"Die Gewalt geht vom Regime aus"
Syrien: Warum Baschar al-Assad nicht der einzige Entscheidungsträger in der Diktatur ist, die Einmischung des Auslands und warum immer mehr Syrer aufwachen
Syriens Regime schlägt mit irrsinniger Brutalität zu. Heckenschützen in Zivilkleidung schießen wahllos auf Demonstranten - und sogar auf Trauerzüge, die lediglich ihre Angehörigen zu Grabe tragen wollen. Wie ist die Lage in dem Land einzuschätzen, das keine Journalisten einreisen läßt und sich in nordkoreanischer Manier isoliert? Telepolis sprach mit dem in London lebenden Oppositionellen Ausama Monajed, der als einer der Führer der Aktivistennetzwerke im Ausland gilt.
Herr Monajed, Präsident Baschar al-Assad hat das seit 48 Jahren gültige Notstandgesetz vergangenen Mittwoch aufgehoben und weitere Reformen angekündigt - um dann weiter mit Härte gegen Demonstranten vorzugehen. Erwarten Sie noch etwas in puncto Reform von dem Regime?
Ausama Monajed: Nein. Das blutige Durchgreifen des Regimes am Freitag, das syrischen Menschenrechtsorganisationen zufolge 112 Menschenleben kostete, untermauert dies. Doch schon vorher war klar: Die Syrer pfeifen auf diese Reformen, weil diese keine sind. Er hat noch an dem Tag, an dem er mit großer Geste das Notstandgesetz aufgehoben hat - das aller Wahrscheinlichkeit nach unter einem anderen Etikett, nämlich dem der "Bekämpfung des Terrorismus", fortgeführt wird -, das Dekret 55 erlassen, das erlaubt, Menschen, die "des Verbrechens" verdächtigt werden, bis zu 60 Tagen zu inhaftieren.
Baschar al-Assad ist nicht der einzige Entscheidungsträger
Al-Assad wählte bislang die Zuckerbrot-und-Peitsche-Strategie. In seiner letzten Rede sprach er von der "Würde", die den Bürgern zusteht. Ebenso feuerte er den Polizeichef von Banias, der zumindest Mitverantwortung dafür trägt, was im Nachbarort Al-Baida geschah, wo die Schabbiha, die Link auf blogs/8/149654, die Demonstranten erniedrigten und quälten. Wie erklären Sie sich das Hin und Her des Regimes?
Ausama Monajed: Baschar al-Assad ist nicht, wie einst sein Vater Hafez, der alleinige Entscheidungsträger. Er benötigt seine diversen Berater, angefangen von seinem Schwager Assef Schaukat bis hin zu hohen alawitischen Armeegenerälen oder Butheina Shabaan, seiner Medienberaterin, die seit ihrem 16. Lebensjahr der Baath-Partei angehört und schon unter seinem Vater diente - sie ist diesem Regime völlig ergeben. In jedem Fall: Was immer sie alle Baschar nahelegen, favorisiert die Sicherheit der Diktatur, nicht die des Volkes. Selbst Maßnahmen im Gesundheitsbereich unterliegen dieser Art der Denke. Oberste Priorität für sie bleibt das Fortbestehen der Diktatur.
Einmischung vom Ausland. Vorwürfe von beiden Lagern
Die Schabbiha beschuldigt Gruppierungen im benachbarten Ausland, Waffen ins Land zu schmuggeln. Laut staatlichen Meldungen sollen ein mit Waffen beladener Laster an der Grenze zwischen Irak und Syrien jüngst gestoppt und Verbindungen zwischen bewaffneten Gruppierungen und einem libanesischen Mitglied der Partei Saad al-Hariris entdeckt worden sein
Ausama Monajed: Regimepropaganda! Die syrischen Demonstranten werfen nicht einmal dann Steine, wenn auf sie Feuer eröffnet wird. Schließlich kennen sie die Karten, die das Regime nicht zuletzt dem Ausland gegenüber ausspielt und versuchem dem mit ihrem Verhalten und ihren Sprechchören - "Salmiyeh, salmiyeh" ("Friedlich, friedlich") - entgegenzuwirken. Selbst im Kugelhagel rufen sie nachweislich noch "Salmiyeh".
Wir wissen hingegen aus zuverlässigen Quellen, dass Iran das Regime bei der versuchten Niederschlagung der Aufstände unterstützt - nicht durch eigene Präsenz von Milizen auf syrischem Boden, wohl aber durch die Beratung bei Taktiken. Was die Erschießung, ja regelrechte Hinrichtung von Armeeangehörigen angeht, so deutet alles darauf hin, dass sich diese weigerten, das Feuer auf die Demonstranten zu eröffnen und deshalb von den Schabbiha oder vom Geheimdienst, die beide noch gefürchteter sind als die Armee, getötet wurden.
