"Die Unkundigen": Lieblinge politischer Rhetorik

Wie in einer groß angelegten Versuchsreihe zeigt man in Österreich, dass im Wählerreservoir der politisch Unkundigen effizient "Wahlfang" betrieben werden kann. Im laufenden Wahlkampffinale werden mit rhetorischen Schleppnetzen gesamte Sinusmilieus leergefischt

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Wenn an die Stelle des Inhalts politische Leerformeln treten, führt dies zu einer nicht unerheblichen diskursiven Irritation. Sobald jedoch öffentlich praktizierte politische Inhaltlosigkeit, anstatt konsequenzlos zu bleiben, von großen Teilen der Bevölkerung akzeptiert wird, dann potenziert sich ein Vorkommnis vom Problem zur politischen Gefahr.

Die treibende Kraft der Sprachgewalt

Das Glauben-Erwecken war und ist das primäre wirkungspsychologische Ziel der Rhetorik. Wahrheit stellt demzufolge kein notwendiges Element, Wahrhaftigkeit keine Kategorie des rhetorischen Sprachprozesses dar. Im Vordergrund der Beherrschung des Wortes steht jenes sprachliche Vermögen, das zwischen Kunst und Fertigkeit, zwischen Denken und Sprachhandwerk oszilliert. Da für den Rhetor nicht die Verpflichtung zur Wahrheit, sondern der Zweck dominiert, bleibt Wahrhaftigkeit nur ein Beiwerk der Beredsamkeit, eine Art positiver Zierrat.

Die treibende Kraft der Sprachgewalt ist nicht inhaltlicher Natur, sondern jene Technik, mit welcher die Überzeugung des Gegenübers übersprungen werden kann, um geradewegs dessen Überredung anzupeilen.

Glaubhaftmachen oder die Illusion von Erkenntnis

Da die Rhetorik - einer Kritik Platons zufolge - als Kunstfertigkeit der Überredung ihre Bedeutung "in der Seelenführung" sucht und "Glauben ohne Wissen hervorbringt", scheinen nur wenige politische Redner am Erkenntnisgewinn oder an innewohnenden Wahrheiten interessiert zu sein. Ihr Ziel bleibt das Glauben-Erwecken und Glauben-Finden innerhalb gesellschaftlicher Mehrheiten. "Kunstgriffe der Überredung" werden demzufolge angewendet, um das Unterwerfen des Inhalts unter den Primat des Effekts zu bewirken. Denn das Glaubhaftmachen ist nur eine erzeugte Illusion von Erkenntnis, die auf Mechanismen der Überredung gründet; oftmals tritt sie sogar im metaphorischen Kleid argumentativer Überzeugung auf.

Die privilegierte Zielgruppe der Nichtwissenden

Noch bevor auf ein dialogbereites Gegenüber Bezug genommen wird, schränken die Rhetorik-Taktiker bereits die Zielgruppe ihrer Rezipienten ein. Nicht die Wissenden, mit Sachkenntnis reichlich Ausgestatteten, sondern die Unwissenden und die nur über rudimentäre Sachkenntnisse Verfügenden werden als Zielgruppe privilegiert. Sokrates erbrachte einst - nicht ohne rhetorisches Geschick - den Nachweis, dass eine fiktive Hörerschaft von sachlich Unkundigen sich von einem ebenso unkundigen, jedoch rhetorisch versierten Redner eher überreden lässt, als von einem hervorragenden Fachmann, der rhetorisch unbedarft ist.

Bereits dieser Mechanismus führt die potenzielle Gefahr vor Augen, die von politischer Rhetorik ausgehen kann. Sobald große inhomogene Bevölkerungsgruppen, von Elias Canetti auch Masse genannt, die per definitionem nicht zur Gänze zu Wissenden zählen können, sich von wirkungsvollen Rednern überzeugt fühlen, obwohl sie nur überredet wurden, beginnen jene inhaltlich und hinsichtlich ihres Verhaltens beeinflussbar, berechenbar und damit steuerbar zu werden. Es besteht die latente Gefahr, dass sie demzufolge auf sprachlichen Wegen von Massen zu charismagläubigen Gefolgschaften im Sinne M. Webers transformiert werden.

