"Die Menschen brauchen Demokratie. Punkt!"
Interview mit dem libyschen Ex-Dschihadisten Noman Benotman über die libysche Revolution und die viel beschworene islamistische Gefahr
Noman Benotman kämpfte jahrelang gegen das Gaddafi-Regime und verbündete sich mit al-Qaida. Dann schwor er dem Terror ab und sieht heute große Chancen für ein Libyen ohne Gaddafi und ohne al-Qaida.
Der Libyer Noman Benotman ist Analyst der Londoner Quilliam-Foundation. Er war bis zum Jahr 2002 Mitglied der terroristischen "Libysch-Islamischen Kampfgruppe (LIFG)" und in Afghanistan Ausbilder in einem Al-Qaida-Trainingslager. Dort traf er mehrfach al-Qaida Chef Osama Bin Laden.
Inzwischen hat Benotman dem Terrorismus abgeschworen, schrieb mehrere Briefe an die al-Qaida Führer und rief sie auf, den Terror zu stoppen. Benotman lebt und arbeitet heute in London gilt als einer der besten Kenner des Terrornetzwerkes al-Qaida und der libyschen Islamistenszene. Er analysiert den militanten Islamismus und erarbeitet De-Radikalisierungsprogrammen für Islamisten. Am Montag kehrte Noman Benotman von einem zehntägigen Aufenthalt in Libyen zurück. Telepolis sprach mit dem Ex-Dschihadisten über die Rolle al-Qaidas in den arabischen Revolten.
Herr Benotman, welche Rolle spielen die Islamisten der al-Qaida im derzeitigen Volksaufstand in Libyen?
Noman Benotman: In dieser Situation, al-Qaida anzubringen, während das Volk getötet wird und das Regime weiter jeden Tag Dutzende Libyer tötet, speziell in Tripolis, ist sehr gefährlich. Diesen Konflikt so zu behandeln, wird mehr Islamisten und Terrorgruppen erzeugen, glauben Sie mir. Ich denke die Welt, wir, wir sind die Welt, die an Freiheit, Zivilgesellschaft und Demokratie glauben, wir sollten die Libyer unterstützen, ihr Schicksal zurückzugewinnen. Wenn wir das aber vergessen und al-Qaida anführen und über Libyen nur als Gefahr sprechen, dann vergessen wir die andere Seite der Münze. Ja, es gibt ein Sicherheitsrisiko, aber auf der anderen Seite gibt es eine große Chance, z.B. auf Freiheit und Demokratie.
Tunesien und Ägypten schienen Revolutionen ohne "Allahu Akbar!"- Rufe gewesen zu sein. In Libyen ist dies anders. Gibt es dort ein religiöses Element in der Revolte?
Noman Benotman: Wie kommen Sie darauf? Was hört man in den Straßen von Tripolis?
Auf einigen Amateur-Videos aus den Straßen Libyens hört man Demonstranten die "La illaha il allah!" (Es gibt keinen Gott außer Allah) und "Allahu akbar!" skandieren.
Noman Benotman:: Wenn man als Muslim hinaus geht und einer Gefahr gegenüber steht, dann sucht man spirituelle Unterstützung. Man versucht sehr stark zu sein, emotional und spirituell, besonders wenn man unbewaffnet ist und jemand auf einen schießt. Wenn Sie also Leute sehen, die "Kein Gott außer Allah" schreien, dann wollen sie damit auch die libyschen Soldaten daran erinnern: Wir sind Muslime, wir sollen Brüder sein, wieso tötet ihr uns? Sie schreien "Kein Gott außer Allah" ohne Waffen oder Schwert oder irgendetwas, es sind normale Leute, viele von denen beten nicht einmal.
Es gibt ein Sicherheitsrisiko, aber die Chancen überwiegen
: Also gibt es kein islamistisches Element im Volksaufstand gegen Gaddafi?
