Die Propädeutik der Biedermänner
Kritische Anmerkungen zum Wertediskurs der Bürgerlich-Konservativen
„Das Wertkonservative ist wieder im Kommen, auch und gerade unter den Jüngeren. Der kulturelle Bruch, den die 68er in Deutschland vollzogen haben, bietet keine Zukunftsperspektiven.“
Diese Aussage von CSU-Generalsekretär Markus Söder in einem Interview steht repräsentativ für die Strategie, die in jüngster Zeit vor allem von jüngeren Unionspolitikern verstärkt betrieben wird, und zwar eine Wertedebatte zu führen, in der das Ziel verfolgt wird, durch Attacken auf die „bösen 68er“ die überholten Ideologien der Vergangenheit zu legitimieren, um diese für die tagespolitische Agenda anzuwenden. Diese Strategie erlebte ihren bisherigen Höhepunkt Anfang September 2007, als Söder gemeinsam mit den CDU-Politikern Stefan Mappus, Philipp Mißfelder und Hendrik Wüst in der F.A.Z. ein Positionspapier veröffentlichte: "Moderner bürgerlicher Konservatismus - Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss".
Die 68er und die Anständigen
Als „wesentliches Alleinstellungsmerkmal“ der Union wurde darin das so genannte „Bürgerlich-Konservative“ identifiziert, um damit die „heimatverbundenen Patrioten“, die „überzeugten Christen“ und die „wertbewussten Konservativen“ anzusprechen. Mit der Betonung des „Bürgerlich-Konservativen“ wurde ideologisch jedoch nichts Neues produziert. Brav auswendig gelernt wurden im Positionspapier die alten Thesen vom angeblichen Werteverfall der „kinderlosen Gesellschaft“ und der christlich-abendländischen Leitkultur usw. referiert. Der bürgerlich-spießige Wertediskurs funktioniert nach dem Sündenbock-Prinzip, das schon viele konservative Vorgänger angewandt haben:
Die 68er haben vor allem Bestehendes negiert und Bewährtes diskreditiert.
Söder, Mappus, Mißfelder, Wüst
Zur Revitalisierung wertkonservativer Politikausrichtung durch Söder und seine Mitunterzeichner kommt eine großer Bandbreite aktueller Buchveröffentlichungen hinzu, so dass die Protagonisten des „konservativen Zeitgeistes“, die man wahlweise als Neubürgerliche, Neo-Spießer oder Bürgerlich-Konservative bezeichnen kann, einen erheblichen Vorsprung im Wertediskurs haben.
Matthias Matussek, Peter Hahne, Udo Di Fabio, Frank Schirrmacher, Meinhard Miegel, Henryk M. Broder vertreten in ihren Publikationen folgende gemeinsame Grundthese, die auch von Söder und seinen Mitstreitern geteilt wird: Die Werte, die unsere Gesellschaft bislang zusammenhalten, befinden sich im Verfall, deshalb brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten, nämlich zu Anstand, Moral, Tugendhaftigkeit usw.. Die wichtigsten Einzelbestandteile, bzw. „Deutschlandverbesserungsmaßnahmen“ (Matussek), sind ein neuer Patriotismus, ein Bekenntnis zur christlich-westlichen Leitkultur und überhaupt das „Ende der Spaßgesellschaft“ (Hahne).
Eines haben die Neubürgerlichen bereits erreicht, nämlich die öffentliche Debatte zu bestimmen. „Haben wir schon die Scharia?“, titelte DER SPIEGEL am 26. März 2007. Und als Kronzeuge dafür, dass viele Gerichtsurteile bereits „Islam-Fundamentalisten in die Hände spielten“ kam Udo Di Fabio zu Wort, der die Toleranz der Justiz und die Grenzen des Grundgesetzes auslotete. „Der Zeitgeist ist konservativ aus Sehnsucht nach Strenge und Ordnung“, diagnostizierte Jürgen Busche, die nötige Begründung wurde nun von Söder u.a nachgereicht, denn „weil Deutschland derzeit anscheinend nach links rückt, muss eine bürgerliche Alternative erkennbar sein“ (Söder, Mappus, Mißfelder, Wüst).