Das ungezügelte Wort

In seinen Werken zur Rhetorik ließ Cicero einst mehrere Diskussionspartner in Dialogform Forderungskataloge an einen vollkommenen Redner formulieren. Dieser überaus selten anzutreffende Idealtypus sollte nicht nur die Zuneigung der Menschen gewinnen, sondern auch ihre Gedanken fesseln, um diese zu manipulieren, um "sie dorthin zu bringen, wohin man will, und sie abzubringen, wovon man will." Ebenso forderte er, der ideale Rhetor möge sowohl im positiven als auch im negativen Kontext übersteigerte Darstellungen vornehmen, um bei seinen Zuhörern páthos, die große Gemütsbewegung, hervorzurufen.

Knapp zwei Jahrhunderte nach Cicero wurden die zunehmenden rhetorischen Abweichungen, die verstärkte Unterwerfung der Beredsamkeit unter das Diktat des Zwecks, als Verfall der Rhetorik von Tacitus heftig kritisiert. Er brandmarkte die Rhetorik als gewinnträchtige und blutdürstige Beredsamkeit. "Eine Pflegetochter der Zügellosigkeit, die nur Narren Freiheit nennen", sei die Kunst der Rede geworden, so Tacitus.

Social Media Polit-Basar

Wahlkämpfe waren und sind Verkaufsveranstaltungen politischer Programme. Dass diese in den Social Media einem abgeschmackten Basar gleichen, mit brüllenden Verkäufern, die mit immer gleicher schäbiger Rhetorik ihre Politwaren feilbieten, wirkt wie eine Sonderdeformation des Zivilisationsprozesses.

In den einflussreichsten der globalen Social Media wurden Wahrhaftigkeit und Widerspruchsfreiheit unter dem Vorwand von free speech weitgehend beseitigt. Dadurch konnte politisches Glauben-Erwecken ad infinitum gesteigert, überdehnt und übertrieben werden. Die in Washington begonnene Unkultur der alternative facts wird gegenwärtig ungehemmt, rücksichtslos und mit ungeheurer Sprachgewalt durch zahlreiche communities gejagt.

Kein Insinuieren von Rassismus ist zu perfid, um nicht geteilt zu werden, keine Lüge über den politischen Gegner zu infam, um nicht sogleich in peinliche Kurzvideos verpackt zu werden. Die Wählerinnen und Wähler werden in den sozialen Medien von Sprachtätern wie eine Zielgruppe "Retardierter" bespielt. Infantilität, gepaart mit dreisten Lügen und unverfrorener Selbstdarstellung: die multimediale, kolossale Geschmacklosigkeit scheint grenzenlos. Das soziopolitisch wirklich Schockierende ist jedoch, dass diese Form politischer Vulgär-Kommunikation tatsächlich funktioniert.

Österreich wählt oder der Primat des Effekts

Die gegenwärtige globale Tendenz, gemäß welcher sich immer mehr führende Politiker zu Polit-Darstellern entwickeln, verstärkt bei diesen den Hang zu verbaler Verkürzung. Inhalte jedweden Komplexitätsgrades werden verkürzt und vereinfacht. Die erschöpften Massen bedanken sich für die Reduktion von Komplexität; dafür, dass sie von Komplexität verschont bleiben, indem sie die Produzenten der Kurzsätze dann auch noch wählen. Das ist die Politik der Zukunft. Differenziertheit war gestern.

Kurzfristig hatte Österreich in diesem Jahr eine aus Experten gebildete Übergangsregierung. Diese sogenannte Vertrauensregierung wird retrospektiv eine kulturelle Wohltat für das Land gewesen sein. Sie hat die ihr übertragenen Aufgaben vollumfänglich erfüllt, die Alpenrepublik mit ruhiger Hand und Umsicht geführt. Doch nach den Meistern ihres Faches werden nach geschlagener Wahl wieder "Polit-Azubis" an das Staatsruder gelangen.

Österreich mag im Skisport, in der klassischen Musik und im Tourismus punktuell Vorbildwirkung für Deutschland haben. Österreichs Politik jedoch als Vorbild für Deutschland anzudenken, wie manche Sozialromantiker dies nach wie vor tun, wäre mit der gefährlichen Forderung vergleichbar, Österreich als fußballerisches Vorbild Deutschlands etablieren zu wollen.

Das Abweichen vom eigentlichen, authentischen Wort und die Hinwendung zu politischer Beredsamkeit durch unangemessene, überhöhte und auf Wirksamkeit bedachte Sprache ist kein Versehen, sondern die Inkaufnahme der Unterordnung des Inhalts unter das unerbittliche Regime des rhetorischen Effekts.

Paul Sailer-Wlasits (geb. 1964) ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Sein neuer philosophischer Essay "Uneigentlichkeit: Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" (Amazon) erscheint in Kürze bei Königshausen & Neumann.