für manch lächerliche Fehlanwendung in populären und sozialen Wissenschaften. Es kann argumentiert werden, daß die modernistische Tradition in der Kunst selbst als eine hochgradig verwissenschaftlichte Weltsicht betrachtet werden kann, indem sie den Ideen von Experiment und Fortschritt eine priviligierte Rolle zuweist.
Wie ich zu Beginn dieses Aufsatzes bereits festgestellt habe, stellen einige der Ideen, die in Zusammenhang mit KL und Komplexitätsforschung aufkommen, eine deutliche Herausforderung an die traditionelle Wissenschaft und den Rahmen der Aufklärung im allgemeinen dar. In manchen Fällen wiederum bestärken sie traditionelle Haltungen.
Die Ideen welche die Chaostheorie gebracht hat: seltsame und chaotische Attraktoren, Bifurkation und Fraktale, und insbesondere die "empfindliche Abhängigkeit von Anfangsbedingungen" enthüllten große, dschungelartige Gebiete von Unvorhersagbarkeit im Herzen der Newtonschen Physik. Das Sprichwort vom "Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonastiefland, der einen Taifun in Indien hervorruft", hat den Status eines Clichés erreicht, doch es unterstreicht die oft unterdrückte Wahrheit, daß die klassische Physik nur mit einem engen Bereich von Phänomenen umgehen kann und den Rest ignoriert.
Fraktale: Die Signifikanz von Fraktalen wird in keiner noch so großen Zahl von computerberechneten Bildern nach der Mandelbrot-Gleichung gefunden werden können, auch nicht in ihren Anwendungen auf computergestützte Simulationen fiktiver Täler, Inseln und Planeten. Fraktale zeigen uns eine Geometrie, die sich der Logik des natürlichen Wachstums annähert: Rekursion, Multiskalierung, unendliche Details mit Ähnlichkeiten auf verschiedenen Ebenen von Größenordnungen; Diese Idee repliziert nicht nur die generativen und rekursiven Geometrien der Biologien, sie verdeutlicht auch die Wurzeln der Euklidischen Geometrie an der Platonischen Abstraktion. Die Geometrie des Euklid, aufgebaut auf unendlich dünnen Linien und unendlich kleinen Punkten, ist vom Geist der intellektuelen Abstraktion durchdrungen und von der Existenz eines "Ideals" voreingenommen. Newtons Mechanik ist vom Glauben an die selbe Art von Ideal beherrscht.
Entropie und Selbstorganisation: Seit der Mitte des 19. Jhdts. hatte das Zweite Gesetz der Thermodynamik die westliche Kultur fest in ihrem Nihilismus induzierenden Griff. Das allein zeigt schon, wie stark der Einfluß der Wissenschaft und insbesondere der Physik auf die westliche Kultur in den vergangenen hundert Jahren war. Seltsam, denn experimentell wurde nachgewiesen, daß Leben nicht-entropisch ist. Neue wissenschaftliche Forschung in Form von Ideen von Selbstorganisation und emergenter Ordnung hat diese intuitive Einsicht bestätigt und uns vom resignativem Geist des Zweiten Thermodynamischen Hauptsatzes befreit. Das heißt nicht, daß dieser nicht mehr gültig wäre, doch es zeigt, daß die Ausweitung auf die Erforschung des Lebens und die Humanwissenschaften ein Mißgriff war. Wie Beckers, Holland and Deneubourg überzeugend demonstriert haben, führt zufälliges Verhalten einfacher Tiere oder Maschinen zu nicht-entropischen Ergebnissen .
Emergenz und Reduktionismus: Die wahrscheinlich weitreichendste Implikation von Selbstorganisation und emergenter Ordnung in komplexen Systemen ist die Absage an die gesamte Methodik des Reduktionismus. Der Reduktionismus ist ein Meilenstein der wissenschaftlichen Methode. Er ist auf die Annahme gegründet, daß man, um ein komplexes Objekt zu verstehen, dieses in Teile aufspalten muß und diese Komponenten in überschaubaren Versuchsanordnungen studieren, und schließlich die Resultate dieser Beobachtungen wieder additiv zusammenführen muß. Das Grundprinzip der Emergenz hingegen ist, daß Organisation (Verhalten/Ordnung/Bedeutung) aus einer Agglomeration kleiner Komponenten entstehen kann, welche diese Charakteristiken nicht notwendigerweise selbst haben. Emergente Ordnung impliziert, daß das Ganze in der Tat mehr als die Summe seiner Teile ist, daß höherwertiges Verhalten nicht in Komponenten kleinerer Einheiten zerlegt werden kann. Einfache Beispiele sind die Schaffung von "Geist" aus einzelnen Neuronen oder das komplexe Verhalten von Insektenkolonien. Wie De Landa sagt: "Die Straße zum Reduktionismus ist nun für immer blockiert. Wenn die Eigenschaften von Materie und Energie auf jedem vorhandenen Organisationsgrad nicht von den Eigenschaften der darunterliegenden Ebenen abgeleitet werden können, dann folgt daraus, daß Biologie niemals auf Physik reduziert werden kann, und Anthropologie niemals auf Biologie". Oder, möchte man anfügen, Psychologie niemals auf Physiologie.
Das "Top-Down" Paradigma der KI hat in den letzten Jahren seinen angemessenen Anteil an Schlägen empfangen. Einer, der am lautesten diese Pfeife geblasen hat, war Hubert Dreyfus , der sich auf dieses Paradigma als 'good old fashioned artificial intelligence' oder GOFAL bezieht. Ihr Unvermögen mit Realweltphänomenen umzugehen, die keine formal gebundenen Bereiche darstellen, hat zur Entwicklung der Brooksianischen Subsumptions-Architektur geführt, zum gesamten "Bottom-Up" Trend und zur Auslotung emergenter Ordnungen. In diesem neuen Trend liegt auch eine substantielle politische Kraft, da KL sich hierarchischen Machtstrukturen widersetzt. Das "Top-Down" Paradigma andrerseits repliziert genau jene traditionellen Konstruktionen von Herrschern und Dienern, Bossen und Arbeitern, und, abstrakter, Körper/Geist, Form/Inhalt, Hardware/Software. Verteiltes und Paralleles Computing, Konnektionismus und Subsumption laufen alle darauf hinaus, den Cartesianischen Dualismus als nützliche analytische Idee ad acta zu legen.
Ein anderes technowissenschaftliches Paradigma wird von Claude Shannons Kommunikationstheorie gebildet. Übertragen auf die Humanwissenschaften und im besonderen auf die telematischen Kunstformen wird offenkundig, daß dieses technologisch gültige Paradigma die Frage der Interpretation in der Kommunikation komplett ignoriert. Horst Hendriks Jansen hat in seinen Gedanken zur situationsbezogenen Robotik und zu dem, was er als interaktive Emergenz bezeichnet, argumentiert, daß die Methoden der Ethnologie, welche die Notwendigkeit der Beobachtung unter normalen Umweltbedingungen unterstreichen zum Unterschied von der reduktionistischen Methode des Experiments in kontrollierten Studiobedingungen, neue Einsichten in die Komplexität menschlicher Interaktion bieten. Verschiedene seiner Beispiele aus der frühkindlichen Psychologie zeigen, daß Handlungen kleiner Kinder von Erwachsenen als absichtsvoll interpretiert werden. Damit wird das Kind in Bedeutung "verstrickt". [15] Die Signifikanz eines derartigen Austauschs ist die, daß Botschaften empfangen werden, die nie ausgesendet wurden. Derartige Beispiele aus der Realwelt suggerieren, daß uns ShannonŽs Kommunikationstheorie, bezogen auf menschliche Kommunikation, sehr wenig zu sagen hat.
Zusammenfassung
Neue wissenschaftliche Ideen haben einen enormen Einfluß auf unser Wertesystem und unsere Weltsicht. Neue Technologien sind fast immer in eine neue utopische Rhetorik eingebettet. Jede Technologie, die als "befreierisch" in die Welt hinausposaunt wird, sollte besonders sorgfältig untersucht werden. Historisch waren es oft diese Technologien, die sich äußerst unterdrückend ausgewirkt haben. Wir sollten aufpassen, die in den Technologien versteckt eingeschriebenen Ideologien, die sich als objektiv-wissenschaftliche Axiome darstellen, nicht noch unbewußt zu verstärken.