Doch die neu verpackten, alten Thesen der Neubürgerlichen, Neo-Spießer bzw. Bürgerlich-Konservativen dürfen nicht ohne Widerspruch bleiben. Dieser Beitrag richtet sich explizit gegen den Vormarsch der modern verkleideten Biedermänner.
Wertediskurs mit Absolutheitsanspruch
Auf der analytischen Ebene lässt sich der Wertediskurs als die Kollision von zwei parallelen Gesellschaftsvorstellungen verstehen. Auf der einen Seite stehen die Verfechter einer Gesellschaftsstruktur, die sich zurücksehnen zur „guten alten Zeit“ und auf der anderen Seite jene, die dagegen eine Gemeinschaftsvision postuliert, die aus einer offenen, ungehinderten Gesellschaft besteht, die dem Individuum keine Lebensentwürfe, Ideale, Ideologien und Glaubensinhalte vorschreiben möchte.
Um die Sehnsucht nach der guten, alten Zeit zu begründen, bedienen sich die Neubürgerlichen einer raffinierten Linguistik und verwenden im Wesentlichen zwei kommunikative Tricks. Sie setzen in ihrer Begriffswahl auf die „richtigen Adjektive“ und sie stellen ihre eigene Gesinnungshaltung als Allgemeingut dar, d.h. als gesellschaftlich akzeptierten und unbestreitbaren Common Sense. Viele der Publikationen aus dem Kreise der Neubürgerlichen erheben einen dezidiert wissenschaftlichen Anspruch, der vor allem in den Büchern von Miegel und Di Fabio zum Tragen kommt, verbunden mit der Hoffnung, dass damit der gewünschte „Common Sense“ einfacher erreicht werden könne.
Da sie ihre Ausführungen mit konkreten Handlungsanweisungen verbinden - z.B. die „Verabschiedung vom Individualismus“ (Miegel) -, kann man von einer normativen Wissenschaftsauffassung sprechen. Nun ist Normativität als solche nicht zu beanstanden. So wird z.B. auch die kritische Friedensforschung - mein eigener Arbeitsbereich - mehrheitlich als normative Wissenschaft betrieben. Dabei werden „Normen“ als „überindividuelle und zugleich für jedes Mitglied einer Gesellschaft verbindliche Verhaltensregeln“ definiert. Das bedeutet jedoch, dass die geforderten Verhaltensregeln auf bestimmte gesellschaftlich konstruierte, intersubjektiv geteilte Normen begründet sind. Und natürlich beziehen sich diese Normen auf bestimmte Wertvorstellungen.
Doch wie sinnvoll ist es, deshalb von „unseren“ Werten sprechen? Gibt es so etwas wie ein universelles Wertekonstrukt, das für eine Gesellschaft als Ganzes, einen Staat oder eine Nation ja sogar für eine ganze Kultur gleich ist bzw. Allgemeingültigkeit besitzt?
Gesellschaftliche „Scheinmehrheits-Norm“
Die kritischen Zwischenfragen werden von den Bürgerlich-Konservativen schlicht ignoriert und ein Wertediskurs mit Absolutheitsanspruch geführt. Die Neubürgerlichen geben ihre eigenen traditionellen Werte als angeblich von der Mehrheit „gemeinschaftlich geteilt“ aus, konstruieren daraus eine gesellschaftliche „Scheinmehrheits-Norm“ und universalisieren damit ihre Moralvorstellungen.
Die moralische Verabsolutierung ist insofern bedenklich, da man nicht vergessen sollte, dass viele der wichtigsten Grundrechte in der deutschen Verfassung, die natürlich auf bestimmte Grundwerte zurückgehen, in erster Linie Minderheitenrechte sind, d.h. Schutzrechte der Minderheiten gegen potenzielle Diskriminierungen durch die Mehrheit. Dies betrifft sowohl die soziale, politische als auch religiöse Diskriminierung. Zur fragwürdigen moralischen Verabsolutierung kommt hinzu, dass die Unterschiede zwischen Normen, Werten, Standards und Regeln zu einem diffusen Konstrukt vermischt werden.
