"Die Türkei ist unter einer Wolke aus Angst"
Seite 2: "Angst ist eine globale Krankheit, die wir heilen müssen"
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In Ihrem neuen Buch "Tut was!" plädieren Sie für eine "aktive Demokratie" - also dafür, dass jeder Bürger sich auch zwischen den Wahlen aktiv in gesellschaftliche Prozesse einbringt.... Was ist mit Bürgern, die sich zurückziehen, weil sie glauben, ohnehin nichts bewegen zu können?
Can Dündar: Sie müssen fühlen, dass sie Einfluss haben. Im Moment merken sie nur, dass ihre Lage schlechter wird. Es gibt die Flüchtlingskrise, wirtschaftliche Probleme, selbst in den demokratischsten Ländern fühlen viele Menschen, wie sich etwas verändert. Und eines Tages fährt ein Truck in einen Weihnachtsmarkt oder eine Bombe explodiert. Es ist nicht mehr weit weg in Syrien oder im Irak, sondern im eigenen Garten. Die ganz normalen Bürger merken, dass der Krieg bei ihnen ankommt. Das Problem und der Angriff auf unsere Freiheit sind heute global. Und deshalb müssen wir auch unsere Rechte global verteidigen.
In der Türkei hat Erdogan Umfragen zufolge noch immer gut 40 Prozent der Bevölkerung hinter sich; in Deutschland haben zuletzt rund sechs Millionen Menschen die rechtsradikale AfD gewählt. Auch in anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas erhalten rechte bis rechtsradikale Parteien und Bewegungen gerade enormen Zulauf. 2015 haben die vielen Terroranschläge Erdogan nicht geschwächt, sondern gestärkt. Woran liegt das? Aktive Demokratie bedeutet ja auch, genau solche Entwicklungen hin zur radikalen Rechten zu verhindern ...
Can Dündar: Genau. In meinem Buch erkläre ich, dass das größte Problem die Angst ist. Angst regiert heute die Welt. Menschen treffen ihre Wahlentscheidung basierend auf ihren Ängsten. In Deutschland wollen sie keine Flüchtlinge, also wählen sie AfD. In den USA träumen sie von einer Mauer zu Mexiko und wählen Trump. In Russland wählen sie Putin, weil er ihnen eine neue Identität gegeben hat. Wenn man das Angstproblem löst, kann man all diese totalitären Politiker loswerden. Angst ist eine globale Krankheit, die wir heilen müssen. Und weil sie global ist, bringt es nichts, uns abzuschotten, im Gegenteil, wir müssen die Türen füreinander öffnen.
In Ihrem Buch schreiben Sie: "Häuser mit fest verschlossenen Türen setzen mangels Lüftung Schimmel an, in ihnen wird man krank. Für Staaten gilt dasselbe."
Can Dündar: Nationalismus war immer ein Problem. Wobei es sich in der EU zeitweise aufgelöst hatte und nun zurückkehrt. Letzte Woche war ich in England, und dort hieß es: Wir sind keine Europäer mehr, wir sind Briten. Auch in Deutschland wollen viele nicht in der EU bleiben. Sie fragen, warum sie für andere Länder zahlen sollen. Auch das sind Konsequenzen der Angst. Sie führt zu totalitären Führern, und diese bringen den Nationalismus zurück. Putin, Trump, Erdogan sind nicht die Ursache, sondern das Ergebnis. Deshalb müssen wir alle als Opfer unserer Ängste zusammenkommen.
Angenommen, Erdogan verliert die Wahl am 24. Juni und der nächste türkische Präsident hieße Muharrem Ince: Wie würden Sie reagieren?
Can Dündar: Ich würde zurückkehren. Direkt am nächsten Tag.
Glauben Sie, dass Sie sich dann in Istanbul frei bewegen könnten?
Can Dündar: Ich glaube schon. Es wird eine andere Stimmung herrschen als jetzt. Ich glaube nicht, dass die Menschen in der Türkei voller Hass sind. Ohne einen wie Erdogan würden die Leute anders reagieren. Wenn Erdogan seine Macht verliert, wird ihm niemand mehr folgen. Die meisten werden sagen: Das wussten wir doch vor einem halben Jahr schon!
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