Die Rothschilds als antisemitisches Feindbild

Seite 2: Antisemitismus und die Selbstbewegung des Geldes

Nahezu alle Anhänger von Verschwörungsnarrativen sind somit von einem dumpfen, nicht zu konkretisierenden Gefühl der Ohnmacht, der Fremdbestimmung des eigenen wie des gesellschaftlichen Lebens beherrscht, das sie nicht konkret verorten können - was folglich in der manischen Suche nach konkreten Verschwörungen mündet (und sei es eine Reptilioiden- oder Kondesstreifenverschwörung).

Und dieses Gefühl ist auch wirklich begründet, es stellt gerade keine bloße Illusion dar. Wie bei allen Ideologien, lässt sich auch beim Verschwörungsglauben ein Körnchen verzerrter Wahrheit finden. Die Anhänger von Verschwörungsideologien spüren dumpf, dass die Menschen im Kapitalismus ihre eigene Gesellschaft nicht kontrollieren, dass sie einer unkontrollierbaren Eigendynamik des Verwertungsprozesses des Kapitals ausgesetzt sind, die ihnen als eine fremde, anonyme Macht gegenübertritt.

Im Kapitalismus herrscht das Kapital als eine verselbstständigte, widersprüchliche Dynamik, die von den Marktsubjekten unbewusst hervorgebracht wird, um ihnen dann als eine fremde, naturwüchsige Dynamik entgegenzutreten - etwa in Form der berüchtigten "Sachzwänge". Dieser als Fetischismus bezeichnete Prozess der Selbstbewegung des Kapitals konstituiert sich marktvermittelt "hinter den Rücken der Produzenten", wie es Karl Marx formulierte.

Die Anonymität der Märkte

Die Anonymität der Märkte, auf denen alle in Konkurrenz befindlichen Marktsubjekte ihre Profite zu maximieren trachten, lässt gesamtgesellschaftlich und global diese widersprüchliche Dynamik des Kapitals entstehen, die gerade in Krisenphasen den irrationalen Charakter des kapitalistischen Verwertungsprozesses und dessen ungeheures zerstörerisches Potenzial offenbart.

Die Realität ist somit viel erschreckender als alle Wahnvorstellungen einer hinter den Kulissen des ablaufenden, allmächtigen Verschwörung - so abstoßend einzelne Akteure wie etwa der Amazon-Oligarch Bezos bei der Ausbeutung ihrer Lohnabhängigen auch agieren mögen. Da ist niemand hinter dem Vorhang, der in letzter Instanz die Strippen zöge, den Gang der Dinge des kapitalistischen Systems irgendwie "steuerte". Das Weltsystem ist von einem blind prozessierenden Verwertungszwang beherrscht.

Das Geld, das durch die Ausbeutung von Lohnarbeit zu mehr Geld werden muss, verselbständigt sich konkurrenz- und marktvermittelt gegenüber den Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle. Das die Verschwörungsideologen umtreibende Gefühl der Heteronomie, des Ausgeliefertseins an übermächtige, naturhaft erscheinende Gesellschaftskräfte, es rührt somit gerade von dieser gesamtgesellschaftlichen "Verselbstständigung" des Kapitalverhältnisses bei seinem uferlosen Formwandel (Geld - Ware - mehr Geld) gegenüber den Marktsubjekten.

Die ganzen Krisen und Katastrophen der kapitalistischen Gegenwart und Geschichte, die immer wieder Verschwörungsideologien hervorbringen, werden gerade durch diese in sich widersprüchliche Kapitaldynamik hervorgebracht, die Karl Marx auf den Begriff des automatischen Subjekts brachte.

Das Kapital vollzieht den Automatismus seiner höchstmöglichen Selbstvermehrung qua Lohnarbeit gesamtgesellschaftlich mit der Festigkeit eines Subjekts - wobei dieser "subjekthafte" Automatismus blind ist für die Verheerungen, die er der Natur und Gesellschaft zufügt.

Und es sind gerade der Verschwörungswahn und letztendlich der Antisemitismus, in denen sich dieser absurde und monströse gesellschaftliche Fetischismus des Kapitals ideologisch verzerrt spiegelt, bei dem konkrete Dinge in ihrer gesellschaftlichen Eigenschaft als Waren und konkrete Menschen in ihrer Funktion als Marktsubjekte von abstrakten, scheinbar bösartigen, gleichsam unsichtbaren Mächten beherrscht zu sein scheinen.

Gerade in Krisenphasen, wenn die inneren Widersprüche des Kapitals voll ausbrechen und millionenfach Menschen in den Abgrund reißen, wie etwa in Folge der Weltwirtschaftskrise 1929, gewinnt auch die Suche nach den "schuldigen" Bösewichten auftrieb - die von den Nazis in der berüchtigten jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung verortet wurden.

Das gute und das schlechte Kapital

Hierbei fand eine ideologische Aufspaltung des Verwertungsprozesses des Kapitals statt, um selbst in einer schweren kapitalistischen Krise deren negative Folgen auf ein "Außen" jenseits des Kapitals projizieren zu können: einer "guten", konkreten Seite, dem "schaffenden" nationalen Kapital, wurde eine "böse", abstrakte und internationale Seite entgegengestellt, die im Wahnbild des jüdischen Finanzkapitals als Träger der Weltverschwörung imaginiert wurde.

Diese für den Nationalsozialismus charakteristische, aus der Verdinglichung des Denkens resultierende Pseudo-Kapitalismuskritik ermögliche es somit, am Kapitalismus in seiner konkreten, warenproduzierenden Gestalt festzuhalten, während zugleich die durch Nazideutschland betriebene Auslöschung des europäischen Judentums im Holocaust das abstrakte, raffende "jüdische Finanzkapital" vernichten sollte.

Diese Aufspaltung zwischen dem guten nationalen, "schaffenden" Industriekapital und dem bösen, "raffenden" Finanzkapital, das keine Heimat kenne, ist somit zentral für die Vernichtungsideologie der Nazis. Sie glaubten daran - und sie handelten danach (Dies macht übrigens auch in der gegenwärtigen Systemkrise alle verkürzte Kapitalismuskritik, die sich nur auf die Finanzmärkte fokussiert, so gefährlich, da sie dieser Wahnlogik Vorschub leisten kann).

Der "Jude" diente den Nazis letztendlich zur ideologischen Personifizierung der gesellschaftlichen Realabstraktion des automatischen Subjekts, die den kapitalistischen Fetischismus konstituiert. In der jüdischen Weltverschwörung fungiert das antisemitische Wahnbild des Juden als das konkrete Subjekt der fetischistischen Selbstbewegung des Geldes.

Und daran, an diesem genozidalen Kern des modernen Antisemitismus, hat sich nicht viel geändert, wie es die aktuellen Beispiele illustrierten, wo immer noch jüdischen Finanzkapitalisten für Klima- oder Flüchtlingskrisen von Verschwörungsbewegungen verantwortlich gemacht werden.

Solange die Gesellschaft nicht die Kontrolle über ihren eigenen Reproduktionsprozess erlangt, solange die Menschen dem Fetischismus des Kapitals in all seinen Aggregatzuständen ausgesetzt sind, wird - gerade in Krisenphasen - solcher Verschwörungswahn, der das automatische Subjekt des Kapitals in Sündenböcken zu konkretisieren versucht, immer wieder - allen Tabus zum Trotz - Auftrieb finden.