Die Hybrid Workspace Story

Ein Arbeitsbericht, Abschnitt 1.1

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Im documenta hybrid workspace sind 11 Gruppen eingeladen, die jeweils 10 Tage lang zu einem selbstgewählten Thema arbeiten. Das Projekt, das aus einer Kooperation zwischen Berlin Biennale und documenta x zustande kam, und unter der inhaltlichen Regie der nettime-Moderatoren Pit Schultz und Geert Lovink durchgeführt wird, ist bereits angelaufen. Pit Schultz berichtet in eigener Sache.

Legendenbildung:

Frühjahr 1995: Botschaft e.V., ein Abruchhaus in Berlin Mitte. Ein Tisch mit ca. 15 Personen, an dessen Ende die Kunst-Kuratoren Klaus Biesenbach und Cathrine David. Dias werden gezeigt, Personen stellen sich vor, man phantasiert über ein gemeinsames Radiostudio und die Einladung des gesamten Umfelds an Kulturproduzenten. Zugleich wird Argwohn bezüglich einer möglichen Vereinnahmung und Zersplitterung geschöpft und einige Zeit später zerfällt die 'interdiziplinäre' Kerngruppe, 1990 gegründet und auf eine mehrjährige autonome Zone zurückblickend, die sich um Orte wie Elektro, WMF, Friseur, kristalliserte, sowie um Videoprojekte wie dogfilm, verschiedene politisch-künstlerische Arbeiten im öffenlichen Stadtraum, seltsame Austellungen, The Thing - Mailbox, Institutionskritik und das, was später von Peter Weibel Kontext-Kunst genannt wurde.

Noch im selben Jahr (95) kam es zur Gründung von Nettime. Sommer 1995, Biennale Venedig, eine Gruppe von Theoretikern-, Künstlern-, Journalisten-, und Aktivisten trifft sich, um sich von nun an gemeinsam mit dem Internet zu beschäftigen. Sie sehen die Notwendigkeit bei der kulturellen und politischen Nutzung des Internets einen 'eigenen' Kurs einzuschlagen, weil der vorgebene, vorwiegend als einem 'amerikanischem Mythos' folgend, als entfremdend empfunden wird. Geert Lovink trifft auf Pit Schultz und beide schreiben und sammeln erste Texte zum Gesamtwerk 'Netzkritik'.

Zentralorgan wird eine Mailingliste, auf der sich nach und nach mehr und mehr Gleichgesinnte treffen. Erklärter gemeinsamer Idealfeind ist das Wired Magazine. Die Stadt Venedig, war, wie der Mitgründer Nils Röller bemerkte, der Ort, an dem Netz und Welt, Wasser und Daten aufeinandertreffen und an dem auch das touristische Moment nicht zu kurz kommt. Das urbane Umfeld legt zugleich den Mythos zugrunde, bei nettime handle es sich um ein eurozentristisches Projekt. Auf den darauffolgenden Treffen, die meist in Budapest stattfinden, formiert sich eine neue lose 'Bewegung' die sich dadurch auszeichnet, reale und virtuelle, lokale und verteilte, politische wie künstlerische Komponenten unter dem Überbegriff von 'Netzdiskurs' in einem eigenen, kleinen medialen Prozess zu fassen.

Planungen

Spätherbst, 1996: Hans-Ulrich Obrist, Klaus Biesenbach und Nancy Spector treffen sich in Berlin zu ersten Gesprächen, um zu überlegen, was man zur documenta in Kassel machen könnte. Das Thema: 'Posturbanismus'. Der Konsens: keine Kunstausstellung, sondern eine Hinwendung zu inhaltlichen Themen. Auch Geert Lovink hat bereits Kontakte zur Documenta-Leiterin, und ist bereits als Diskussionsgast eingeladen, so fällt die Wahl auf ihn nicht schwer, als es darum geht, schnell und nachdem sowohl Konzept wie auch Finanzierung noch unklar sind, eine Lösung für die Bespielung der Orangerie am Ende des documenta-Parcours zu finden. Vorraussetzung ist die Hinwendung zur Produktion von Inhalt, kritischem Diskurs und der intensiven Nutzung von neuen Medien am Rande des Kunstkontexts, ohne diese in einer Orgie der Interaktivität zu verherrlichen. Dennoch lässt das entgültige OK der Documentaleitung lange auf sich warten.

