Die Grammatik der Architektur
Warum man mit neuer Entdeckerlust auf die "Großväter der Moderne" schauen sollte
Wahrheit, so formulierte es der große Wissenschaftsphilosoph Karl Popper einmal, Wahrheit sei nur selten zu haben, meist nur mehr oder weniger große Wahrheitsähnlichkeit. Was wäre also das Echte und Gewisse in der Architektur? Gemeinhin bildet die "Klassische Moderne" noch immer den zentralen Referenzpunkt - im Positiven wie im Negativen. Rund hundert Jahre nach dem legendären und publizistisch-propagandistisch flankierten Aufbruch beruft sich das Metier - nicht zuletzt aus Gründen der Selbstvergewisserung - auf die big names, die Apologeten der Moderne wie Sigfried Giedion und Jürgen Joedicke kanonisiert haben: Vorzugsweise auf Le Corbusier, Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright (deutlich weniger schon auf Walter Gropius). Dies allerdings ist längst zu einem Ritual geworden, und weniger ein Anlass für neuerliche, kritische Reflektion.
Zudem liegt oft eine große Portion an Übertreibung in der Art und Weise, wie heutige Architekten sich auf die "Klassische Moderne" beziehen. Zwar legen sie eine ausgesprochene Präferenz für Transparenz und Offenheit an den Tag und tendieren stets dazu, sich für klare Linien, offene Wohnkonzepte oder orthogonale Raster zu entscheiden. So lernten sie es ja auch von jenen Heroen, die vor fast hundert Jahren vollmundig verkündeten, dass sie den Raum neu erfinden, als fließenden Raum, als Schnittpunkt von Energieströmen. Aber irgendwie beschleicht einen der Verdacht, dass man damit nicht mehr so recht weiter kommt.
Aus heutiger Perspektive scheint es eher so, dass die Moderne, die dem Ornament und der Vergangenheit entsagte sowie der Technologie huldigte, in der Nachkriegszeit zum Markt wurde. Und dass ihre - wie auch immer anspruchsvolle - Utopie sich in einen bloßen Stil wandelte. Dieser war (und ist) abstrakt, linear, geometrisch. Und ein Haus sollte nicht wie ein herkömmliches Haus aussehen, sondern - wie ein Flugzeug, ein Auto oder ein Ozeandampfer - aus industriellen Formen und Materialien bestehen. Kein Wunder, wenn die Moderneklischees nun "bauhauskühl" und "kistig-rational" lauten.
Fraglos befinden wir uns in der Sackgasse einer zu eindimensionaler Interpretation, wie der leidenschaftlich ausgetragene, doch unfruchtbare Streit "Moderne" versus "Tradition" enthüllt. Als der Bund Deutscher Architekten (BDA) sich 2008 in der bayerischen Hauptstadt zu einem Festakt traf, hat ihn der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude mit einem verblüffenden Statement konfrontiert: "Fragen Sie sich doch selbst, wo Sie am liebsten wohnen!", forderte er die Baumeister auf. Er wisse sehr gut, mit wie viel Schläue und Raffinesse sich die hypermodernsten Entwerfer für ihre private Existenz die schönsten Jugendstilwohnungen zu sichern wüssten. Auch er selbst wohne in einer schicken Altbauwohnung und bekomme als Stadtoberhaupt "waschkörbeweise Briefe" von Leuten, die ein Gründerzeithaus mitten in der Stadt suchten, mit hohen Räumen, Erkern, Stuck und Dielenfußböden. "Warum werden diese elementaren Bedürfnisse nicht befriedigt?" Auf sibyllinische Art spielte Ude damit auf einen Lagerkampf an, der selbst vor persönlichen Verunglimpfungen und Diskriminierungen nicht zurückschreckt. Dieses vehemente Gegeneinander findet übrigens eine Entsprechung auf urbanistischer Ebene, wie die Diskussionen um die Rekonstruktion von überlieferten Stadtbildern etwa in Dresden, Frankfurt am Main, Potsdam, Nürnberg und Berlin zeigen. (Wobei in den harmonischen Vorstellungen geschlossener Stadtbilder ja tatsächlich oft ein antimoderner Reflex seinen Ausdruck findet.)
Dass "die Architektur nach dem Scheitern ihrer Moderne an der Bevölkerung wieder ihre ureigenen Mittel und Instrumente rekonstruieren, also wieder besser, gestaltreicher, greifbarer und augengefälliger bauen" muss, fordert ja nicht nur der Publizist Gerwin Zohlen. Wenn man ernsthaft und profund eine (Weiter-) Entwicklung der Architektur betreiben will, dann müßte man die Aufmerksamkeit nochmals auf die zwar geläufigen, aber letztlich unbekannten oder verschütteten Wurzeln der Entwicklung der Moderne lenken. Vielleicht führt der Weg zurück an die Ursprünge zu einer modifizierten Sicht, einem Neuansatz für unser Verständnis von Architektur und von Stadt, das frei ist von den Zuspitzungen und Verschleifungen, Tarnungen und verwischten Spuren, die den take-off der Moderne kennzeichnen. Vielleicht hilft ein frischer Blick auf die Ideen etwa von Gottfried Semper oder Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, auf Louis Sullivan und Hermann Muthesius, auf die seinerzeit verehrten, heute fast unverstandenen Bauten Paul Wallots, Alfred Messels und Hendrik Petrus Berlages. Sie alle gelten - der eine mehr, der andere weniger - als Inbegriffe einer an der Geschichte - und an "Geschichtlichkeit" - orientierten Baukunst, deren Beitrag zur Genese einer vermeintlich geschichtslosen Moderne bis auf wenige Allgemeinplätze inzwischen verschüttet scheint.
