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Die Komplexität der Stromversorgung nimmt zu

Symbolbild: Gordon Johnson/Pixabay

Steht in Deutschland ein Blackout bevor, weil Gesellschaft und Politik auf Erneuerbare setzen und wären Kernkraft und Steinkohle die Lösung?

Die Nachrichten vom Beinahe-Blackout am 8. Januar [1] sorgten für viel Aufregung, Alarm ("Die Stromversorgung ist massiv gefährdet" [2]) und Schuldzuweisungen [3], in deren Fokus die Energiewende steht. Dabei war Deutschland von den Unregelmäßigkeiten im Januar wohl gar nicht betroffen. Ein Sprecher der Bundesnetzagentur (BNetzA) lässt sich hierzu mit den folgenden Worten zitieren:

Am 8. Januar 2021 kam es nachmittags zu einer Störung im kontinentaleuropäischen Stromübertragungsnetz und dadurch zur temporären Abtrennung der Region Süd-Ost-Europa (u. a. Griechenland/Nord-Mazedonien/Bulgarien/Serbien/Rumänien/Bosnien und Herzegowina/Türkei/Kroatien). In Deutschland kam es zu keinen Beeinträchtigungen im Übertragungsnetz. Die Abtrennung dauerte von 14:05 Uhr bis 15:08 Uhr; um 15.08 Uhr konnten die Teilbereiche wieder miteinander verbunden werden. Um 15:27 Uhr wurde wieder zum Normalbetrieb übergegangen.

Die von den europäischen Übertragungsnetzbetreibern für eine solche Situation entwickelten Methoden, wie z.B. das nach der Großstörung von 2006 eingeführte European Awareness System (EAS) haben gewirkt. In Italien und Frankreich kam es im Rahmen der Frequenzstabilisierung für ca. 40 Minuten zur Nutzung vertraglich vereinbarter Lastabschaltungen in Höhe von insgesamt rd. 1700 MW. In Deutschland kam es nicht zur Nutzung von abschaltbaren Lasten.

Die Störung im europäischen Verbundnetz hatte seinen Ursprung im Südosten von Europa. Durch die zwischen den europäischen Übertragungsnetzbetreibern abgestimmten Schutzmaßnahmen konnte das System stabilisiert und zügig wieder in den Normalbetrieb zurückgeführt werden.

Die Sicherungsmechanismen haben gegriffen und die Versorgungssicherheit in Deutschland war nicht gefährdet. Die Ereignisse vom 8. Januar 2021 bestätigen die Effektivität der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung von Störungsauswirkungen.

Sprecher der Bundesnetzagentur

Das European Network of Transmission System Operators for Electricity (ENTSO-E [4]), der europäische Verband der Übertragungsnetzbetreiber, stellte am 26. Januar 2021 [5] fest, dass der Vorfall am 8. Januar 2021 mit dem Auslösen eines 400-kV-Sammelschienenkopplers im Umspannwerk Ernestinovo (Kroatien) durch den Überstromschutz kurz nach 14:00 Uhr begann und in der Folge die Stromflüsse im Nordwesten und Südosten des Umspannwerks getrennt wurden.

Hinweise, dass dieser Vorfall durch Einspeiser von erneuerbaren Energien ausgelöst worden sein könnten, liegen bislang nicht einmal als Hypothese vor. Vielmehr deuten die vorliegenden Informationen auf eine erhebliche Überlastung des Gesamtsystems durch einen gewollten Energietransport hin. Möglicherweise entsprach die Dimensionierung von Komponenten nicht mehr der aktuellen Entwicklung.

Der vertraglich vereinbarte Lastabwurf in Frankreich und Italien half letztlich dabei, das Netz wieder so weit zu stabilisieren, dass der gesamteuropäische Netzverbund wiederhergestellt werden konnte. Industriekunden können mit den Übertragungsnetzbetreibern grundsätzlich die Möglichkeit eines Lastabwurfs vereinbaren und erhalten dafür dann eine entsprechende Vergütung.

Dies zählt zu den üblichen Möglichkeiten (Flexibilitäten), die den Übertragungsnetzbetreibern zur Verfügung stehen. Wer hier jetzt eine Gefahr für die Sicherheit der Stromversorgung durch erneuerbare Energien befürchtet, hat die wirklichen Herausforderungen der Stromversorgung offensichtlich nicht erkannt.