Das sich mittlerweile formierende Projekt 'Berlin_Biennale' das auf die Institution Kunstwerke Berlin aufsetzt, wird zur 'schlanken' weil noch jungen Produktionsumgebung. Eike Becker, junger Architekt aus Berlin, wird hinzugezogen, um eine geignete Innenarchitektur zu entwickeln, die den wechselnden Anforderungen über die 100 Tage über verschiedene Interessenslagen hinweg entspricht und dem Projekt einen sicheren Stand auf der Repräsentationsebene gibt. Als Ende Februar 1997 der Startschuss aus Kassel fällt, haben wir noch genau drei Monate, um Hybrid Workspace fertig zu konzipieren und umzusetzen.

Thorsten Schilling übernimmt die Aufgabe des Projektmanagers. Michael Flor und zwei Kolleginnen treten ihm zur Seite. Nun werden zwischen Budapest, Berlin, Amsterdam vor allem viele E-mails ausgetauscht. Noch ist das Konzept alles andere als deutlich. Gleichzeitig gilt es, das Verhältnis zu anderen Internetprojekten auf der Documenta nicht zu stören. Einige Auflagen der Kuratorin, wie 'kein Cybercafe', keine Kunstobjekte, werden verinnerlicht. Die Notwendigkeit der Visualisierung durch Videotechnik und die Abtrennung des zentralen Arbeitsbereichs wird vereinbart. HU Obrist steuert den Begriff der Hybridität bei, und David besteht darauf, keine 'Hintertür zur Documenta' aufzumachen. Vielleicht ein kunstpolitisches Meisterstueck der Verhandlungskunst; während die ersten Arbeitsgruppen eingeladen werden, einigt man sich auf den radikalen Pragmatismus des Projektes. Jegliche Metaphorik oder Metaebene wird verneint, Netzkritik das Projekt von Lovink/Schultz, soll um eine experimentelle Handlungsdimension erweitert werden. Einzig die Bedingungen sollen in der kurzen Zeit möglichst so gestaltet werden, dass sie den Prozess der Inhaltproduktion im Workspace nicht behindern. Verschiedene Medien und Öffentlichkeiten, verschiedene Kulturräume und -praxen sollten miteinander verknüpft werden und politische Wirksamkeit nicht behindern.

Im Juni 97 findet das zweite grosse Nettime-treffen in Ljubljana, Slovenien, statt. Die Nummer 4 des Periodikums ZKP erscheint in neuem Zeitungsformat. Vuk Cosic, Irena Wölle und Diana McCarty arbeiten in 14 Tagen zusammen mit den Organisatoren am materiellen Inhaltsfundament für die hundert Tage. Diana schafft es, mit Hilfe von Soros-Organisation in nur 3 Wochen 120 internationale Teilnehmer nach Ljubljana einzuladen. Es folgen Artikel in Telepolis, Spiegel Online, Taz, und sogar Wired Magazine. Unter dem Motto 'going public' wird Nettime ein Produktions-, Verlautbarungs- und Rekrutierungsmedium. Gleichzeitig steigt der Rauschanteil auf der Mailingliste an seine Toleranzgrenze. Doch schon in Ljubljana kommen Fragen nach den gemeinsamen Zielen, nach der Natur des 'Wir', sprich möglicher Institutionalisierung oder gar der befürchteten Komerzialisierung der Nettime-Online-Community auf. Schliesslich kommt es in Berlin zu mehreren Treffen, bei denen ein kollaboratives Dokument ensteht, das jegliche erdenkliche Formulierungslücke zu schliessen versucht. Eike Becker spezifiziert seine Pläne im Hinblick auf polymorphe Rekombinierbarkeit der Architekturelemente. Noch im letzten Moment werden die Farben den dX Grundtönen (schwarz-rot-grau) angepasst.

Thomax Kaulmann und Pit Schultz von der Internationalen Stadt Berlin übernehmen zusammen mit Heidi Specker, Moniteurs, das 'Rapid Prototyping' der virtuellen Produktionsumgebung von Hybrid Workspace und sind seither vor allem mit Reparatur, Ausbau und Pflege beschäftigt. Es geht darum, ein Diskussionsforum fü alle elf Gruppen aufzubauen, dass sowohl per E-mail, Newsgroup und Worldwideweb bedienbar ist, als gemeinsams Dokument-Archiv dient und einen Überblick über die aktuellen und anstehenden Events bietet. Grundidee ist die Möglichkeit zu nutzen, die lauffähige Demoversion einer Free Groupware zu entwickeln, die bestehende Internet-Standards und Programme verbindet, anstatt sie durch einen neuen, proprietären Standard abzulösen, und diese Groupware über den Prozess der Ausstellung fortwährend weiterzuentwickeln. Herbert A. Meyer stellt den Kontakt zum freien Radio in Kassel her und organisiert die wöchentliche Anbindung an den lokalen Äther. Das Bindeglied zu dem Audiobereich stellt das Radio Internationale Stadt, ein offenes Archiv für Internetradio dar, ebenfalls von Thomax Kaulmann entwickelt.

