Die Gletscher der Antarktis folgen den Gezeiten

Kein Abbau der Eiskruste?

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Gletscher kalben, heißt es, und das führt zum Wasser am Fuße eines Gletschers, das sich wiederum zum klaren Gebirgsbach sammelt. Der Sommer 2003 wird in die Annalen der europäischen Geschichte eingehen als der Sommer mit dem erschreckenden Verlust an Gletschereis. Nicht so in der Antarktis. Auch hier gibt es Gletscher, die allerdings direkt in das Meer kalben. Frühere Beobachtungen über Eisberge und mächtige Eisschollen ließen den zunehmenden Abbau der Gletscher und der Eiskruste vermuten.

Teil des Whillans Ice Stream (Bild: Byrd Polar Research Center, Ohio State University)

"Das Verhalten in der Antarktis wurde irrtümlicherweise analog zu den Verhältnissen an Alpengletschern beurteilt. Hier hingegen reichen die Gletscher ins Meer hinaus. Was mich immer schon faszinierte, war, dass eine Eisscholle, die mit 6 Metern pro Stunde dahinzieht, innerhalb einer Minute zum Stillstand kommt. Manchmal kann ein Slip registriert werden, der mit 88 Metern pro Sekunde abläuft. Dieses Phänomen lässt sich nur über die Einwirkung einer Transversalwelle erklären", erzählt Sridhar Anandakrishnan über seine Beobachtungen am westantarktischen Eisschild (West Antarctic Ice Sheet). Der Geologe von der Pennsylvania State University gehört zur Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert A. Bindschadler vom NASA Goddard Space Flight Center in Greenbelt, Maryland. Seine Vermutung, wonach das Kalben vom Meer geregelt sein könnte, hat sich nun bewahrheitet.

Systematische Untersuchungen, in Science vorgestellt, bestätigen die Abhängigkeit des stick-slip Phänomens vom Rhythmus der Gezeiten. Das Ruckgleiten entsteht aus dem Wechselspiel zwischen Haft- und Gleitreibung, sobald sich eine Eisscholle unter die Eisdecke schiebt, oder sich zwei Eisschichten gegeneinander reiben.

Felduntersuchungen mit GPS (Global Positioning System) zeigen in der Übersicht, dass zwischen 6 und 18 Stunden über jeweils 10-30 Minuten Bewegungen auftreten, die das Eis im Ice Stream bis zu einem Meter pro Stunde vorwärtstreiben.

Dazu muss man wissen, dass es an der Westantarktis im Tagesverlauf zu einer hohen und 12 Stunden später zur deutlich niedrigeren Flut kommt. Im Verlauf von 28 Tagen entstehen zweimal Springfluten bis 2 Meter Höhe, während die niedrigen Fluten den Wasserspiegel auf weniger als 0,5 Meter anheben. Die ruckartige Eisbewegung erscheint nach 18 Stunden und dann nach 6 Stunden. Der erste Slip erfolgt kurz vor der hohen Flut, der zweite, sobald die niedrige Flut zurückgeht, aber noch nicht die Ebbe erreicht hat. Die Analyse von paarweisen und enger gestellten Messorten führt nun zu einem differenten Bild. "In Wirklichkeit bewegt sich der obere Teil des Eisstroms kontinuierlich. Was wir als Stop-und-Go vermuten, entsteht durch die Flut. Sie drückt die Eisschicht nach oben und erzeugt damit stromaufwärts Druck. Irgendwo in der Mitte bleibt der Druck hängen. Wahrscheinlich wirkt er sich dort nach unten auf das Bett aus, womit der Strom vorwärts gleitet und dann stoppt", deutet Sridhar Anandakrishnan den Ablauf. Während also Springfluten den wellenartigen Verlauf ausmodellieren, erzeugen die schwachen Fluten geringere periodische Veränderungen.

"Wir sind überrascht, dass ein Meter Gezeitenunterschied den Eisfluss zum Stehen bringt und dann innerhalb einer Minute wieder in volle Bewegung überführt. Das unterstreicht die Empfindlichkeit des Systems auf überaus geringe Kräfte", erklärt Robert A.Bindschadler. Aus vergleichenden Modellbetrachtungen schließen die Wissenschaftler auf das unterschiedliche Verhalten der Eisschichten, dessen Konsistenz zwischen (pseudo)viskös bis zu plastisch eingeschätzt wird. Genaueres will man in weiteren Untersuchungen herausfinden.

Übersicht über das Siple Dome Areal mit Ice Stream C und D (Bild: University of Washington)

Der größte Teil der Antarktis ist mit einer Eisdecke von mehr als 1000 m Dicke überzogen und macht 90 Prozent des irdischen Eises aus. In den 90er Jahren kam die Befürchtung auf, infolge der Globalen Erwärmung werde das Eis schmelzen und in absehbarer Zeit den Meeresspiegel um 5-6 Meter ansteigen lassen. Auf der Jahrestagung der American Geophysical Union im Jahre 2000, der ein Workshop unter Leitung von Robert A. Bindschadle vorausging, wurde die Befürchtung verworfen. Untersuchungen am Siple Dome, einer 50 x 80 Kilometer großen Erhebung nahe dem Ross Ice Shelf erlauben Rekonstruktionen über die Eisbildung und den Eisverlust über mehr als 800.000 Jahre sowie über den Ablauf seit der letzten Eiszeit. Danach war die Eisdicke niemals so mächtig wie anfänglich vermutet. Ergänzend dokumentieren regelmäßige Messungen aus New York, dass der Meeresspiegel seit 1920 um 0,25 m angestiegen ist, was einer durchschnittlichen Zunahme von 3 mm pro Jahr entspricht.

Robert A. Bindschadler und Kollegen fokussieren auf den Whillans Ice Stream, früher Ice Stream B, bevor er zu Ehren von Ian Whillans umbenannt wurde. Benachbart sind die Ströme C und D, die nach den ersten orientierenden Untersuchungen der Wissenschaftler ebenfalls gezeitenabhängige Veränderungen aufweisen, die allerdings deutlich gedämpft sind. Ice Stream C fließt so behäbig, dass mittels GPS keine exakte Bewegung registriert werden kann. Im Falle des Whillans Ice Stream gehen jährlich 1-2 Prozent des Gletschereises verloren; allerdings mit abnehmender Tendenz. Die Antarktisforscher gehen davon aus, dass es anders als am Nordpol zur weiteren Abkühlung kommt. Eine befriedigende Erklärung für dieses Phänomen ist noch nicht in Sicht.