Die Illusion der Gleichheit
Das Recht auf Volksbegehren unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, in manchen Bundesländern kam noch nie eines zustande
Der neue Volksbegehrensbericht von Mehr Demokratie zeigt, dass Volksbegehren zunehmend zu einem Mittel der politischen Willensbildung werden, legt aber auch die Ungleichheit zwischen den Landesbürgern sowie Parteienwillkür offen.
Frank Rehmets Bericht zeigt auf den ersten Blick zunächst einige Fortschritte:
- 2008 wurden mit sechs Volksbegehren so viele wie noch nie zuvor durchgeführt. Auch die Erfolgsquote lag mit 43 Prozent "deutlich höher als der langjährige Durchschnitt von 27 Prozent".
- Die CDU Hamburg nahm in der Koalition mit der GAL einige Erschwernisse für die direkte Demokratie zurück, die sie selbst eingeführt hatte, als sie noch allein regierte. Zugleich wurden durch Volksentscheid beschlossene Gesetze vor nachträglichen Änderungen durch die Bürgerschaft geschützt. Dies war notwendig geworden, nachdem die CDU während ihrer Alleinherrschaft mehrere Volksentscheide rückgängig gemacht hatte und durch Gesetzesänderungen weitere erschwerte.
- Bundesweit einmalig sind nun auch die Quoren bei Volksentscheiden in Hamburg. Sie richten sich fortan nach der Wahlbeteiligung bei den gleichzeitig stattfindenden Bürgerschafts- oder Bundestagswahlen. Ein Volksentscheid spiegelt so den Willen der tatsächlich politisch aktiven Bürger wider, ohne dass wie bisher der größer werdende Anteil der Nichtwähler das Ergebnis verfälscht. In Hamburg galten bis dahin willkürlich festgelegte Beteiligungsquoren, die die paradoxe Folge hatten, dass Volksentscheide trotz mehrheitlicher Zustimmung scheiterten.
- In Bremen wurden die Hürden für Volksbegehren von zehn auf fünf Prozent und für Volksentscheide von 25 auf 20 Prozent der Wahlberechtigten gesenkt.
Doch diesen Erfolgen stehen fragwürdige Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gegenüber. Die Idee des Föderalismus, die Konkurrenz der Länder anzuregen und sie so zu Fortschritten zu zwingen, scheint sich auch im Fall der Bürgerbeteiligung als Illusion zu erweisen. Es ist Paradox, aber die politische Gleichheit der Bundesbürger unterscheidet sich scheinbar von Bundesland zu Bundesland.
So kam es erst in sechs Bundesländern überhaupt zu Volksentscheiden: Hamburg, Bayern, Schleswig-Holstein, Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt. In sämtlichen anderen Bundesländern scheitern die direktdemokratischen Verfahren (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid) an der erforderlichen Mindestbeteiligung oder den vorgeschriebenen umständlichen Sammelverfahren für Unterschriften. Bezeichnenderweise sehen jene Bundesländer bis auf Bayern und Berlin auch eine Kostenerstattung für direktdemokratische Initiativen vor. In Berlin wurde bereits eine Kostenerstattung geplant, "jedoch in letzter Minute gekippt". Diese Kostenerstattung verhindert, dass die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger mit ihrem Kontostand sinken.
Brandenburg liegt mit insgesamt 8 Volksbegehren (seit ihrer Einführung 1992) hinter Hamburg und Bayern auf Platz drei, brachte es aber bisher zu keinem einzigen Volksentscheid. Zurückzuführen ist dieses Missverhältnis auf die Vorschrift, dass Unterschriften für ein Volksbegehren nur auf dem Amt abgegeben werden dürfen. Die Amtseintragung ist meist der Tod jeder direktdemokratischen Initiative und wurde auch von der CDU Hamburg dazu genutzt, Volksentscheide unmöglich zu machen. Dies dürfte auch Brandenburgs Innenminister Schönbohm bekannt sein, der eine Reform mit der verfehlten Begründung ablehnt, dass das Quorum für Volksbegehren in Ländervergleich verhältnismäßig niedrig ist. Der eigentliche Kritikpunkt, die Amtseintragung, liegt für ihn aber "in der Natur der Sache".
Hessen hat 1946 als erstes Bundesland überhaupt Volksbegehren eingeführt. Von einer Vorreiterrolle kann dennoch keine Rede sein. Denn in all den Jahren kam es nur zu einem Volksbegehren. Für ein erfolgreiches Volksbegehren müssten 20 Prozent der Wahlberechtigten innerhalb von 14 Tagen dazu bewegt werden, sich beim Amt einzutragen. Da ist der Verzicht auf ein Quorum im Volksentscheid Blendwerk, weil die meisten Initiativen bereits am Volksbegehren gescheitert sind. Somit ist Hessen was die Häufigkeit anbelangt beinahe Schlusslicht, wären da nicht Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland und Baden-Württemberg, wo noch nie ein Volksbegehren auf die Beine gestellt werden konnte.
Am hessischen Gesetz orientierte sich Rheinland-Pfalz, das die direktdemokratischen Verfahren ein Jahr nach Hessen einführte. Auch hier kam es seitdem nur zu einem Volksbegehren. Durch eine Reform im Jahre 2000 wurde zwar das Quorum für Volksbegehren von 20 auf zehn Prozent gesenkt, aber zugleich eine Mindestbeteiligung von 25 Prozent der Wahlberechtigten bei Volksentscheiden vorgeschrieben, die es davor nicht gab. So wurde ein Fehler aus dem hessischen Vorbild zwar korrigiert, dafür aber ein anderer darin eingefügt.
