"Die Ukraine liegt doch in Europa, nicht hier bei uns"
Ein Besuch in der sibirischen Metropole Irkutsk
Auf dem Zentralmarkt von Irkutsk herrscht reges Treiben. In der zweigeteilten großen Markthalle scheinen die Verkaufsstände kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen, angesichts der hier präsentierten Vielfalt von Waren. Neben allen Arten von Lebensmitteln werden auch Alltagsgegenstände, Blumen und Genusswaren den Besuchern zum Verkauf angeboten. Die Menschenmenge, welche sich dichtgedrängt durch die Reihen schiebt, steht stellvertretend für die soziale Struktur der ostsibirischen Metropole, die man angesichts ihres gut erhaltenen architektonischen Erbes, auch als das "Paris des Sibiriens" zu bezeichnen pflegt.
Mit Frankreich wurde Irkutsk auch schon im 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht. Am 14. Dezember 1825 erhoben sich hier adelige Offiziere gegen die Selbstherrschaft des Zaren und gegen die Leibeigenschaft. Diese Offiziere hatten zuvor Napoleon aus dem Land gejagt und verfolgten ihn bis nach Frankreich, wo sie mit den Ideen der französischen Revolution in Verbindung kamen. Der Dekabristen- Aufstand war die erste revolutionäre Erhebung in der jüngeren Geschichte Russlands, die sich an den Idealen der Aufklärung orientierte. Der Aufstand, benannt nach dem russischen Wort für Dezember(Dekabr), wurde blutig niedergeschlagen, die Anführer wurden hingerichtet. Noch heute ist man in der Halbmillionen-Stadt Irkutsk auf dieses Ereignis stolz.
Unter den Käufern in der Markthalle dominieren die Angehörigen der neuen russischen Mittelschicht. Beamte, Angestellte, Freiberufler, konsumfreudig und aufstiegsorientiert, die dem größten Flächenstaat der Welt, selbst hier in den Weiten Sibiriens, in den letzten Jahren ihren Stempel aufgedrückt haben, der das Land liberaler, marktorientierter, weltoffener machte, flankiert von einem bourgeoisen Touch, ähnlich der Entwicklung in Westeuropa in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg.
Dieses soziologische Phänomen, der Aufstieg , das Auftreten und das Antreffen dieses Menschentypus in großer Zahl, welche den Homo Sovjeticus nahezu verdrängt zu haben scheint, zumindest oberflächlich, gehört vielleicht zu den auffälligsten Veränderungen, die dem Russlandbesucher sofort ins Auge springen, wenn er zum ersten Mal - wie in meinem Fall - 22 Jahre nach seinem letzten Besuch wieder das Land bereist.
In der Tadschikischen Teestube, ein kleines Café, welches man zwischen den Verkaufsständen errichtet hat, herrscht eine babylonische Sprachenvielfalt. Nahezu alle Ethnien der früheren Sowjetunion scheinen sich hier zu treffen, wobei die Angehörigen der zentralasiatischen Republiken in der Überzahl sind. Russland gehört zu den größten Einwanderungsländern der Welt. Ungebrochen strömen die Menschen aus Armenien und Usbekistan, aus Kirgisistan und Tadschikistan in die russischen Metropolen östlich und westlich des Urals.
Während man im europäischen Teil Russlands häufig von ethnischen Spannungen hört, von rassistischen Übergriffen, ja von einer weitverbreiteten Abneigung der Russen gegenüber den "Schwarzärschen", wie man Zuwanderer aus den muslimischen und überwiegend turksprachigen Regionen des Kaukasus und Zentralasiens im Volksmund zu nennen pflegt, scheinen die Verhältnisse diesbezüglich in Irkutsk entspannt. An den Tischen plaudern Russen mit Burjaten, Kasachen mit Turkmenen.
Reza, ein junger Metzger der Fleischprodukte halal verkauft, gönnt sich bei einer Tasse Tee eine kurze Verschnaufpause. Reza stammt aus Duschanbe, der Hauptstadt von Tadschikistan, der einzigen persischsprachigen Republik der ehemaligen Sowjetunion, direkt an der Grenze zu Afghanistan.
