Die Verkehrswende beginnt - überall
Die Vermutung, dass das Auto ein billiges Fortbewegungsmittel sei, ist ein frommer Selbstbetrug. Autofahren ist teuer, umweltzerstörend und lebensgefährlich. Ein Kommentar
Wir leben in einer Autodiktatur mit schrecklichen Folgen, die wir verdrängen. Deshalb eine Zahl, die sicher auch für viele Leser dieses Artikels schockierend ist: seit 1945 weltweit 120 Millionen Verkehrstote auf unseren Straßen. Wer es nicht fassen kann, der recherchiere diese Zahl selbst.
Das Auto tötet mehr Menschen als Ebola oder Malaria. Das Grundgesetz aller Religionen "Du sollst nicht töten" wurde im Straßenverkehr außer Kraft gesetzt.
Ein positives Ausnahme-Beispiel ist in Deutschland die Stadt Freiburg. Hier wurden in den letzten Jahren politisch viele Tempo 30-Zonen durchgesetzt. Diese Strategie hat dazu geführt, dass im Zentrum der Universitätsstadt 24% aller Wege zu Fuß, 28% mit dem Fahrrad, 20% mit öffentlichen Verkehrsmitteln und nur noch 28% mit dem Auto zurückgelegt werden. Ein echter Fortschritt.
In Münster werden bereits über 40% aller Wege mit dem Fahrrad gefahren. Der deutsche Spitzenwert.
Auch München wirbt seit 2011 offensiv und mit ordentlich kommunalem Geld für eine neue Fahrradkultur. Die "Radl-Hauptstadt-Kampagne" will Hunderttausende aufs Fahrrad bringen. In der "neuen Kultur der Mobilität" soll das Fahrrad eine zentrale Rolle spielen.
Da unser Mobilitätsverhalten nicht allein rational bestimmt ist, soll die Wahl des Fahrrads für die alltägliche Stadtmobilität "emotional aufgeladen" werden. Freude, Genuss und Vergnügen stehen im Mittelpunkt des Werbens fürs Fahrrad - da wurde wohl etwas von der Autowerbung abgeschaut.
Oder Aachen: Hier wurden inzwischen 5.500 Elektroautos für die Post in ganz Deutschland gebaut. Schon 2010 begannen die beiden Professoren Achim Kamper und Günther Schuh zusammen mit ihren Studenten, ein Elektroauto für die Post zu entwickeln.
Inzwischen haben sie den großen deutschen Autokonzernen gezeigt, wie Zukunft geht: Ab 2018 werden es Jahr für Jahr mindestens 20.000 E-Autos sein. So wird die Post in Deutschland schon in wenigen Jahren zu 100% elektrisch unterwegs sein und immer mit Ökostrom fahren.
Oder Hamburg: Ab 2020 dürfen in der Millionenstadt nur noch Busse ohne Emissionen fahren. Beim Diesel-Gipfel hat die Bundesregierung ganz nebenbei 100 Millionen Euro für den Kauf von E-Bussen locker gemacht. Da geht natürlich noch viel mehr. Es kann sein, das sogar das Land des Volkswagens langfristig ein Volk ohne Wagen wird.
Oder Wiesbaden will ab 2022 nur noch emissionsfreien öffentlichen Nahverkehr.
Oder Oslo: Die Stadtregierung hat beschlossen, dass das Zentrum von Norwegens Hauptstadt bis 2019 autofrei wird. Oslo will Europas Umwelthauptstadt werden und seine CO2-Emissionen bis 2020 um 50% senken. Es geht darum, die Stadt wieder den Menschen zurückzugeben. Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger hat die Nase einfach voll - von schlechter Luft.
Oder Helsinki: Ab 2020 soll jeder Punkt der Stadt mit Bus, Bahn, dem Fahrrad oder dem Elektro-Leihauto erreicht werden.
Oder Kopenhagen: Dänemarks Hauptstadt reduziert jedes Jahr ihre Parkplätze, baut zweispurige Fahrradschnell-Straßen mit grüner Welle zu Lasten der Autofahrer und fördert den öffentlichen Verkehr. BMW betreibt hier bereits 400 Elektro-Leihautos. Es gibt über 600 Ladestellen.
Kopenhagen zeigt auch, dass die Förderung des Fahrradverkehrs überwiegend zu Lasten des Autoverkehrs geht. Durch den Rückbau von Straßen und Garagen entstehen Orte für Cafés, für Grünanlagen und Radwege.