Die Gruppen

Tag 1 - 12
19. - 27. Juni 1997
Social Spaces Berlin

Die Eröffnung ist dem 'Tag der Manifeste' gewidmet. Sie wird zum Vortragsmarathon für die beiden Volontäre, 50 Manifeste treffen auf 1600 Presseteilnehmer, die ohnehin verstimmt durch C.Davids Eröffnungsrede, den Abend bereits früh in eine Party übergehen lassen. Der nächste Tag ist den VIP-Gästen gewidmet, sowie repräsentativen Aufgaben. Nach drei Tagen Eröffnungszeremonien hält das Tagebuch keine besonderen Vorkommnisse fest.

Es folgt die Redaktion der Zeitschrift Scheinschlag aus Berlin Mitte, die sich besonders der Kritik der Innenstadtplanung widmet, die eine Umfrage über die Definition von 'Urbanismus' starten und verschiedene Podiumsdiskussionen veranstalten.
Die Auseinandersetzungen um Berlin's Mitte werden in den seltensten Fällen im Interesse der sozial Schwachen geführt. Scheinschlag ist dabei, das zu ändern.

Die Innenstadtaktion Kassel organisiert eine Aktion gegen die 'Säuberung' der Kasseler City und gegen die Verdrängung von Randgruppen aus dem touristisch sensiblen documenta-Bereich. Klaus Ronneberger fordert in einem Spex-Artikel 'Schutzräume gegen Ungeschützte'und weitere Daten über die bundesweiten Aktionen können über eine eigens von Florian Zeyfang eingerichtete Mailingliste erfahren werden.

Der Pavillion der Volksbühne funktioniert den durch Office-Architektur normalisierten Raum in eine Interviewstation um. Sie erzeugen verschiedene Situationen, bei denen die Besucher in eine Kommunikation verwickelt werden, ganz der Erzielung eines bestimmten Arbeits-Ergebnisses, eines Fotos oder eines Protokolls untergeordnet. Die Macht des Designs wird auf diese Weise bis ins Soziale ausgehnt und die Vorgaben von Workspace durch Übererfüllung re-definiert. Die ca. 12 Teilnehmer bauten mehrmals den Raum um und hinterliessen ein Hörspiel.

'Faktor Arbeit', ein Projekt um Peter Funken, steht in Verbindung mit einer Ausstellung im Frühsommer dieses Jahres im NGBK Berlin, bei der Massenarbeitslosigkeit und ihre kulturelle Dimension in Installationen und Podiumsdiskussionen erörtert wurden. In einem spannenden Vortrag wurden Filme und Dias über Projekte mit Arbeitslosen aus dem Brandenburger Dorf Pritzwalk vorgeführt.

Berlin Salon, organisiert von Stefan Bullerkotte, thematisiert die Beziehung von Gedächtnis und Stadtraum, von Archiv und persönlicher Erinnerung und ihrer je eigenen Geschichtsschreibung. Als Gäste geladen waren Arnold Dreyblatt, Künstler, Berlin und New York , Wolfgang Ernst, Historiker, Kunsthochschule für Medien, Köln, über non-diskursive Orte der Erinnerung, sowie Maria Marchetta, Berlin.

Ein Interview mit Rem Koolhaas führte Tom Fecht, Workspace hat die Radio- und Textversion. In diesem Interview erläutert Koolhass die Beziehung von Gedächtnis, Urbanismus und Cyberspace, erklärt sein Konzept der Stadt ohne Eigenschaften und spricht von seinen Erfahrungen im Städtebau in Asien.

Teil 1.2 folgt zu einem späteren Zeitpunkt und berichtet von den folgenden Projekten:

Tag 13 - 22
cross_the_border
Hat sich formiert aus einer Bewegung um Sans-Papier

Tag 23 - 32
we_want_bandwidth
Gesellschaft für alte und neue Medien

Tag 33 - 42
recycling_the_future
ORF Kunstradio

Pit Schultz