"Die Russen sind gute Käufer, aber keine so guten Verkäufer, bei uns Tadschiken ist es umgekehrt", führt er lachend aus. "Ja, ihr macht den Frauen ja immer Komplimente, da öffnen sie ihr Herz und ihre Geldbörse", wirft Lubja ein, die nebenan einen Blumenstand führt. "Russische Männer können nicht besonders gut flirten", ergänzt sie augenzwinkernd.
"Ist es nicht schade, um unsere schöne Sowjetunion!", mischt sich eine üppige Matrone mit blondgefärbtem Haar in das Gespräch ein."Früher lebten wir alle friedlich beieinander. Dieser dreckige Säufer hat alles kaputt gemacht." Mit dem dreckigen Säufer ist der verstorbene Präsident Boris Jelzin gemeint.
Die Jelzin-Kritikerin hat sich inzwischen anderen Gesprächspartnern zugewandt. "Nehmen Sie solche Sprüche nicht allzu ernst", mahnt Reza. "Ich bin froh, dass ich hier in Russland leben kann. Dieses Land ist für uns so anziehend wie Deutschland für Türken, gerade im Vergleich zu unserer Heimat. Rassistische Bemerkungen kommen vor, besonders wenn man sich als Zuwanderer mit den hiesigen Mädchen trifft, dass passt den einheimischen russischen Männern überhaupt nicht. Aber ansonsten ist alles friedlich. Ich kann mich nicht beklagen. "
Anatoly Dolgov bahnt sich energisch seinen Weg durch das Gewühl. Gerade führt er eine Gruppe von deutschsprachigen Touristen durch die Markthallen. Dolgov, Jahrgang 1970, arbeitet als Reiseleiter für das Berliner Unternehmen Lernidee. "Unsere Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, sind jedes Mal verblüfft, wenn sie feststellen, dass hier niemand hungern muss, dass es keine leeren Schaufenster und keine langen Schlangen vor den Geschäften mehr gibt", erklärt er im perfekten Deutsch. "Das Russland-Bild im Westen ist dringend renovierungsbedürftig", fügt er amüsiert hinzu.
Dolgov der in Kazan an der Wolga zu Hause ist, bereist mehrmals im Jahr - im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit - die endlosen Weiten Russlands, von der Mongolei bis nach Moskau, im Zarengold-Express, einen für Touristen zur Verfügung gestellten Luxuszug auf dem Streckennetz der Transsibirischen Eisenbahn. Der studierte Germanist arbeitete früher als Dozent an der Universität, zieht aber inzwischen die Tätigkeit in der Tourismusbranche vor, da diese ein höheres Einkommen verspricht.
"Drei Phänomene, denen man früher auf Reisen in Russland ständig begegnete, sind verschwunden", analysiert er. "Die ganz große Armut, die man früher überall sehen konnte, die Verelendung großer Bevölkerungsschichten, die ausufernde Kriminalität, das Bandenunwesen, das Treiben der Mafia. Außerdem haben sich marktwirtschaftliche Prinzipien durchgesetzt, wie Sie unschwer erkennen können."
Dolgov leugnet nicht die Probleme, die im heutigen Russland immer noch bestehen. Zum amtierenden Präsidenten hat er ein sehr kritisches Verhältnis. "Putin ist ein Autokrat, der inzwischen empfindlich auf jegliche Kritik reagiert. Aber wer wäre denn die Alternative zu Putin? Der Ultranationalist Schirinowksy, der Kommunistenführer Suganow oder der schwächliche Liberale Jablinsky? Die Leute identifizieren den steigenden Wohlstand mit Putin, selbst wenn dieser gar nichts dazu beigetragen hat. Das sehe ich in meiner Heimatstadt Kazan, wo inzwischen der Erdöl-Boom Früchte trägt", führt er aus, bevor er sich wieder seinen Gästen widmet.
Dolgovs Einschätzungen decken sich mit den eigenen Beobachtungen. Verschwunden sind die alten Damen und Herren, die in früheren Jahren ihre Orden auf der Brust spazieren führten. Die Menschen, die beim Lachen eine ganze Reihe von Goldzähnen präsentierten, sind auch selten geworden.