Noman Benotman:: Die Situation, diese Aufstände und Revolutionen, haben zwei Seiten. Gefahr und Chance. Und wir müssen uns entscheiden. Zuerst würde ich gerne die Leute auffordern, von "wir" anstatt von "uns und denen" zu sprechen. Wir glauben alle an Freiheit und Demokratie. Das Volk glaubt an Freiheit und Demokratie und wir sollten die Situation aus der Perspektive der Chance heraus betrachten.
Ja, es gibt ein Sicherheitsrisiko, vielleicht von einigen Terrorgruppen oder Radikalen, aber wir haben ebenso alle Chancen für die Errichtung oder Wiedererrichtung eines freien demokratischen Landes. Sobald freie demokratische Gesellschaften in irgendeinem Land im Nahen Osten entstehen, ist das der beste Weg, Extremismus zu bekämpfen.
Demokratien in Nordafrika sind also das beste Mittel um al-Qaida's Ideologie zu bekämpfen?
Noman Benotman:: Ja. Denken Sie an Ägypten und an die Muslimbruderschaft. Wie sie sich beteiligt hat an der Revolte, ist wirklich ermutigend für den Westen, mit ihr klar zu kommen. Die Muslimbrüder haben sich sehr, sehr klug verhalten und gaben niemandem die Chance, ihre Präsenz als eine Gefahr für die ägyptische Revolution darzustellen. Sie haben bewiesen, dass sie moderat sind, sie haben nach den Regeln gespielt. Denken Sie an Tunesien und Sheikh Ghannouchi (den tunesischen Oppositionellen und Islamisten-Führer). Er wird wegen seiner Toleranz von Islamisten aus seiner eigenen Bewegung kritisiert, sie denken er wäre zu moderat. Also müssen wir ihn ermutigen, ihn unterstützen und ihn nicht bedrohen.
Außer einer Geschichtsstunde zu Ägypten von al-Qaida-Vize Zawahiri gab es bislang keine Äußerung vom Terrornetzwerk Bin Ladens zu den arabischen Volksaufständen. Warum schweigt al-Qaida weiterhin?
Noman Benotman:: Es ist absolut klar, dass al-Qaida nichts mit den Volksaufständen zu tun hat. Was im Nahen Osten gerade passiert, ist ein Referendum der Völker. Die Menschen brauchen Demokratie. Punkt. Es ist ihr Wille und es ist zu 100 Prozent transparent und sichtbar.
: Und das einzige was al-Qaida jetzt anbieten könnte, wäre ein Taliban-ähnlicher Gottesstaat?
Noman Benotman:: Sie werten die Situation immer noch aus. Sie suchen nach einer Möglichkeit, für sich doch noch eine Rolle zu spielen. Das ist ganz natürlich. Wenn man eine Organisation mit einer ideologischen Agenda hat, ist so etwas sehr schwierig. Deshalb schweigen sie, beobachten die Situation und denken darüber nach, wie sie handeln könnten. Deshalb sage ich: Jetzt gibt es eine Chance. Aber wenn wir weiterhin "al-Qaida, al-Qaida, al-Qaida!" rufen, dann rekrutieren wir noch mehr Terroristen. Wir sollten uns auf die Möglichkeiten konzentrieren, statt auf das Sicherheitsrisiko. Es gibt eine Chance und eine Verantwortung für den Westen. Wenn der Westen ständig von Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechten redet, dann ist jetzt die Chance dafür.
Der vor wenigen Tagen zurückgetretene Botschafter Libyens bei der Arabischen Liga wurde heute zitiert mit den Worten Gaddafis-Regime werde "innerhalb weniger Tage fallen". Stimmen Sie ihm zu?
Noman Benotman: Vielleicht geschieht es in zwei Tagen, vielleicht in einem Jahr.
Aber es wird passieren?
Noman Benotman: Es gibt keine Möglichkeit für das Regime zu bleiben, es ist verloren.