Die "Judensau" bleibt?

Judensau in Wittenberg. Bild: Avi1111/CC BY-SA-4.0

Wittenberg und der Antisemitismus im Alltag

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Die "Judensau" bleibt. Ein Sandsteinrelief an der Stadtkirche Wittenberg, das dieses widerwärtige antisemitische Symbol zeigt, muss nicht beseitigt werden. Das hat das Landgericht Dessau-Roßlau vor einigen Tagen entschieden. Das ist ein glattes Fehlurteil. Schlimmer noch: Es ist - ein Beispiel dafür, wie Antisemitismus sich im Alltag ausbreitet und salonfähig wird.

An der Stadtkirche Wittenberg befindet sich seit dem Mittelalter ein Sandsteinrelief, das eine sogenannte "Judensau" zeigt. Auf ihm ist ein jüdischer Rabbiner zu sehen, der den Schwanz eines Schweins anhebt und ihm in den After schaut. Weitere Figuren, die Juden darstellen sollen, versuchen, an den Zitzen des Schweins zu saugen. Solche zutiefst gehässigen antisemitischen Darstellungen waren vor allem im Hochmittelalter verbreitet. Immer ging es um Herabwürdigung, Demütigung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden. Die Kirche in Wittenberg ist bei weitem nicht die einzige mit solch einer Darstellung. Dieses Bildmotiv findet sich in Europa fast bis in die Gegenwart. Das Nazi-Hetzblatt "Der Stürmer" hat solche Darstellungen regelmäßig verbreitet.

Der eigentliche Skandal beginnt 2016. Ein Theologe fordert in einer Online-Petition, das antisemitische Machwerk abzunehmen. Das Reformationsjubiläum 2017 sei ein guter Zeitpunkt, sich mit dem Antisemitismus in der Kirchengeschichte zu beschäftigen. Nicht nur in Wittenberg entzündet sich eine öffentliche Diskussion. Vor der Stadtkirche kommt es zu Demonstrationen von Bürgern, die fordern, das Relief abzunehmen. Die Kirche weigert sich strikt. Begründung: Die Skulptur müsse als Erinnerungs-und Mahnzeichen stehen bleiben. Kein Wort davon, welche Wirkung die Skulptur auf die Gesellschaft hat. Was eine solche widerwärtige Darstellung in der Öffentlichkeit kommuniziert - der Kirche ist das egal. Schon das ist ein Skandal.

Der Skandal geht weiter. Der Staat schaut einfach weg. Die Stadtverwaltung von Wittenberg versteckt sich hinter fadenscheinigen Argumenten - und hinter einer kleinen Gedenkplatte, die seit 1988 an der Kirche angebracht ist. Minderheiten vor Herabwürdigung, Beleidigung und Ausgrenzung zu schützen? Für die Stadtoberen von Wittenberg ist dieser Auftrag des Grundgesetzes anscheinend nicht wichtig.

Im Mai 2018 verklagt ein Bürger die Kirchengemeinde in Wittenberg. Er ist Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin und argumentiert juristisch: Angehörige der jüdischen Konfession würden durch das Relief beleidigt, verhöhnt und erniedrigt. Deshalb müsse es von der Kirche entfernt werden. Vergangenen Freitag hat das Landgericht Dessau-Roßlau die Klage abgewiesen. Es sieht im "Judensau"-Relief keine Beleidigung. Die Plastik in der Kirchenfassade könne auch nicht als Missachtung gegenüber den in Deutschland lebenden Juden verstanden werden. Nicht zuletzt stehe die Kirche - und damit auch das Relief - unter Denkmalschutz. Denkmalschutz, tatsächlich Denkmalschutz?

Das Urteil ist ein Skandal. Das Ergebnis ist inakzeptabel. Die Begründung, die das Gericht findet, ist erschreckend borniert und ahistorisch. Das "Judensau"-Relief ist keine Beleidigung? Hat der Richter es überhaupt nicht gesehen? Kennt er nicht die politische Geschichte dieses antisemitischen Bildmotivs? Hat er keine Ahnung davon, wie Bilder das Denken der Menschen beeinflussen? Hat er vergessen, dass er - wie alle staatlichen Institutionen - die Würde des Menschen schützen muss? Und was ist mit der Signalwirkung dieses Urteils? Lässt es sich nicht auch als eine Bestätigung für den neuen Antisemitismus in der Gesellschaft verstehen?

Der Antisemitismus wird in unserer Gesellschaft sträflich unterschätzt

Kein Zweifel: Die europäische Kunst der letzten Jahrhunderte ist voll von judenfeindlichen Bildern und Inhalten. Shakespeares Kaufmann von Venedig ist eines der bekanntesten Beispiele für antisemitistische Inhalte in der Literatur. Auch der Nobelpreisträger Günter Grass musste sich Antisemitismusvorwürfen stellen. Mindestens genauso verbreitet ist der visuelle Antisemitismus. Die Kirche in Wittenberg ist nicht die einzige, die das "Judensau"-Motiv in ihrer Fassade trägt. In der europäischen Kunstgeschichte wimmelt es von bösartigen, hasserfüllten, widerwärtigen antisemitischen Darstellungen. Was also tun?

Niemand will die europäische Kultur umschreiben und von allen antisemitischen Inhalten befreien. Das wäre irrational, naiv, ahistorisch und - ja, auch das - albern. Ein Bildersturm aus political correctness wäre eine erschreckende Option. Aber ein kritischer Blick auf die Kunstwerke und ein sensibler Umgang mit ihren Schattenseiten sind dringend nötig.

Das gilt gerade dann, wenn antisemitische Kunst eine Wirkung entfaltet, die über den engen Bereich der reinen Kultur hinausgeht. Das ist hier in Wittenberg der Fall. Spätestens durch die öffentlichen Kontroversen ist die Skulptur zum Politikum geworden, das Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Politik hat. Die "Judensau" von Wittenberg ist kein Problem der Architekturgeschichte und des Denkmalschutzes. Es geht hier nicht mehr um eine Frage der reinen Kunst. Im Fokus steht jetzt die Problematik, wie die Gesellschaft mit einer religiösen Minderheit umgeht. Darf der Staat dulden, dass die jüdische Religion herabgewürdigt wird - vor dem Hintergrund des Holocaust und eines zunehmenden Antisemitismus in der Gesellschaft?

Das Urteil von Dessau ist noch nicht rechtskräftig. Es besteht Hoffnung, dass es in der nächsten Instanz korrigiert wird. Aber der Skandal zeigt wie unter einem Brennglas: Der Antisemitismus wird in unserer Gesellschaft sträflich unterschätzt. Das belegen auch repräsentative Studien immer wieder. Eine bornierte Kirchengemeinde, eine hilflose Stadtverwaltung, ein völlig überforderter Richter - schon ist eine Entscheidung getroffen, die den Antisemitismus fördert und die Antisemiten ermutigt. Solche Entscheidungen machen den Antisemitismus salonfähig.

Gerade hat Deutschland noch sein Grundgesetz gefeiert - zu Recht als beste Verfassung ever. Die Verfassung lebt aber nur dann, wenn sie im Alltag gelebt wird. Sonst ist sie nur ein totes Papier. Die "Judensau" darf bleiben - mit dieser Entscheidung haben alle Verantwortlichen ihre verfassungsrechtlichen Pflichten zutiefst verletzt. Sie nehmen es hin, dass eine gesellschaftliche Minderheit beleidigt, verhöhnt und erniedrigt wird. Ein schlimmerer Verstoß gegen den Geist der Verfassung ist kaum denkbar.

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.

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