„Vormachtskrieg“ um Adjektive
Daraus ergibt sich die zentrale Kritik gegen die Konklusionen und politischen Forderungen, die von den Neubürgerlichen aus diesem Einheitskonstrukt abgeleitet werden. Diese Kritik richtet sich gegen den sehr geschickt geführten „Vormachtskrieg“ um Adjektive. Die Neubürgerlichen versuchen sich in einer durchschaubaren Propädeutik, die das Ziel verfolgt, die richtigen Adjektive zu besetzen, mit denen sich bestimmte Sekundärtugenden automatisch assoziieren sollen: „gesittet, korrekt, manierlich, rechtschaffen, zuverlässig, tüchtig, gewissenhaft, akkurat, artig, diszipliniert, brav, gut erzogen, sauber, pünktlich, ordentlich“. Das neubürgerliche Lieblingsadjektiv schlechthin lautet: „anständig“.
Doch man kann die konstruierte und instrumentelle Diskursstrategie auch gegen die Neubürgerlichen selbst anwenden, denn alle Adjektive, die auf positive und angeblich unersetzliche Sekundärtugenden verweisen, lassen sich auch negativ „übersetzen“: „kleinbürgerlich pedantisch, intolerant, kleinlich, übergenau, bürokratisch, pingelig, begrenzt, borniert, dogmatisch, engstirnig“. Das negative Gegenstück zu „anständig“ lautet: „spießig“.
Zu Recht charakterisiert Christian Rickens die neuen Bürgerlichen als die „neuen Spießer“. So bricht das Gerüst aus Adjektiven recht schnell zusammen und wird zu einem moralischen Bumerang. Hinter „Heimat“, „Nation“, „Gottesfurcht“ und „Nächstenliebe“ werden ganz andere Fassaden sichtbar: Gartenzwerge, Schäferhunde und sich hinter großen Hecken und weißen Zäunen versteckenden Einfamilienhäuser - „My Home is my Castle“.
Die Familie
Die Wirkungsweise des kommunikativen Tricks wird besonders deutlich, wenn die Neubürgerlichen zum Diskurs über die „Familie“ ansetzen. Auch hier kommt die Strategie der Verabsolutierung der eigenen Moralvorstellung zum Zuge, das eigene Weltbild wird zur Mehrheits-Norm erklärt. Die Neubürgerlichen verwischen den Unterschied zwischen einer Gesellschaft, welche die individuelle Privatsphäre achtet und einer Gesellschaft der Anmaßung und Heuchelei:
Was für eine Alptraumwelt sehnt sich Di Fabio da herbei, in der sich wildfremde Menschen erdreisten, mich wegen meiner Beziehungsführung gesellschaftlich gering zu achten?
Christian Rickens
Es ist die Alptraumwelt eines reaktionären Werte-Überwachungsstaats, der von gesellschaftlichen Anstandswächtern dominiert wird.
Familienpolitisch suggerieren die Neubürgerlichen eine „direkte Linie vom Höhlenmenschen zur Normalfamilie der Fünfzigerjahre“ (Rickens). Jedoch belegt ein genauerer historischer Überblick, dass die Fünfziger- und Sechzigerjahre in Deutschland und im Rest der westlichen Welt die absoluten Ausnahmedekaden waren. Nur während dieser zwei Jahrzehnte war die so genannte „bürgerliche Familie“ die gesellschaftliche Norm für die Mehrheit der Bevölkerung.
Die neubürgerliche Nostalgie - eine Nostalgie nach der „Ausnahme“ und nicht nach der „Norm“ - lässt sich darauf zurückführen, dass in der alten Bundesrepublik das konservative Familienbild „ein Bollwerk gegen den Osten“ (Helke Sander) darstellte. Zentral für die Familienpolitik der westdeutschen Nachkriegszeit war ihre Verknüpfung mit dem Kalten Krieg. Der neubürgerliche Familiendiskurs ist noch immer vom Denken des Kalten Krieges durchsetzt; dadurch verfällt der kommunikative Vormachtskrieg in einen zum Teil fragwürdigen und bedenklichen Wortschatz.
So z.B. in der Talkshow „Berlin Mitte“ im April diesen Jahres als Beatrix Selk-Schnoor vom „Deutschen Familiennetzwerk“ Krippenbetreuung wiederholt als „inhuman“ bezeichnete. Der Tiefpunkt der Debatte kam zum einen durch die Charakterisierung „Gebärmaschinen“ vom Augsburger Bischof Mixa, aber vor allem durch Christa Meves mit der Aussage:
Krippenerziehung in der Sowjetunion zerstörte ein Volk.
