Die Selbstabstempler
Tätowierungen als hautintegrierte Visitenkarten für das neue Spießertum
Der Sommer kommt, die Blumen blühen, die Vögel zwitschern. Und das weltgrößte Freilichtmuseum für schlechte Kunst hat wieder Saison. Es gibt Dinge, die sind auf den ersten, zweiten und dritten Blick so durchgängig schlecht, dass die Kritik nicht weiß, wo sie ansetzen soll. Wenn sie überall ansetzen kann, dann wird der Anfang schwer, und genauso ist es bei der Tätowierung, dem dümmsten Volksbrauch nach der Vollverdirndelung deutscher Innenstädte und dem Schuhplatteln.
In der Tat, wo soll man anfangen? Bei den giftigen Farben? Bei der offenkundigen Bescheuertheit vieler Tätowierter?
Das wäre sicher ein Einstieg, aber hat man damit den Kern der Sache schon getroffen? Vielleicht muss man zusätzlich ins Spiel bringen, dass Tätowierungen nicht nur die Erfindung von Gesellschaften sind, in denen heutzutage kein vernünftiger Mensch mehr leben wollen würde, sondern auch in der jüngsten Vergangenheit bei der Begehung der schlimmsten Gräuel halfen, die die Welt je gesehen hat, und zwar bei Opfern und Tätern?
Wäre der Hinweis zielführend, dass der Mist im Alter oft zerläuft wie Tinte auf einem Blatt Löschpapier und dann noch hässlicher aussieht als ohnehin schon?
Es gilt: je jünger man ist, desto stärker wirkt sich die Hautveränderung auf das Tattoo aus. Durch die Zellerneuerung der Haut werden gestochene Linien breiter, weshalb zu klein geratene Motive (oder schlecht gestochene Tattoos) schnell "verlaufen". Abhängig vom Hauttyp und dem Alter kann sich die Linienstärke innerhalb von sieben Jahren verdoppeln und nach 14 Jahren sogar drei- bis viermal so dick sein. Lässt die Zellerneuerung dann altersbedingt nach, kommen Runzeln und möglicherweise sogar Faltenwürfe der Haut hinzu. Einst kunstvolle Motive drohen zu undefinierbaren farbigen Flächen zu werden.
Tattoos im Alter
Und natürlich kann die ganze Sache auch von Tag 1 an schon ordentlich in die Hose gehen.
Theoretisch könnte man sagen, dass das nun komplett die Sache der Leute ist, die sich auf diese Weise abstempeln lassen. Auch der Einwand, dass Tätowierungen bisweilen echte Kunst sind, liegt nahe. Aber letzteres ist nur eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, und ersteres heißt ja nicht, zu verschweigen, dass sich arme Lichter massenhaft Autolack und Industrieruß in die Haut stechen lassen, weil sie denken, dass die Ergebnisse cool aussehen.
Wie ist das alles zu verstehen? Eine grundsätzliche Bereitschaft zur Selbstverdinglichung und Selbstverletzung paart sich mit dem Wunsch, Identität zu gewinnen, interessant oder wichtig zu sein. Leute, die bereit sind, ihre Haut für nationale Symbole herzugeben, für die ewig gleichen Motive aus Tier- und Fabelwelt, aus der Religion, für Marken- und Parteienlogos, Bandensprüche und Ähnliches - die sind noch zu ganz anderen Dingen bereit.
Analog gilt das auch für die Masochisten, die sich die Namen von Partnern oder Familienmitgliedern in die Haut stechen lassen: Der gegen die Freiheit zur Umentscheidung gerichtete Impuls ist ein barbarischer. Gleichzeitig verleiht eine Tätowierung als überkommenes Kennmal von indigenen Völkern, Matrosen und Kriminellen ihrem Träger einen gewissen Hauch von Skandal, Aufruhr und Wildheit.
Der zeitgenössische Spießer kümmert sich nicht mehr um Bügelfalten, saubere Krägen und den Knick im Sofakissen, sondern um etwas, das wie das Gegenteil aussieht, aber das Gleiche meint: die Konformität der Phantasielosen. Man trägt ein Full Sleeve, das man zur Arbeit bei der Bank, auf dem Amt oder in der Klinik mit einem blickdichten Hemd abdecken muss. In der Freizeit geht es dann zu Konzerten von Bands, die auch aus Tätowierten bestehen, und man kann sich einen Abend oder ein Wochenende lang jung und verrückt vorkommen.
Der Spießer hat Spaß am konformen und geduldeten Krawall, während seine Tätowierungen immer wieder eine Visitenkarte abgeben, die von echtem Gehorsam und scheinbarer Rebellion kündet.
Insofern ist die Zunahme der Ausstellungsstücke im weltgrößten Museum für schlechte Kunst ein Anzeichen für solide Barbarisierungstendenzen in der Gesellschaft. Und während man über einzelne Selbstabstempler lachen kann, ist die Tendenz als ganze schon weniger lustig.