Die Kriegsschuldfrage und die Frage nach den Kriegsverbrechen – sind längst gelöst!

Angesichts des Krieges in der Ukraine können sich die Deutschen wieder aus tiefster Überzeugung für die militärische Eskalation begeistern. Dahinter steht eine Meta-Erzählung (Teil 3)

Dieser Krieg ist Putins Krieg. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unseren Frieden in Europa. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Dieser Krieg ist ein Angriff auf das internationale Völkerrecht. Dieser Krieg ist ein Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung. Dieser Krieg ist ein Angriff auf das menschliche friedliche Miteinander.

Annalena Baerbock, Rede im Bundestag zum Russlandkrieg, 27.2.2022

Unser Herz pocht heiß gegen das Unrecht dieses Krieges

Steinmeier-Rede, Konzert "Für Freiheit und Frieden", 27.3.2022

Klargestellt ist mit dieser Verlesung der Anklageschrift unter Berufung auf das Völkerrecht, dass die Richter, die hier ihres Amtes walten, erstmal in Berlin, Brüssel und Washington zuhause sind; ebenso der zuständige Gerichtsort der Rechtssprechung, Urteilsfindung, Urteilsverkündung, Strafzumessung und Bestrafung.

Ihres Amtes walten diese Richter, die zugleich als Chefankläger fungieren, in der nicht gerade bescheidenen Selbstgewissheit, Recht zu haben und zwar aufgrund eines unerschütterlichen Rechts- und Gerechtigkeitsbewusstseins. Mit dem ausgestattet wissen sie entlang ihrer welt- und geopolitischen Interessen bestens Bescheid über die Legalität und Illegalität, über die Legitimität und Illegitimität, über die Sittlichkeit oder Sittenlosigkeit von Gewaltanwendung durch andere Ihresgleichen zu urteilen.

Ihre richterliche Unparteilichkeit ist dadurch gegeben, dass sie im Namen der Menschlichkeit und Menschheit urteilen und handeln. Als solche Richter und Chefankläger mit globalem Weitblick können sie in Sachen Völkerrecht agieren, weil sie über die maßgeblichen polit-ökonomischen und militärischen Gewaltmittel verfügen.

Damit haben sie auch die Freiheit, entlang völkerrechtlicher Titel und Normen zu definieren, wann ein Angriffskrieg vorliegt und wann das "das Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung" (UN-Charta Art. 51) gegeben ist.

Im Fall eigener, demokratisch legitimierter Gewaltanwendung liegt per definitionem nie ein Angriffskrieg vor, mag die eigene Gewaltanwendung auch die territoriale Integrität und Souveränität eines fremden Landes gleichsam "in die Steinzeit" zurückgebomt und andernorts noch so viele Trümmerwüsten, Staatsumstürze oder failed states hinterlassen haben. Solche Gewaltanwendung setzt lediglich das, gerne auch als präemptiv betitelte, gewissermaßen antizipatorische "Naturrecht individueller oder kollektiver Verteidigung" in Kraft.

Im Falle Russlands ist die Sachlage anders: Weil es Russland ist, ist es eine unerlaubte Gewaltanwendung, ein unerlaubter Krieg. Weil es ein unerlaubter Krieg ist, ist es "Putins Krieg". Beides zusammen genommen ergibt: Es ist ein illegaler und ein illegitimer Krieg. Also liegt der Tatbestand eines "Angriffs"-Krieges vor. Moralisch-ethisch gewendet: eine "Aggression". Allerdings auch nur dieser Krieg. Das betont die Anklageschrift gleich sechsmal.

Die eigenen Gewaltvorhaben und Gewalthandlungen, die seit dem Feuersturm über Tokio vom 9.-10. März 1945 bis heute vollbrachten Gewalttaten der USA und der diversen Nato-Kriege, waren und sind, so gesehen, logischerweise keine Angriffskriege, keine Aggression. Das führen sie auch im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine vor, den sie tatkräftig am Laufen halten, in die Länge ziehen und so an der Spirale der Gewalt weiterdrehen.

Ihre faktische Kriegsbeteiligung ist schon immer mit einem "klaren Wertekompass" (A. Baerbock) ausgestattet, der zwischen Gut und Böse, zwischen erlaubter und unerlaubter Gewaltanwendung präzise zu unterscheiden weiß.

Was Russland angeht, so steht ihm, eben weil es Russland ist, das "Naturrecht" individueller Selbstverteidigung, das völkerrechtlich anerkannte Recht zum Krieg, das jus ad bellum als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, grundsätzlich nicht zu. Woraus folgt, dass, wenn Russland für sich das jus ad bellum geltend macht oder gemacht hat, es nie ein gerechter Krieg, kein bellum justum sein kann und sein konnte.

Höchst unbefriedigend ist andererseits, dass Russland seit 1949, fünf Jahre nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki durch das demokratische Amerika, zur Nuklearmacht aufstieg und mit diesem Gewaltpotenzial in der Hand für sich beansprucht zu entscheiden, wann es das jus ad bellum in Kraft setzt. Unter anderem diese Realität hat Russland zum Feind aller Feinde der amerikanischen Weltfriedensordung und des Nato-Westens gemacht.