Trotz der Beschimpfungen durch die Neubürgerlichen entscheiden sich viele Frauen dafür, einen eigenen Beruf zu haben - den haben Selk-Schnoor und Meves übrigens auch! Frauen sehnen sich nach einer sozialen Rolle neben jener der Hausfrau und Mutter, während die Ehe nicht mehr länger ein „Zweckbündnis zur Kinderaufzucht“ ist. Kinder lassen sich auch von unverheirateten Paaren aufziehen, und zwar ohne pathologische Folgen.
Leitkultur
Das signifikanteste Symbol der verabsolutierenden Diffusität des neubürgerlichen Wertediskurses sind neben dem Thema „Familie“ die politischen Forderungen, die sich mit den Begriffen „Leitkultur“ bzw. „europäische Leitkultur“ verbinden. Auch hier bestimmen die Neubürgerlichen weitgehend die Debatte und sehen sich durch die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen bestätigt, was darauf zurückzuführen ist, dass man entgegen dem jahrzehntelang dominierenden Säkularisierungsparadigma weltweit eine Rückkehr der Religion bzw. der Religiosität feststellen kann.
Nicht zuletzt Ereignisse wie der „Karikaturenstreit“ im Jahre 2006 belegen das Phänomen der Revitalisierung von Religionen und religiösen Akteuren in vielen nationalen Arenen, aber auch auf der weltpolitischen Bühne. Während Peter Hahne „Holt Gott zurück in die Politik“ forderte - denn der „atheistische Fundamentalismus“ stellt für Hahne die größte Bedrohung „unserer Gesellschaft“ dar -, jubelte Samuel Huntington im August 2005 „Gott ist wieder da!“.
Jenseits dieser neubürgerlichen Uneinigkeit (Ist Gott nun „wieder da“ oder muss man ihn zurückholen?) verbindet alle Neo-Spießer die berühmte „Clash“-These von Samuel Huntington. Darin geht er von der Annahme aus, religiöse Überzeugungen sind „urwüchsige Antriebskräfte“ menschlichen Denkens, Wertens und Handelns und bringen deshalb Angehörige unterschiedlicher Glaubensrichtungen zwangsläufig gegeneinander auf und treiben sie unweigerlich in Konflikte. Diese Grundannahme wird vom Göttinger Politologen Bassam Tibi geteilt. Dessen Lösungsvorschlag, den Kulturkampf zu verhindern, ist die Institutionalisierung einer Leitkultur. Er präzisierte den Begriff im Sinne einer „europäischen Leitkultur“ und definierte ihn als den demokratischen, laizistischen sowie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierten Wertekonsens.
Der Theologe Hans Küng kritisiert die Darstellung des Islams durch die westlichen Medien, welche die Religion stets als „Feindbild“ propagieren und dadurch Leitkultur-Forderungen legitimieren. Um dieses Feindbild am Leben zu halten, zeigen Medien regelmäßig Fanatiker, Terroristen, Ölscheichs oder verschleierte Frauen, verbinden den Islam mit einer Intoleranz nach Innen, mit einer Militanz nach Außen und mit gesellschaftlicher und kultureller Rückständigkeit. Dagegen betont Küng die Chance einer inter-religiösen Verständigung als Alternative zu Kulturkampf und Leitkultur. Islamische und westliche Werte sind durchaus vereinbar, nämlich in einem alle Religionen gemeinsamen ethischen Kern, den Küng als „Weltethos“ definiert.
Zu den heftigsten Kritikern der Leitkultur-Forderung gehört neben Küng der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer. Nach Oberndörfer besteht der Kern der kulturellen Freiheit des modernen Verfassungsstaates in der individuellen Freiheit der Religion und Weltanschauung. Sie war das eigentliche Fundament der politischen Freiheit. Aus der individuellen Freiheit der Kultur im modernen Verfassungsstaat folgt, dass die Kultur „keine verbindlich vorgegebene kollektive Orientierungsgröße sein kann“. Denn es existieren keine „nationalen Religionen oder Kulturen, die für ihre Bürger verbindlich gemacht werden dürfen.“
Die Kritik an der Leitkultur kann sogar noch einen Schritt weitergehen: „Was aber ist das spezifisch Deutsche an der Kultur Deutschlands?“, fragt sich Oberndörfer. Auch der Rückgriff auf eine „europäische Leitkultur“ kann nur misslingen, denn zur europäischen Geschichte gehören nicht nur Goethe und die Aufklärung, sondern auch Ereignisse wie die Kreuzzüge, der Kolonialismus und die NS-Zeit. Die entscheidende Frage an Söder, Mappus, Mißfelder, Wüst und die anderen „Leitkultur“-Prediger ist daher folgende: Von welchen historischen Ereignissen soll sich denn die arabische Kultur leiten lassen?