In den meisten Ländern, in denen direkte Demokratie praktiziert wird, wie in der Schweiz und einigen Staaten der USA, wird völlig auf Quoren verzichtet. So wird verhindert, dass Volksentscheide scheitern, obwohl die Ja-Stimmen überwiegen ("unechtes Scheitern"). Dies würde nämlich bedeuten, dass Enthaltungen, also Stimmen neutral gebliebener Wähler, als Nein-Stimmen gewertet werden, was mit demokratischen Grundregeln nur schwer vereinbar ist. So sind einige Volksbegehren zu schulpolitischen Themen vor allem deshalb gescheitert, weil sich naturgemäß nur eine kleine Minderheit dafür engagiert bzw. engagieren kann: Eltern mit deutscher Staatsbürgerschaft. Der Anteil der Enthaltungen bestimmt letztendlich darüber, ob eine Gemeinschaft ihre Interessen durchsetzen kann oder nicht.
Es ist jedoch nicht so, dass andere Bundesländer aus diesen Fehlern gelernt hätten, wie man es nach den Idealvorstellungen des Föderalismus erwarten sollte. Das Saarland ermöglichte erst 1979 direktdemokratische Verfahren - und das ausgerechnet nach hessischem Vorbild. Folge: Trotz sechs Volksinitiativen kam es nie zu einem Volksbegehren. Das Saarland ist somit im Bundesländervergleich von Mehr Demokratie weitabgeschlagenes Schlusslicht. Dies ist besonders aufschlussreich, wenn man bedenkt, dass sowohl der ehemalige Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Linke) als auch der amtierende Peter Müller (CDU) als Verfechter von Volksentscheiden gelten - allerdings nicht im eigenen Land, sondern auf Bundesebene.
Fortschritte werden durch die Abhängigkeit und Willkür der Justiz, Ränkespiele der Parteien und Unkenntnis der Abgeordneten erschwert
CDU und FDP verweigerten in Nordrhein-Westfalen einer erfolgreichen Volksinitiative zur Reform des Kommunalwahlrechts die Zustimmung im Landtag, obwohl sie diese bis dahin selbst forderten und ihre Parteikollegen in Hessen dieselbe Reform bereits Jahre zuvor durchgeführt hatten. Wegen der hohen Hürden für Volksbegehren musste die Nordrhein-Westfälische Initiative somit aufgeben.
Der bayrische Verfassungsgerichtshof erklärte zwischen 1994 und 2005 allein sechs Volksbegehren für unzulässig, weil sie entweder eine angeblich unzulässige Verfassungsänderung zum Ziel hatten oder das parlamentarische Budgetrecht berührten. Das bedeutet, dass durch eine Entscheidung im Namen des Volkes das Volk weder über seine eigene Verfassung noch über die Verwendung der von ihm gezahlten Steuern entscheiden darf. Da politische Entscheidungen naturgemäß mit Kosten verbunden sind, bleibt das Volk bei den meisten Sachfragen so von der politischen Mitsprache ausgeschlossen.
In Hamburg wurden durch die CDU-Regierung nicht nur mehrere Volksentscheide hintereinander rückgängig gemacht und danach Volksentscheide erschwert. Es ist dort darüber hinaus üblich geworden, Bürgerbegehren auf Bezirksebene zum Schein nachzugeben, damit sie auf Landesebene wieder rückgängig gemacht werden können, oder den Bezirken gleich die Zuständigkeit in Angelegenheiten zu entziehen, in denen Bürgerentscheide drohen. Hieran beteiligt sich seit vergangenen Dienstag auch der Koalitionspartner GAL, die sich in der Opposition zur Hüterin der Demokratie erklärte.
Der Coup der CDU Thüringen ist deutschlandweit ebenfalls einmalig: Sie führte während eines laufenden Volksbegehrens "Für Mehr Demokratie in Thüringer Kommunen" eilends die vollkommen unübliche Amtseintragung für Bürgerbegehren ein. Sie hat also gerade das Gesetz geändert, das eigentlich erst durch das Volksbegehren hätte geändert werden sollen. Die Folge ist, dass der Gesetzentwurf des Volksbegehrens sich auf ein nicht mehr gültiges Gesetz bezieht und ins Leere zu laufen droht.
Die eilends nachgelieferte Begründung, die Bürger seien vom Volksbegehren überrumpelt worden, erwies sich allerdings als unzutreffend. Vielmehr ist anzunehmen, dass die CDU Thüringen sich nach dem Vorbild ihrer Parteikollegen in Hamburg richtete und der Bürgerbegehren durch die Einführung der Amteintragung ledig werden wollte.
Der Schweizer Christdemokrat Gebhard Kirchgässner sagte über seine deutschen Parteikollegen: In der Schweiz würde die CDU dafür abgewählt werden. Aber das ist auch in Deutschland nicht unmöglich: Was der CDU Hamburg eine Niederlage bei den letzten Bürgerschaftswahlen bereitete, ihr rabiater Umgang mit direkten Entscheidungen des Bürgers, kann bei den Landtagswahlen Ende August auch der CDU Thüringen die Piste rutschig machen. Plötzlicher Gedächtnisverlust und Unschuldsbeteuerungen würden ihr kaum mehr abgenommen werden.
Andreas Kost (Hg.). Direkte Demokratie in den deutschen Ländern. Wiesbaden 2005.