Die Natur ist analog
Das Nervana-Projekt
Haben Sie schon einmal bemerkt, wie der Horizont in Computerspielen oft durch Nebel verdeckt oder durch Wolken verdunkelt wird? Oder haben Sie jemals bei einem Rennspiel das Auto so schnell fahren lassen, dass Sie sehen konnten, wie der Computer die Straße und die Fahrstreifen während des Fahrens dargestellt hat?
Der Grund dafür ist, dass ein Computer oder eine Spielkonsole aufgrund der begrenzten Verarbeitungskapazität des Mikrochips und der Eigenschaften der Grafikkarte so Bilder und Landschaften darstellen muss. Dinge wie ein Horizont sind so weit "entfernt" und so schwierig darzustellen, dass es einfacher ist, sie zu überdecken. Und da digitale Grafiken wie Polygone mit gestalteten Oberflächen soviel Speicher zur Darstellung benötigen, stellen die meisten Spiele nur den Teil der Welt dar, in dem man sich gegenwärtig gerade befindet. Jede neue Szene oder jeden neuen Raum gibt es solange nicht, bis man in sie oder in ihn nicht eingetreten ist.
Das ist der Moment, an dem Tom Barbalet, ein 22jähriges australisches Technikgenie, die Bühne betritt. Er hat, seit er ein Teenager war, an einer anderen, viel einfacheren Methode gearbeitet, wie man Computer dazu bringen kann, die Simulationen zu erzeugen, von denen Computerspiele, Virtuelle Realität und schließlich vernetzte "Konvergenzumgebungen" abhängen. Vor kurzem fuhr er durch das Silicon Valley, führte seinen selbstgebastelte Grafikcomputer vor und ließ jedermann, angefangen von den Designern bei Nintendo bis hin zu den Programmierern von Apple, schockiert zurück.
Während von älteren Computern Bilder durch einfache Gleichungen erzeugt wurden, um Linien, Kurven und Oberflächen darzustellen, lenkte die Erfindung von Grafikkarten und Polygonmaschinen alles in eine andere Richtung. Die grafische Technik wurde digital. Das war dieselbe Veränderung, wie sie auch in der elektronischen Musik geschah. Die alten Synthesizer benutzten ihren eigenen Schaltkreis, um Tonwellen, die "Moog"-Sounds der alten Horrorfilme, zu erzeugen. Neuere Maschinen enthielten "Samples" digital gespeicherter Sounds der wirklichen Welt. Je leistungsfähiger die Maschine ist, desto größer ist die Zahl der Samples und desto realistischer wird der Sound. CDs klingen für die Ohren manchmal ein wenig kalt, weil wir irgendwie unterbewusst die winzigen Abstände zwischen den aufgezeichneten Musiksamples hören können.
Computer verwenden jetzt digitale Grafiken, um die Bilder zu erzeugen, die wir uns anschauen. Die Grafikkarte im Computer oder in der Spielkonsole enthält das Äquivalent der "Samples" aus Rauch, Wasser und Schmutz, die ein Programm aufrufen kann, um die Bilder zu erzeugen. Deswegen sehen alle Computerspiele einander so ähnlich. Je besser das Bild sein soll, das wir haben wollen, desto mehr muss von der Grafikkarte gespeichert und vom Computer berechnet werden. Das ist der Hauptgrund, warum Intel des Pentium III und Apple seinen G4 entwickelt hat. Um digitale Grafiken verwenden zu können, ist die Verarbeitungskapazität eines Supercomputers notwendig. Und trotzdem sieht alles noch furchtbar aus.
Barbalets Methode der Landschaftsvisualisierung, die er den "Psi-Standard" nennt, löst sich von der Obsession der Grafikbranche auf Dinge wie Polygone, Texture Maps und Bildauflösung ab. In Wirklichkeit sind seine Verfahren überhaupt nicht digital. Angetrieben von dem Wunsch, hochqualitative grafische Simulationen mit nicht leistungsstarken Computern zu erzeugen, stieß Barbalet auf die Lösung: Man nehme die gleichen analogen Grafiken, die Computer in den alten Tagen verwendet haben.
Er beschloss, den Nintendo Gameboy als Maßstab dafür zu nehmen, wieviel Rechenkapazität ein Computer haben sollte (anders gesagt: sehr, sehr wenig), und entwickelte eine Reihe von Gleichungen, mit denen man Wellen, Texturen und Umrisse generieren kann.
Können Sie sich daran erinnern, wie Sie Parabeln und Ellipsen in der Mathematikstunde konstruiert haben? Es ist dieselbe Idee, allerdings mit dem Unterschied, dass Barbalet herausgefunden hat, wie man diese Gleichungen und viele andere kombinieren kann, um eine unendliche Menge an visuellen Formen zu erzeugen. Überraschenderweise sehen viele seiner einfachen Erzeugungen der wirklichen Welt weitaus ähnlicher als die Kombinationen der gesampelten Bits, die von digitalen Computern verwendet werden. Warum? Weil Barbalet Bilder von Dingen auf eine Weise erzeugt, die derjenigen sehr viel ähnlicher ist, die auch von der Natur verwendet wird, also indem einfache Befehle immer wieder wiederholt werden.
In der Natur verbinden sich Kohlenstoffatome mit anderen Kohlenstoffatomen zu kleinen Ringen, weil das von ihren Elektronen verlangt wird. Ganz ähnlich wachsen und verzweigen sich Farnpflanzen genau nach den einfachen Befehlen, die von ihrer DNA stammen. Die Natur setzt einfache mathematische Gleichungen ein, um die Materie in die komplexen Formen zu verwandeln, die wir überall um uns herum sehen. Barbalet hat herausgefunden, dass das Geheimnis, sehr dichte und realistisch aussehende Landschaften mit Gras, Wasser, Himmel, Vegetation und selbst Tieren zu erzeugen, darin liegt, einen Computer einfache Gleichungen iterieren zu lassen. Sie sehen so wirklich aus, weil sie von Grund auf erzeugt werden, wie dies auch in der Natur geschieht.
Vielleicht noch wichtiger ist, dass Barbalets einfache, befehlsgesteuerte Grafikroutinen viel leichter über Modems und Netze übermittelt werden können als riesige digitale Dateien. Das ist der Grund, warum Silicon Valley in dieses Verfahren ganz vernarrt ist: Er hat den Schlüssel zur Erzeugung virtueller Umgebungen mit einer Datengeschwindigkeit geliefert, die langsam genug ist, um über die Netzwerke des interaktiven Kabelfernsehens und so gar über die des gegenwärtigen Internet übertragen werden können.
Barbalet hat einen weiteren Tipp von der Natur übernommen und sein ganzes Nervana-Projekt als "öffentlich zugängliches Entwicklungsforum" organisiert, an dem jeder teilnehmen kann. Die Beiträge von Studenten und analogen Enthusiasten aus der ganzen Welt haben seine Arbeit auf unglaubliche Weise schneller vorangebracht.
Seine Methode für die Verwendung der Technologie enthält eine Lehre, die jeder, der mit interaktiver Technologie zu tun hat, beherzigen sollte: Wir müssen die Prozesse der Natur reproduzieren, anstatt ihre Produkte nachzuahmen. Nur dann kann eine virtuelle Realität entstehen.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Florian Rötzer
Copyright 1999 by Douglas Rushkoff
Distributed by New York Times Special Features