"Die Herrschaft über die Wirklichkeit hat die Polizei"

Seite 8: Gewalt und Gegengewalt

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Olaf Arndt: Fritz, im September 1985 hast du vier Tage lang an der Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden teilgenommen und dort acht Thesen zum Thema Polizei und Gewalt vorgetragen. Du bist davon ausgegangen, dass es gegenüber sozialen Bewegungen eine nicht korrigierbare Zuschreibung von Seiten des Staates gibt. Das Zitat lautet: "Soziale Bewegungen und politischer Protest sehen sich mit einer Gewaltvermutung konfrontiert, die nahezu den Charakter eines Wunschbildes oder einer Projektion trägt."

Du schilderst dann eindrücklich, wie eine grundsätzliche "konstitutive Asymmetrie der Gewaltmittel" zwischen Amtsträgern staatlicher Gewalt und den Trägern des politischen Protests von der ständigen Gefahr begleitet ist, dass auf der Seite der Gewaltadressaten, also der Demonstranten, Gegengewalt entsteht. Wenn sichtbar die Prinzipien von Gewaltenteilung, von Rechtsförmigkeit und Kontrolle staatlichen Handelns, missachtet werden, sinkt die Akzeptanz auf der Seite der Bevölkerung während gleichzeitig die Bereitschaft zur Gegengewalt steigt.

Du weist in diesem Zusammenhang plausibel nach, wie durch die Verletzung solcher Prinzipien die Legitimität staatlichen Handelns in Gefahr gerät - also die Bereitschaft, staatliche Akte, Maßnahmen und Interventionen zu akzeptieren. Hierzu führst du am Ende in deinem Text - der schon im Titel das Wort "kontrovers" führt - aus, dass es eine "demonstrierbare Parteilichkeit" der Gerichte in Entscheidungen über Regelverletzungen von Polizisten gibt, der eine Rolle für die Eskalation der Konflikte in die Gewalthaftigkeit hinein zukommt, die "von mehr als periferer Bedeutung" sei.

Du beschreibst immer wieder sehr genau, wie ein an sich politischer Konflikt durch diese Zuschreibung in eine Gewaltförmigkeit hinein eskaliert, in der dann der Gegenstand der politischen Debatte vollkommen verloren geht. Hat sich da was verändert zwischen 1984 und heute? In deiner Wahrnehmung?

Das pazifizierte Volk

Fritz Sack: Meiner Meinung nach nicht viel. Die Thesen der Polizei lauten ja: Wir haben Deeskalationstechniken gelernt. Wir sind nicht mehr kontaminiert von nationalsozialistischen und autoritären Geschichten. Wir sind lernbereit und lernfähig und so weiter.

Was man jetzt in der Abwicklung von polizeilichen Misshandlungen, von polizeilichen Übertretungen und von Polizeikriminalität beobachten kann, wenn dabei das Kriterium ist, ob sich was geändert hat oder nicht, dann würde ich sagen: Ganz offensichtlich sind das strukturell bedingte und strukturell unveränderbare Strategien, damit umzugehen.

Isaac D. Balbus hat dazu ein Buch geschrieben, "The dialectics of legal repression"6. Wo er am Beispiel von riots die Gesetzmäßigkeit festgestellt hat, dass dann, wenn die ein bestimmtes Level erreicht haben, Rechtsstaatlichkeit temporär ausgesetzt wird. Und die ganze Rechtstaatlichkeit ist ein Regelsystem eines ruhigen Volkes. Eines pazifizierten Volkes. Eine ähnliche Geschichte kommt von Charles Tilly, festgehalten in seinem Aufsatz "war making and state making as organized crime"7.

Wie stellt man den Ruf nach Polizei her? Den stellt man her, indem man Regeln verletzt, indem man Regeln übertritt, indem man kriminell wird. Er vergleicht das mit diesen Erpressungskartellen, die abends kommen und Mobiliar zerdeppern und am nächsten Morgen wieder kommen und sagen: "Damit das nicht mehr passiert zahlst du mir jetzt 2000 Euro." Von daher sind das meiner Meinung nach konstitutive Prozesse und konstitutive Abläufe, die sich nicht verändert haben.

Was jetzt bei G20 passiert ist, das ist ein einer Weise zu parallelisieren mit dem, was damals in der Studentenbewegung passiert ist. Da kann es keinen Zweifel dran geben.

Moritz Kerb: Was beim G20 von Seiten der Polizei passiert ist - trägt das die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Eskalation?

Fritz Sack: Ja. Um polizeiliches Handeln und polizeiliche Intervention akzeptabel zu machen und den Weg zu bahnen. Im Zusammenhang mit den Studentenunruhen habe ich mich ziemlich viel mit Konfliktforschung beschäftigt. Wie Konflikte entstehen, wie Konflikte sich entwickeln. Und man kann das zum Teil vergleichen mit interpersonalen Konflikten in Familien oder wie sie in Mikrowelten passieren und ablaufen. Niklas Luhmann hat zu diesen Dingen - was Gewalt in sozialen Prozessen bedeutet und welche Funktionalität in der Gewalt mit liegt - geforscht und diese Funktionalität der Gewalt, die wird von den Gewaltverächtern und denen, die Gewalt kritisierenden, systematisch nicht gesehen.

Es ist eine Utopie, dass es eine Gesellschaft geben kann, die unter nationalstaatlichen Bedingungen operiert oder zustande gekommen ist, und die ohne Gewalt existieren kann. Wie hört sich das an, wenn ich das so sage? Das hat etwas Demotivierendes, etwas Enttäuschendes ...

Denkt an eure Versuche, nicht-letale Gewaltformen zu untersuchen. Es bleiben ja trotzdem Gewaltformen. Es ist auch ein Ausweis der Universalität. Auch wenn die Nationalstaatlichkeit durch die wirtschaftliche Entwicklung allmählich mehr oder weniger beseitigt oder aufgehoben oder abgeschwächt wird, bleibt die Gewalt natürlich ein konstitutiver Bestandteil dessen, was auf Erden passiert.

Olaf Arndt: Die angebliche Humanisierung der Gewaltarbeit durch solche Ideologien oder besser: Marketing-Konzepte wie "weniger-tödliche Waffen" haben ja mit Akzeptanzproblemen zu tun.

Fritz Sack: Man verschiebt die Bedingungen der Möglichkeit der Anwendung von Gewalt. Man hebt aber nicht die denkbaren Bedingungen auf, die die Gewalt auf den Plan rufen.