Eine Rückkehr zu fossilen, thermischen Großkraftwerken ist kaum denkbar, nicht zuletzt, weil die dafür benötigten Brennstoffe aus deutscher Produktion nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch die Struktur der kaskadierten Netze scheint aufgrund der Zunahme der Zahl der Einspeiser auf unterschiedlichen Netzebenen kaum mehr zukunftsfähig zu sein.

Der Konflikt zwischen "Unbundling" und Energiewende

Bei dem in den 1990er-Jahren umgesetzten "Unbundling", mit dem man begann, den Stromhandel von der physikalischen Stromlieferung zu trennen, gingen Verfechter der Steuerung allen Geschehens durch den Markt davon aus, dass es sich bei Strom um ein Produkt handelt, das wie ein flächendeckendes Angebot zu gleichen Bedingungen in Märkten und auf Börsen wie ein gewöhnliches Handelsgut betrachtet werden kann. Das deutsche Stromversorgungsnetz wird dabei behandelt, als sei es eine unendlich leitfähige Kupferplatte.

Die realen Kosten für den Stromtransport und dessen Verteilung werden dann als Netzentgelte abgerechnet. Abrechnungstechnisch begründet und weil die Netzentgelte jeweils von der BNetzA genehmigt werden müssen, werden diese Kosten vom Netzbetreiber zwischenfinanziert und erst im Nachgang berechnet.

Ziel dieser Entflechtung der Stromwirtschaft durch das sogenannte "Unbundling" war es u.a., die Handelbarkeit von leitungsgebundenen Energieträgern wie Strom und Gas soweit zu virtualisieren und von den physikalischen Gegebenheiten abzutrennen, dass der Handel letztlich unabhängig vom Standort der Händler und der Standorte der Stromkunden erfolgen kann.

Zu Zeiten, als die Stromwirtschaft sich auf vergleichsweise wenige, dafür große Einspeiser stützen konnte und sich auch zumindest der Strombedarf der privaten Kunden meist im Rahmen des sogenannten Standardlastprofils bewegte, war die Hoffnung nicht wirklich unbegründet, mit einer zunehmenden Zahl von Handelsakteuren einen Wettbewerb zu bewirken, der dafür sorgt, dass die Preise fallen.

Weitere Kostensenkungen wollte man dadurch erzielen, dass beispielsweise der Strom auf seinem Weg vom Erzeuger zum Endkunden möglichst oft den Besitzer wechselt. Die Idee leitete sich offensichtlich vom Mineralölmarkt ab, wo die Ladung eines Tankers auf seinem Weg von der Quelle zur Raffinierie auch mehrmals den Eigentümer wechselt.

"Unbundling" scheint in Stein gemeißelt zu sein

Mit der Entwicklung der Energiewende und der damit verbundenen Vervielfachung der Zahl der Einspeiser, deren Einspeisemenge nicht nur von der Größe des Einspeisers, sondern auch von aktuellen, aber weitgehend prognostizierbaren Wetterbedingungen abhängt, erhielt das System noch mehr Variablen, die es abzugleichen gilt.

Durch das gedankliche Abtrennen der physikalischen Grundlagen des Stromnetzes wurde letztlich auch die Energiebevorratung, beispielsweise durch Zwischenspeichern und Puffern zwischen den immer variableren Energiezuflüssen einerseits und dem schwankenden Energiebedarf anderseits, vernachlässigt oder gar vergessen.

Böse Zungen behaupten gar, der Markt würde einen Pufferspeicher nicht honorieren. Ganz offensichtlich scheint das Interesse der Marktteilnehmer, die weiter mit virtuellem Strom handeln, so groß zu sein, dass eine Anpassung der Stromwelt an die im Rahmen der Energiewende auftretenden Veränderungen derzeit politisch nicht durchsetzbar scheint.

Wie wird die Stromversorgung wieder zukunftsfähig?

Hier stellt sich die Frage, wie kann man das europäische Stromsystem im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Bedingungen so umgestalten, dass es auch in Zukunft sicher zu betreiben ist.

Telepolis stellte die Frage an Dr. Franz Hein, der fast zwanzig Jahre bei einem großen Übertragungsnetzbetreiber für die Prozessleittechnik in der Lastverteilung verantwortlich war, sich im Jahre 2000 an der Gründung der EDNA-Initiative [6] beteiligte und inzwischen die technische Kommunikation in der Stromwirtschaft aus dem Unruhestand mit der entsprechenden engagierten "Gelassenheit" betrachtet.