Das qualifiziert Russland "zum Reich des Bösen" (Johannes Schillo) und legt es darauf fest, dass "der neue Feind der alte ist: Russland!" (Johannes Schillo)

Dennoch: Die Freiheit, für sich zu entscheiden, wann es das jus ad bellum nach Artikel 51 der UN-Charta in Anspruch nimmt, die hat sich Russland nicht nehmen lassen. So eben auch nicht in der für es existenziell empfundenen Ukraine-Frage angesichts seiner strategischen Einkreisung durch die Nato unter US-Führerschaft.1

Nachdem die USA und die Nato die russischen Vertragsvorschläge vom 15. Dezember 2021 zur klärenden Lösung in dieser für es alles entscheidenden geostrategischen Frage in ihrer schriftlichen Antwort als "inakzeptabel" mit dem bemerkenswerten Argument: "Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar" abgelehnt hatten und darüber hinaus Selenskyi in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2022 wie schon der ukrainische Botschafter A. Melnyk seit 2016 mehrfach, eine nukleare Wiederbewaffung der Ukraine unter Aussetzung des Budapester Memonrandums vom 5. Dezember 1994, in Ausicht gestellt hat, war für die Russische Föderation die rote Linie überschritten und der Einmarsch in die Ukraine begann am 24. Februar 2022.

Die nicht völkerrechtliche, sondern moralische Kriegsschuldfrage ist andererseits seit spätestens März 2021 längst dadurch geklärt, dass der US-Präsident in weiser Voraussicht den Präsidenten der Russischen Föderation für die Weltgemeinschaft verbindlich als "Killer" (Biden, März 2021) bestimmte. Gebahnt ist damit der Weg für das vorab bereits feststehende Urteil, dass im kommenden Krieg gegen Russland Putin ein Monster und die russische Kriegsführung ein Kriegsverbrechen sind.

Die mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine öffentlich inszenierte Kriegsschuldfrage war deshalb nie eine Frage, sondern eine Waffe, um den der ganzen Weltöffentlichkeit bereits bekannten Schuldigen, mit der ganzen moralischen Wucht eines "Kriegsverbrechers" (Joe Biden, 17. März 2022) zu belegen. Dies, um "den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist." (Carl Schmitt, 19322)

Was beweisen die Ereignisse in Butscha noch vor jeder näheren Klärung? Eben dies, dass Putin das unmenschliche Scheusal ist und die russische Kriegsführung demnach aussieht. In anderen Worten:

Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen. Die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir werden die Sanktionen gegen Russland verschärfen und die #Ukraine noch stärker bei ihrer Verteidigung unterstützen.

Annalena Baerbock am 3.4.2022 auf Twitter

Kriegsverbrechen verhindern die Richter und Chefankläger in Washington, Brüssel und Berlin, indem sie den Krieg in der Ukraine, in dem sich die per Kriegspropaganda in Umlauf gebrachten Vorstellungen vom Anderen als einem unmenschlichen Scheusal austoben, verlängern bis hin zur "Äußerste(n) Anwendung von Gewalt." (Clausewitz, 1832)3

So nimmt es kein Wunder, dass, und dieses mal offensichtlich gut dokumentiert, tatsächliche Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite eingestanden werden müssen.4 So gut dokumentiert, dass auch die Bild-Zeitung einräumt, die ukrainischen Kriegsverbrechen an russischen Kriegsgefangenen seien schwer anzuzweifeln5, was auch der Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych nicht in Abrede stellt.

Zur Sorge, ukrainische Kriegsverbrechen könnten dafür geeignet sein, in der westlichen Weltöffentlichkeit und in der Uno am klaren "Werte-Kompass" (A. Baerbock) der USA und der Nato gewisse Zweifel aufkommen und das kühne Projekt scheitern lassen, Russland aus dem UN-Menschenrechts-Rat zu bugsieren und, welch ein Traum, auch noch aus dem UN-Sicherheitsrat zu entfernen, gibt es andererseits keinen Anlass; weiß doch nicht nur die Bild-Zeitung, sondern die gesamte westliche Weltöffentlichkeit: an den offenbaren ukrainischen Kriegsverbrechen gegenüber russischen, gefesselten Gefangenen ist der allen bekannte neue, diesmal russische Hitler und der "russische Faschismus"6 schuld.

Damit ist nicht gesagt, russische Kriegsverbrechen seien ausgeschlossen. Vielleicht erweisen sich die Geschehnisse in Butscha und anderswo tatsächlich als von russischer Seite begangene Kriegsverbrechen. Bewiesen ist damit aber nicht die Scheusalhaftigkeit der russischen Volksseele und seines Hitlers, sondern die Barbarei des Krieges, zu dem sich die Staaten und Nationen dieser Welt in ihrer Konkurrenz gegeneinander im "Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung" (UN-Charta Art. 51) bekennen und damit den Kriegsverbrechen, die dem Krieg immanent sind, die freie Bahn verschaffen.

Das in den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 schriftlich fixierte humanitäre Kriegsvölkerrecht (jus in bello), wie die völkerrechtliche Kategorie "Kriegsverbrechen" selbst belegen das der Natur des Krieges innewohnende "rohe Element" (Clausewitz, 1832, a.a.O.: 18): kein Krieg ohne Kriegsverbrechen.

Die unter Inanspruchnahme völkerrechtlicher Kategorien und Normen moralisch gestellte Kriegsschuldfrage und die Frage nach den Kriegsverbrechen waren längst beantwortet, bevor die Kriegshandlungen in der Ukraine begannen. In der imaginären Figur eines neuen Hitlers ist der Schuldige benannt. Desgleichen die russischen Kriegsverbrechen: die haben schon stattgefunden, bevor sie stattfinden konnten. Ganz sind die Tiefen der russischen Volksseele aber noch nicht ausgelotet.