Syriens Armee ist - im Gegensatz zu der Tunesiens oder Ägyptens - als weitgehend regimeloyal einzuschätzen.
Ausama Monajed: Leider besteht sie, ebenso wie der Geheimdienst, überwiegend aus Alawiten, also aus Angehörigen derselben Konfession wie das Assad-Regime. Ich möchte hier aber ausdrücklich davor warnen, Syriens Alawiten über einen Kamm zu scheren und alle als Assad-Anhänger einzustufen. Sehr viele von ihnen sind erbitterte Regimekritiker und wurden mit Haft und Folter dafür bitter bestraft.
Vor sechs Wochen noch versammelten sich gerade einmal 20 schüchterne Studenten in Damaskus..
Ist dies ein Grund, weshalb der syrische Aufstand im Unterschied zum tunesischen, ägyptischen oder jemenitischen noch keine Millionen auf die Strasse brachte?
Ausama Monajed: Ich denke, ja. Syrien ist die wohl repressivste Diktatur im Nahen Osten. Das Land zählt zirka 22 Millionen Einwohner und an die 2,3 Millionen sollen dem Geheimdienst angehören - weit mehr als es im 80 Millionen Einwohner starken Ägypten der Fall war. Zu welchen Härten Geheimdienst und Armee imstande sind, wissen die Syrer seit Jahrzehnten - nur dem Ausland scheint dies in seiner vollen Bandbreite neu zu sein.
Doch die Syrer sind nicht nur deshalb verunsichert. Viele haben leider auch die jahrzehntelangen Drohungen des Regimes - "Entweder wir oder Bürgerkrieg" - verinnerlicht. Gegenwärtig warten noch viele ab. Die Proteste zeichnen sich durch Friedlichkeit und Solidarität aus. In keinem einzigen Ort ertönte eine Drohung gegenüber den Minderheiten. Im Gegenteil: immer wieder hieß es: "Eins, eins, eins. Das syrische Volk ist eins."
Doch je mehr die Lage eskaliert, je mehr Menschen umkommen, desto mehr Menschen werden sich anschließen. Bedenken Sie: Vor sechs Wochen noch versammelten sich gerade einmal 20 schüchterne Studenten in Damaskus vor den Botschaften Ägyptens oder Libyens, um in Solidarität zu ihren protestierenden Nachbarvölkern Kerzen anzuzünden. An diesem Wochenende gingen in Syrien Hunderttausende auf die Strassen und dies unter Einsatz ihres Lebens. Kein Experte wagte diese Dynamik vorauszusehen.
Wer geht eigentlich in Syrien auf die Straßen? In Tunesien war von einer Elendsrevolution die Rede. Kann man ähnliches von Syrien behaupten?
Ausama Monajed: Nein, es sind auch viele Vertreter der Mittelschicht darunter. Ich weiß dies, weil es vielfach meine Freunde und Bekannten sind und ich mit ihnen in täglichem Kontakt stehe. Sie gehören einer besser bis gut situierten Schicht an, sind jung, gut ausgebildet, sprechen Fremdsprachen und haben die Mittel zu verreisen. Doch, ebenso wie die Armen und Unterprivilegierten, wollen auch sie in Freiheit und Würde leben.
Grundsätzlich besteht Syriens Gesellschaft aus einem Mosaik an Ethnien, Konfessionen und sozialen Schichten wie kaum ein anderes arabisches Land.
Auch die Mittelschicht protestiert
Der Libanon wäre diesbezüglich vergleichbar. Manche behaupten auch, den Syrern fehle, ähnlich wie den Libanesen, ein nationales Identitätsgefühl.
Ausama Monajed: Auf Syrien bezogen: Was erwarten Sie nach einem halben Jahrhundert Despotie? Aber es ist doch beachtlich, dass die jungen Protestierenden, die unter einer Diktatur geboren wurden, die sie wie Marionetten behandelt und in ihnen keinerlei Gefühl für Selbst- und Fremdverantwortung reifen lässt, trotz größter Lebensgefahr ausgesprochen besonnen vorgehen. Das Chaos im Land wird durch die Schlägermilizen des Regimes ausgelöst. Die Jungen drehen dabei weder durch, noch lassen sie sich einschüchtern, sondern sind am nächsten Tag wieder auf den Strassen. Sobald ihnen bewusst wird, was sie gegenwärtig für ihre Nation leisten, werden sie auch endlich einmal stolz sagen: "Ich bin Syrer."
Der Exilsyrer Ausama Monajed (auf Twitter) ist Absolvent der Wirtschaftswissenschaften und arbeitete unter anderem als ökonomischer Berater für die European Commission, aber auch für die UNDP. Seit 2004 lebt der 31-Jährige in London, ist der Pressesprecher des "Movement for Justice and Development in Syria" und hilft gegenwärtig mit, die Aufstände in Syrien zu koordinieren.