Dort, wo früher Wodka in rauen Mengen an öffentlichen Plätzen konsumiert wurde, herrschen heute Nichtraucherzonen, die Straßen sind sauber, die Häuserwände erstrahlen im frischen Glanz. Wohlstand hat sich breitgemacht, nicht üppig, aber doch sichtbar. Ein ausländischer Tourist, der ungefragt Fotos schießt, ist auch kein Fall mehr für die Miliz.
"Jaja, hat sich 'ne ganze Menge getan!", gibt Wladimir unumwunden zu. Wladimir verkauft am unteren Ende der Karl-Marx-Straße, quasi im Schatten des Lenin-Denkmals, wo junge Leute mit ihren Skateboards akrobatische Kunststücke vollführen, seine Bilder und Grafiken. Wladimir, dessen Vater Harald hieß, wohnt schon sein Leben lang in Irkutsk. "Als Sohn eines Deutschen und einer Russin, war ich schon immer Dissident, früher wie heute", gibt er unumwunden zu.
In den 1970iger Jahren bekamen wir hier die ersten Beatles-Platten und Jeans, die wurden mit der Transsibirischen Eisenbahn geschmuggelt, vom Personal aus Moskau. Sie fanden reißenden Absatz, wurden auf dem Schwarzmarkt verkauft. Wir hörten heimlich 'Voice of America' auf Russisch und fühlten uns dann nicht ganz so alleine, wussten, dass es noch eine andere Welt gibt."
"Meiner ersten drei Lebensjahrzehnte verbrachte ich in der Sowjetunion, jetzt bin ich 55. Glauben Sie mir, ich weine dem Kommunismus keine Träne nach, heute ist es viel besser. Zu Sowjetzeiten hätte ich Probleme bekommen, wenn ich mich mit einem Ausländer - so zwanglos wie jetzt gerade mit Ihnen - unterhalten hätte. Die Läden waren leer, das Leben war von stumpfsinniger Routine geprägt. Nein, danke.
Aber natürlich ist die Sowjetunion noch immer nicht vollständig verschwunden, im Denken vieler Menschen. Putin ist meiner Meinung nach der letzte Vertreter der alten Garde, er wird von den einfachen Menschen verehrt, weil er dem Land Stabilität gebracht hat. Ich kann mich heute aber hinstellen und sagen: Putin ist ein Arschloch.Würde ich dieses Aussage auf einem Plakat durch die Gegend tragen, dann bekäme ich aber Probleme.
Was den Ukraine-Konflikt angeht, hat der gelernte Gefängnis-Seelsorger folgende Erklärung parat:
Die Ukraine liegt doch in Europa, in Eurer Nachbarschaft, nicht hier bei uns. Davon spüren wir hier gar nichts. Wir leben hier in Nachbarschaft zur Mongolei und zu China, selbst Moskau ist mehrere Tagesreisen per Bahn entfernt. Aber ich sage Ihnen, dass alles hat mit Geopolitik zu tun. Es wurden Fehler gemacht, auf Seiten Russlands, auf Seiten des Westens, die Ukraine ist und bleibt ein gespaltenes Land. Ich selbst bin etwas enttäuscht von den außenpolitischen Manövern des Westens, als Freund des Westens. Was will man den mit Sanktionen gegen Russland erreichen, soll hier das Chaos ausbrechen, soll die Weltwirtschaft in eine neue Krise rutschen? So treibt man uns doch nur weiter in die Arme Chinas. Will man das in Washington und Brüssel erreichen? Wenn ja, dann sollte man noch einmal die Weltkarte studieren.
Die Karl-Marx-Straße mündet in die Urickogo-Strasse ab. Es handelt sich um die einzige Fußgängerzone der Stadt, wobei Fußgängerzonen in Russland immer noch selten anzutreffen sind. Junge Leute schlendern entspannt die Flaniermeile entlang, betrachten die Auslagen in den Geschäften, unter denen die Ketten westlicher Unternehmen wie Adidas überwiegen. Einige Bekleidungsunternehmen wurden nach deutschen Städtenamen benannt. In diesem Zusammenhang kommt die Frage auf, was westliche Sanktionen sowie Sanktionen Russlands gegenüber dem Westen für Schaden anrichten können.