Gegenmodell: Die offene Gesellschaft
Oberndörfers Gegenmodell ist die „offene Gesellschaft“. Kulturelle Werte dürfen individuell interpretiert, akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Jede Kultur besteht somit unvermeidlich aus Mischungen. Begrenzt wird der kulturelle Pluralismus allein durch die Verfassung und die von ihrer rechtlichen und politischen Ordnung gesetzten Schranken. Der Soziologe Gerhard Hauck hat wiederholt auf den Prozesscharakter von „Kultur“ aufmerksam gemacht. Entgegen einem essentialistischen Verständnis ist Kultur kein Container und nichts Festes.
Auf diese Weise lässt sich das Alternativmodell zur neubürgerlichen Spießergesellschaft klar umschreiben: eine kulturell offene, ungebremste und unblockierte Gesellschaft. Offenheit beruht nicht auf Egalität, sondern auf einem Bekenntnis zum Individualismus. Dieser wird jedoch von den Neubürgerlichen stets mit Egoismus gleichgesetzt. Dagegen hat „Egoismus (...) mit Individualität so viel zu tun wie Syphilis mit Liebe.“ (Mathias Horx)
Auch hier kann man den Spieß umdrehen und die kritische Frage in Richtung Söder, Mappus u.a. stellen: Wer sind eigentlich die wahren Egoisten? Es sind nicht die 68er oder deren Kinder, sondern es sind jene, die keine verbindenden Brücken bauen, sondern gesellschaftliche Barrieren und Blockaden errichten bzw. aufrechterhalten wollen. Diese abstrakte Behauptung lässt sich am Politikfeld „Bildung“ konkretisieren. Denn am Beispiel „Bildung“ lässt sich festmachen, wie sehr es unserer Gesellschaft an tatsächlicher Offenheit fehlt.
Papas Geldbeutel
Wenn man überhaupt von einem Werteverfall sprechen kann, dann ist mit Sicherheit ein Wertemangel darin zu sehen, dass in keiner anderen Industrienation die berufliche Zukunft der Kinder so stark von „Papas Geldbeutel“ abhängt wie in Deutschland. Es gibt keine „Durchlässigkeit“, bestenfalls eine nach unten. Die viel zitierte Pisa-Studie belegte, dass die Chancen eines Arbeiterkindes, in Deutschland das Abitur zu erreichen, fünf- bis sechsmal schlechter sind als die eines Mittelschichtkindes - die Kinder der Neubürgerlichen. Und die Mittelschichten setzen alles daran, selbst eine „geschlossene Gesellschaft“ zu bleiben.
Zu diesem Ergebnis kam Michael Hartmann, Soziologe an der TU Darmstadt, in einer Studie über Eliten in Deutschland. Danach sind die Rekrutierungswege und Karrierepfade von den Exklusions-Strategien des Neo-Bürgertums dominiert, während für die Arbeitnehmerschicht die Zugangswege abgeschnitten werden. Es ist ein Prozess der sozialen Schließung, der dazu führt, dass die Elitenrekrutierung in Deutschland an einen finanziellen Selektionsprozess gebunden ist.
Die soziale Abschottung und die "wahren Leistungsträger"
Die empirisch belegbare soziale Schließung unserer Gesellschaft ist ein handfestes Zeichen für die extreme kognitive Dissonanz, die in neubürgerlichen Aphorismen wie z.B. in Wednungen „Kultur der Freiheit“ (Di Fabio) oder die „wahren Leistungsträger“ (Söder, Mappus, Mißfelder, Wüst) steckt. Die kognitive Dissonanz verschleiert, dass Gerechtigkeit und Fairness nur theoretisch gegeben sind und faktisch ausschließlich für die Kinder der Neubürgerlichen vorgesehen. Ist das ein Zeichen von Anstand, von Werten oder von deutschen Tugenden? Söder, Mappus und Co. behaupten, dass manchen „überhaupt nichts mehr heilig ist“. Ist Bildung den Neo-Konservativen denn nicht „heilig“ genug, um sie allen gleichermaßen zuteil werden zu lassen?