Freilich ist per se nicht klar auszumachen, was "die Moderne" eigentlich ist. Zwar wird sie häufig als Verkörperung des Anspruchs gelesen, Konstruktion und Technik zum Maß aller Dinge zu machen, ja alle Ästhetik auf sie rückzubeziehen. Aber eine einhellige Position vermochten auch die wichtigsten Interpreten - exemplarisch seien hier nur Henry-Russell Hitchcock, Leonardo Benevolo, Lewis Mumford, Manfredo Tafuri und Kenneth Frampton genannt - letztlich nicht zu bestimmen. So hat etwa Reyner Banham zwei zentrale Wurzelstränge ausgemacht: Zum einen das auf die englische Arts-and-Crafts-Bewegung zurückgehende soziale Interesse, zum anderen die der französischen rationalistischen Tradition entstammende Vorliebe für das Konstruktive. Joseph Rykwert hingegen glaubt die Initialzündung der Moderne in jener Kritik zu entdecken, die im späten 17. Jahrhundert der französische Arzt und Architekt Claude Perrault an den Regeln der Proportion übte: Als Elemente einer bloß "willkürlichen Schönheit". Bereits der Blick auf diese zwei Beispiele verdeutlicht, wie unübersichtlich Anfänge, Inspirationen und Ursachen tatsächlich sein können. Zudem muss man eine eigentümliche Wechselwirkung konstatieren: Im 19. Jahrhundert hatte die gesellschaftliche Wirklichkeit sich weitgehend an den Architekten vorbei konkretisiert, weil diese sich als bloße Spezialisten verhielten und ihre berufsethische Frage - von Heinrich Hübsch 1828 mit dem Buch "In welchem Style sollen wir bauen?" programmatisch formuliert - ernst nahmen. Die Utopisten indessen, ob nun Owen, Fourier oder Morris, haben sich komplementär dazu sozialen, menschlichen und religiösen Fragen zugewandt. Bei den Quellen der Moderne darf man folglich mit Gilles Deleuze und Félix Guattari von einem Rhizom sprechen: ein vielwurzelig verflochtenes System, das zwar an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden kann, aber entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter wuchert.
"Wo stehen wir?" So lautete der Titel eines Vortrags, den Hermann Muthesius 1911 beim Werkbund hielt. Um die Frage auf unsere Situation exakt ein Jahrhundert später zu beziehen: Geht es um jene moderne Versprechung der Form, die Muthesius als "höhere Architektonik" bezeichnete, "die zu erzeugen ein Geheimnis des menschlichen Geistes ist, wie dessen poetische und religiöse Vorstellungen"? Oder steht etwas anderes im Vordergrund - ein Interpretationszusammenhang der Welt, der eher mit einem Begriff wie "Kultur" zu fassen wäre? Unberechtigt scheinen solche Fragen ja schon deshalb nicht, weil Architektur stets auch als Metapher für die theoretischen Konstrukte der Geistesgeschichte diente. Man blicke nur auf die Metaphysik mit ihren kosmologischen Weltentwürfen: Von der Antike bis zu Descartes und Leibniz ist der intellektuelle Systembau stets in Analogie zur Konstruktion eines vollkommenen Gebäudes gesehen worden. Umgekehrt wurde die Baukunst auf der Grundlage kosmologischer Ordnungssysteme wie Maß und Zahl eben als Ausdruck jener metaphysischen Gedankengebäude interpretiert.
Doch suggeriert dies eine überzeitliche Bedeutung, die kaum je gegeben war. Nicht zu Unrecht hat Werner Oechslin der Moderne vorgehalten, dass sie "den Anspruch auf das einmalig Neue und Zeitgemäße, wie auf das Klassische und Ewiggültige im gleichen Moment, ja im gleichen Atemzug aussprechen" konnte. Jene Kluft zwischen Historizität und Zeitlosigkeit, die sowohl die Architektur als auch die Diskussion über sie bestimmt, sei im damaligen Aufbruch selbst angelegt. Und eben diese Doppelgesichtigkeit mache es auch so schwierig, mehr zu leisten als die Aufarbeitung einzelner Werke.
Daneben aber gibt es eine zweite, gleichsam eingebaute Ambivalenz, weil "das architektonische Entwerfen zu einer eigenartigen Mischung aus Konservatismus und Kreativität verdammt ist. Das Entwerfen ist konservativ in dem Sinn, dass es auf Lösungen zurückgreift, die sich in langen Prozessen stillschweigenden Austestens bewährt haben. Es ist zur Kreativität verdammt, weil die Lösungen an einem ständigen Wandel von Bedingungen angepasst werden müssen."
Eben deshalb braucht es den unvoreingenommenen Blick insbesondere auf jene Jahrhunderthälfte, die dem vorgelagert ist, was später zur "klassischen Moderne" verknappt wurde. Eine Rezeption der seinerzeit wichtigsten Gestalten und ihrer Werke aus heutiger Perspektive ist erst in Anfängen geleistet. Mithin sollten die "Großväter" der Moderne erneut zu Wort kommen - jene Protagonisten, die die Weichen gestellt haben, doch nie gleichermaßen im Scheinwerferlicht der einschlägigen Hagiographie standen.Kaum je hat man sich ernsthaft an ihnen abgearbeitet, ihre realen und Gedankengebäude derart durchdrungen, dass man daraus Folgerungen für das heutige Tun ziehen könnte. Die ihnen vielfach zugeordneten Präfixe wie Prä-, Proto- oder Para-Moderne jedenfalls sind zu wenig aussagekräftig, als dass sich darauf tatsächlich bauen ließe. Grund genug, sich damit und mit der Umwertung der Werte "historistischer" und "moderner" Architekturauffassung zu beschäftigen.