Die jungen Frauen sind überwiegend von betörender Schönheit, wie fast überall in den Städten Sibiriens, und erinnern daran, dass die internationalen Model-Agenturen in dieser Region sehr aktiv sind.
"Diese Darbietung ihrer Reize dauert bei den jungen Frauen so lange, bis das Ziel erreicht ist -nämlich die feste Bindung an einen männlichen Ehepartner", versichert Nathalia spöttisch, während sie von einem Straßencafé aus kritisch betrachtet, wie ihre Geschlechtsgenossinnen auf Stöckelschuhen von 12 Zentimeter Höhe durch die Straßen eilen.
Nathalia, alleinerziehende Mutter eines 8 jährigen Sohnes, arbeitet als Redakteurin bei einem lokalen Radiosender. Während des Studiums hat sie ein Auslandssemester in Berlin verbracht und kam dort mit den Ideen des westlichen Feminismus in Berührung, von denen sie sich fasziniert und angezogen fühlt. "Wenn diese Mädels erst einmal unter Haube sind, gehen die schmalen Hüften schnell in die Breite, die Absätze schrumpfen, die grelle Schminke verschwindet aus dem Gesicht und es tritt der übliche Alltag ein. Eines langweiliges Eheleben beginnt, mit viel Wodka und Stress", spottet sie.
Auf dem Weg zu den Ufern der Angara, der Fluss an dem die Stadt Irkutsk liegt, fallen die schönen und reich verzierten Holzhäuser auf. Im 19. Jahrhundert war Irkutsk mit Abstand die größte Stadt Sibiriens sowie das Zentrum der russischen Expansion und diplomatischen Aktivitäten in Richtung Mongolei und China. Irkutsk entwickelte sich zum Fenster nach Osten wie Sankt Petersburg zum Fenster nach Westen.
Als Russland 1761 die Beringstraße überquerte, stammte diese Expedition aus Irkutsk. Alaska und die Aleuten und die damals zu Russland gehörenden Teile Kaliforniens, waren administrativ dem Irkutsker General-Gouvernement unterstellt.
An der Uferpromenade der Angara hat sich eine Hochzeitsgesellschaft eingefunden. Ausgelassen tanzen die Gäste zu den musikalischen Darbietungen einer Kapelle, auch vorbei eilende Passanten legen eine heiße Sohle aufs Parkett.
Die Szene wirkt friedlich, ausgelassen und heiter. Überhaupt kann man den Eindruck gewinnen, den Russen geht es heute besser als seit langem in ihrer grausamen Geschichte der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte, die der britische Historiker Orlando Figes einmal als die "Tragödie eines Volkes" bezeichnet hat.
Ich verharre eine Weile in der Betrachtung des Sonnenuntergangs. Dabei versuche ich mir ins Gedächtnis zu rufen, wie weit ich von Europa entfernt bin. Der alte Herr, ich schätze ihn auf über 80, an dessen Stand ich eben eine Kugel Eis erworben habe, hat sich zu mir gesellt. Der Mann überrascht mich durch seine Deutschkenntnisse. Unerwartet fragt er mich:
Wie weit möchte die NATO denn noch nach Osten vordringen und welche Feindschaft gegen Russland wird dabei ausgetragen? Ihr Deutschen habt in diesen endlosen Weiten doch ausreichend bittere Erfahrungen gesammelt. Wie viel Blut, Leid und Elend hat es bei Deutschen und Russen gegeben? Frau Merkel hat doch gesagt, eine Regierung, die auf einen Bürger schießt, hat ihre Legitimation verloren. Warum schweigt sie denn, wenn die ukrainische Armee auf ukrainische Bürger schießt? Ihr Deutschen solltet es doch besser wissen. Habt Ihr vergessen, dass Irkutsk, diese Uferpromenade, einst von deutschen Kriegsgefangenen errichtet wurde?