Für unser immer kleinteiliger und komplexer werdendes Energieversorgungssystem ist die klassische hierarchische Steuerung von Leitzentralen aus nicht mehr geeignet. An deren Stelle muss eine Art Selbstorganisation durch die verteilte Intelligenz aller zu einem umfassenden Energiemanagement Beitragenden treten und es müssen vielfältige Speicherkapazitäten in allen Hierarchieebenen des Gesamtsystems geschaffen werden.

Man kann die dafür benötigte Struktur als Energielogistik bezeichnen. Sie umfasst die Verknüpfung der Energietechnik mit der entsprechenden Informations- und Kommunikationstechnik. Ein solches symbiotisches Miteinander entsteht durch das Vernetzen einer Vielzahl von Energiezellen.

Hierbei ist bei Bedarf auch ein Energieaustausch mit anderen Energiezellen notwendig. Dies muss in Zukunft so einfach sein, wie heute das Roaming in der Telekommunikation.

Franz Hein, EDNA-Initiative

Bausteine eines zellularen Netzes

Wenn die leitungsgebundene Energieversorgung wieder auf sichere Beine gestellt werden soll, dann muss man Spielräume schaffen, in denen sich die Versorgung "bewegen" sowie das Gesamtsystem "atmen" kann. Alles unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu optimieren und wie eine Zitrone auszuquetschen, wird auf Dauer nicht funktionieren.

Wer sich heute mit der Sicherheit der Netze beschäftigt, wird sich um diese Erkenntnis kaum drücken können. Derzeit wählt man beispielsweise den Begriff der netzdienlichen Anlagen, wenn man einem Netzbetreiber erlaubt, ein Ölkraftwerk zu bauen oder bauen zu lassen, was in Westdeutschland seit der Ölkrise in den 1970er-Jahren verboten war. Diese Anlagen dürfen dann nur als Reservekraftwerke zum Einsatz kommen, aber nicht am Markt teilnehmen.

Dies gilt auch für die gewaltigen Akkuspeicher, die letztlich nur dazu dienen, die Transportfähigkeit der Netze beizubehalten und die Sollfrequenz einzuhalten.

Selbstorganisierend verknüpfte Speicher zur Energiebevorratung wird man künftig auf allen Systemebenen benötigen. Im Kleinen und in der Niederspannungsebene werden das meist Akkuspeicher sein, in höheren Systemebenen könnte auch Wasserstoff als Energiespeicher zum Einsatz kommen. Was bislang noch ziemlich am Anfang steht, ist die sogenannte Sektorenkopplung, die den Sprung über die Grenzen der verschiedenen Energiesysteme wagt.

So mag es sinnvoll sein, im Falle eines Stromüberangebots dieses zu nutzen, indem man Warmwasser bereitet und damit das sonst dafür vorgesehene Gas einspart, das besser zu speichern ist. Dies kann abhängig vom spezifischen Einsatzfall durchaus sinnvoller sein, als den überschüssigen Strom in einem Akkuspeicher zwischenzulagern oder mit negativen Preisen gar teuer ins Ausland zu liefern.

Zudem wird sich die Situation im Stromnetz, zumindest im Bereich der privaten Haushaltskunden auch dadurch entspannen, dass immer mehr PV-Anlagen mit einem Speicher verbunden werden und die Energienutzer selbst dafür sorgen, dass ihr Sonnenstrom nicht nur am Tag zu Verfügung steht.

Die Stromversorgung, die in den 1920er-Jahren begonnen hatte, auf immer größere zentralere Kraftwerke zu setzen, ist derzeit auf dem Weg in die Zukunft und besinnt sich, wieder zu eher kleinräumigen, wabenförmigen Strukturen zurückzukehren. Damit können deutlich robustere Systeme entstehen, weil so zentrale Angriffspunkte eher vermieden werden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-5041575

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Europa-ist-am-Blackout-vorbeigeschrammt-5028090.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Die-Stromversorgung-ist-massiv-gefaehrdet-5030116.html
[3] https://www.heise.de/tp/news/Blackout-im-europaeischen-Stromnetz-5040157.html
[4] https://www.entsoe.eu/
[5] https://www.entsoe.eu/news/2021/01/26/system-separation-in-the-continental-europe-synchronous-area-on-8-january-2021-2nd-update/
[6] https://edna-bundesverband.de/