Doch in einem Punkt erweisen sich „anscheinend“ sogar die Neubürgerlichen bzw. Neospießer manchmal als lernfähig.
Zu unserer christlich geprägten Kultur der Menschenwürde gehört ganz entscheidend auch die Achtung des menschlichen Lebens von seinem Anfang und bis zu seinem Ende.
Söder, Mappus, Mißfelder, Wüst
Im August 2003 klang das noch ganz anders:
Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.
So Philipp Mißfelder als damaliger Bundesvorsitzender der Jungen Union, der verlangte, die Leistungen der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung auf eine reine Grundversorgung zu reduzieren. Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen, erklärte er.
Hinter dem Wertediskurs der Bürgerlich-Konservativen verbirgt sich jedoch nicht nur ein armseliges Diskussionsniveau (siehe Mißfelder oder Hahne), das zuweilen einen bestimmten Unterhaltungswert hat und man problemlos verkraften könnte, sondern auch ein bedrohliches Brandstifterpotenzial. Was war denn damals das „Bewährte“ bzw. das „Bestehende“, das von 68ern „negiert“ bzw. „diskreditiert“ wurde?
Nichts anderes als die spießige, biedermännische und apologetische deutsche Nachkriegsgesellschaft: „Kopf in den Sand und Augen verschließen“ - keinerlei konstruktive Vergangenheitsbewältigung wurde zugelassen. Die 68er haben nicht gegen Tischgebete und Ehrlichkeit rebelliert, sondern dagegen, dass jene Brandstifter, die den Reichstag in Brand gesetzt hatten, sich erneut die Macht im Nachkriegsdeutschland verschafften.
Erinnern wir uns an Max Frisch: Der brave Biedermann wurde am Ende selbst zum Brandstifter. Doch bleiben die Neo-Spießer von intellektueller Gegenwehr verschont, so können die Biedermänner gleichzeitig zu Brandstiftern werden.
Wertediskurs auch von links
Im Jahr 1998 beklagte der amerikanische Neocon William Bennett, der unter Bush Sen. und Reagan in Regierungsämtern war, dass in der amerikanischen Öffentlichkeit immer noch ein „Death of Outrage“ (so der Titel seines Buches) vorhanden sei. Bennett vermisste den nötigen konservativen Widerstand gegen Clintons („anscheinender“) Zerstörung der richtigen, anständigen Ideale.
Doch seit der so genannten „Gingrich-Revolution“ sind die rechten Radio- und Fernseh-Talkshows unüberseh- und unüberhörbar eifrig darum bemüht, Millionen von Menschen ihre Botschaften einzuprägen. Im Zuge der „Gingrich-Revolution“ wurde diese Form des „Hate Talk“ in der medialen Öffentlichkeit fast unaufhaltsam. Aus der von Bennett geforderten Empörung entstand die neokonservative Revolution mit ihren bekannten fatalen Folgen für die USA und für die Welt.
Blickt man in den deutschen Blätterwald und in die Liste der Publikationen, so gibt es im deutschen Kontext einen neuen „Death of Outrage”, jedoch aus der umgekehrten Richtung. Es fehlt am nötigen Widerspruch gegen den moralischen Alleinvertretungsanspruch der Neubürgerlichen. Der „konservative Zeitgeist“ und dessen Sehnsucht nach Disziplin, Heimatliebe und Anstand ist nichts anderes als der Wunschtraum einer „überholten Gesellschaft“ (Rickens). Und es ist bedenklich, dass dieser Wunschtraum zurzeit vor allem von jüngeren Unionspolitikern geträumt wird. Ihnen sollte nicht unwidersprochen bleiben, der Wertediskurs muss auch auf der linken Seite des Parteienspektrums geführt werden.
Marcel M. Baumann
Politikwissenschaftler und Friedensforscher
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg und am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Christiane-Rajewsky-Preissträger 2007 (verliehen von der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung)