Die Enthüllungen des Claudio G.

Seite 2: Ein paar Missverständnisse

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Nach einer kurzen Weile häuften sich die Meinungen, dass Gatti einen typisch männlichen Gewaltakt gegen eine Frau begangen habe - die ganze Aufdeckung sei also Sexismus in Reinform. Sexistisch sind vielmehr gerade diese Journalistenurteile, welche die Veröffentlichung Gattis sogar in die explizite Nähe einer Vergewaltigung rücken. Mit diesem Bild spielt auch der Titel "Nein heißt Nein" eines sonst sehr lesenswerten Artikels in der Zeit.

Solche Artikel erzeugen erst das Bild einer hilflosen und schützenswerten Frau, der ein Mann nun die Verkleidung vom Leib gerissen habe. Dabei ist das Geschlecht hierbei völlig egal, und wenn schon unbedingt von einer Vergewaltigung gesprochen werden soll, dann von einer im metaphorischen Sinne als Verletzung der Privat- bzw. Intimsphäre. Gatti - darin muss man ihn verteidigen - war das Geschlecht der Autorin vermutlich sogar völlig gleichgültig.

Enttarnt wurde nicht Elena Ferrante, enttarnt wurde ein System von Kritik, das ein Problem mit hocherfolgreichen Frauen hat, die sich nicht inszenieren wollen und den Hemingway-Mythos des schreibenden Stars verweigern. Dahinter steckt nicht Sexismus, sondern ein grundsätzliches Unverständnis für die Literatur selbst.

Die Welt

Ersetzte man das Frauen durch Menschen, ergäbe der Kommentar aus der Welt erstens Sinn und zweitens könnte man ihm sogar vollkommen zustimmen.

Auch die gehäuft vorkommende Meinung, es handle sich bei Gatti um einen ordinären "Stalker" würde treffend sein, wenn man dazu bemerkte, dass er wie alle Investigativjournalisten ein "berufsmäßiger" ist, der maßgeblich motiviert wurde durch "das gleiche Adrenalin, das im investigativen Journalismus immer fließt, sobald man etwas herausgefunden hat" (SZ).

Auch in der Welt wird gemutmaßt, die Veröffentlichung folge einem "Gesetz menschlicher Neugier". Voyeuristisch ist es allemal - doch gilt die Kritik vor allem jenen Blättern, die die Recherche unterstützen und schließlich veröffentlichten. Insbesondere von der Frankfurter Allgemeinen - die Houellebecq anlässlich der Verleihung des hauseigenen Preises zu Recht als hiesiges "Referenzblatt […] im Besitz echter intellektueller Autorität über das gesamte Mediensystem" bezeichnete - hätte man durchaus eine freundliche, doch energische Absage erwartet.

Zum Glück leben wir in Zeiten, in denen Frauen, deren Pseudonym aufgedeckt wird, keine Repressalien oder Nachteile mehr zu befürchten haben.

SZ

Auch hier verkennt der Fokus auf die Frau, dass man als ganz individueller Mensch durchaus Nachteile zu befürchten hat, und sei es nur, dass einem unbezahlte Stalker auf die Pelle rücken. Gerne wird vergessen, dass Schriftsteller nun einmal nicht mit ihrem Gesicht ihr Geld verdienen, dass ihnen also die prinzipielle Möglichkeit anonym zu bleiben nicht schon durch ihre Tätigkeit selbst verstellt ist.

Ferrante hat geradezu darum gebettelt, unerkannt zu bleiben, und sich dafür das eine oder andere Mal förmlich erniedrigt. Unter verschiedenen Aspekten des Anstands und eines erwachsenen, zivilisierten Umgangs betrachtet, wäre die Enthüllung, selbst wenn sie sich als wahr herausstellen sollte, als eine Ente bzw. als ein Grubenhund und die Veröffentlichung wahrlich nicht als Ruhmestat zu betrachten.

In dubio pro incognito wäre im Rahmen eines redaktionellen Ermessensspielraumes die angebrachte Entscheidung gewesen, da sie das Eigenwohl eines Individuums gegen die absurden Ansprüche einer Gemeinschaft in Stellung gebracht hätte. Justiziabel dürfte die Enthüllung bei allem moralischen Unbehagen jedoch nicht sein.

Was bleibt, ist ein äußerst zweifelhaftes "öffentliches Interesse". Der momentan immer wieder angestrebte Vergleich mit J.K. Rowlings verbietet sich hierbei jedoch. Zum einen war es bei dieser mit der Anonymität eh längst vorbei, denn jene ist dermaßen brüchig, dass sie einmal verspielt schlichtweg verloren ist.

Zum anderen wollte Rowling die Qualität des neuen Werkes für sich sprechen lassen und scheiterte grandios. Auch dass sie sich den Männernamen Robert Galbraith zulegte, hatte anscheinend keine große Wirkung. Bis ihr Pseudonym gelüftet wurde, verkauften sich gerade einmal 1.500 Exemplare.

Das unterscheidet sie auch deutlich von zum Beispiel Stephen King, der auch unter dem Pseudonym Richard Bachman durchaus erfolgreich veröffentlichte. Er wurde damals von einem energischen Buchhändler enttarnt, worauf er Bachman an "Pseudonymkrebs" sterben ließ und begrub. Dass er ihn später wieder auferstehen ließ und Manuskripte aus seinem Nachlass veröffentlichte, kann ihm als verdientes Spiel durchaus nachgesehen werden.

Auch jene, die meinen, dass die Magie nun dahin wäre und dies mit dem entlarvten Weihnachtsmann ihrer Kindertage vergleichen, können nicht gleichzeitig behaupten:

Das Einzige, was für ihre Literatur sprach, war der Text und nichts anderes.

Tagesspiegel

Denn ihre Lust bestand scheinbar nur am Mythos, an der Möglichkeit, alles mögliche auf die Autorin zu projizieren. Eventuell zeigt sich jetzt die Qualität der Werke in einem etwas deutlicheren Licht, und die Fankultur, die sich um den Hashtag #ferrantefever aufgebaut hat, flaut etwas ab.

Das Einzige, das man der Autorin persönlich nur wünschen könnte, ist, dass sich ihre Bücher noch besser verkaufen als bisher, so dass sie zumindest finanziell etwas aus dieser Affäre schlägt. Ihre Antwort in einem Gespräch mit dem Spiegel auf die Frage, ob sie ihre Enttarnung fürchten würde, lässt leider etwas anderes vermuten:

Nein, nicht im Geringsten. Ich würde einfach aufhören zu publizieren.

Die Bedeutung der Privatsphäre für das eigene Schaffen haben zahlreiche, auch männliche, Kollegen wie Salinger oder Süskind, die nicht unter einem Pseudonym veröffentlichten, immer wieder betont. Claudio Gattis Verdienst wie auch das der veröffentlichenden Medien könnte also durchaus darin bestehen, dass sie gemeinsam eine mehr als passable Autorin beerdigt haben, weil sie es schlichtweg nicht unterlassen konnten, dem "Gesetz menschlicher Neugier" zu folgen.

Worüber ihre Übersetzerin Karin Krieger stellvertretend klagte: "Es wäre ein gewaltiger Verlust für die Literatur. Ich will mir das gar nicht vorstellen."

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