Oder Stockholm: Seit 2016 kostet eine Fahrt in die Innenstadt mit dem Benzinauto 12 Euro hinein und 12 Euro heraus. Autofahren wird nicht verboten, aber teurer und damit reduziert.
Oder Amsterdam: Die Fahrradlobbyistin Cornelia Dinc sagt: "Radfahren ist das beste Mobilitätskonzept für die Lebensqualität der Menschen: Bessere Luft, mehr Platz in der Stadt, entspanntes Tempo."
Die junge Frau ist in Calgary in Kanada aufgewachsen und meint heute: "Da mussten wir für jeden Einkauf das Auto nehmen. Dass wir in Amsterdam gar nicht mehr wissen, wohin mit den Rädern, ist eigentlich ein Erfolg."
Ein Luxusproblem. Amsterdam wird seit Jahren zur "besten Fahrradstadt der Welt" gekürt. Cornelia Dinc hat ihre Masterarbeit darüber geschrieben wie Amsterdam von der "autogerechten Stadt" in den Achtzigern zur "Smart City" von heute wurde. Die Umkehr begann mit großen Demonstrationen gegen das Kindersterben auf den Straßen vor 40 Jahren.
Für Frau Dinc sind Autos kein Feindbild: "Ich denke nicht, dass wir Autos prinzipiell los werden müssen. In Amsterdam macht Fahrradfahren einfach viel mehr Spaß". Lust aufs Fahrrad macht Lust auf Zukunft. Deshalb liegt der Fahrradanteil am Stadtverkehr bei 60%.
Oder Paris: 2016 hat die Stadt ausgerechnet zum Auftakt des Autosalons das rechte Seine-Ufer dauerhaft zur Fußgängerzone erklärt. Hier dürfen nur noch Fußgänger und Radfahrer verkehren. Mit 100 Millionen Euro soll der Radverkehr gefördert werden.
Im Jahr 1849 schrieb die New York Times über die ersten Fahrräder: "Sie machen die Menschen verrückt." Und die Zeitung "The Spokesman-Review" meinte 1897 gar, dass insbesondere Rad fahrende Frauen das Bedürfnis haben, andere niederzufahren.
Heute stellt eine aktuelle Studie der Universität Glasgow fest, dass Menschen, die das Fahrrad regelmäßig benutzen, seltener Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs bekommen als Autofahrer. Ab 2024 sollen in Paris keine Dieselfahrzeuge und ab 2030 keine Benziner mehr fahren dürfen.
Oder London: Jahr für Jahr sterben etwa 10.000 Menschen in der Stadt an Luftverschmutzung. Englands Hauptstadt hat die City-Maut verschärft und plant das Aus für Dieselantriebe. Als die City-Maut 2003 eingeführt wurde, quälte sich der Autoverkehr mit gerademal elf Kilometern in der Stunde durch die Acht-Millionen-Stadt. Die U-Bahn fährt fünfmal schneller.
Schon im ersten Jahr ließen 50.000 Autofahrer ihren Wagen stehen und 400.000 Londoner stiegen auf den öffentlichen Nahverkehr um. Inzwischen zahlen Autofahrer in London 16 Euro Maut - pro Tag. Ältere Londoner erinnern sich noch mit Grausen an den "Great Smog" im Jahr 1952 als ihre Hauptstadt in einer Abgaswolke versank. Zehntausende bekamen Atemprobleme, 12.000 Menschen starben.
Oder Oxford: Die berühmte Universitätsstadt ist konsequenter als London. Schon ab 2020 werden alle Benziner und Dieselfahrzeuge aus der Innenstadt verbannt. Weder Taxen noch Busse noch Privatautos dürfen noch durchs Zentrum fahren. Alle fünf Jahre wird die Verbotszone erweitert. Ab 2035 dürfen in ganz Oxford nur noch Elektroautos unterwegs sein.
Oder Moskau: Ab September 2017 gibt es in Russlands Hauptstadt 20 Kilometer neue Radwege, für die erstmals Auto-Fahrbahnen verengt wurden. 300 Ampeln für Radfahrer ließ Moskaus Oberbürgermeister montieren.
Oder Shenzen: In der südchinesischen 12-Millionenstadt sind bereits 16.000 E-Busse unterwegs, kein einziger Benzin-Bus mehr sowie 13.000 Elektro-Taxis. Weltrekord als Greencity.
Oder Tokio: Ein Parkplatz kostet pro Monat um die 400 Euro. Ohne Parkplatz-Nachweis gibt es keine Autozulassung mehr. In Japans Hauptstadt besitzen nur noch 18% der Einwohner ein Auto. 95% des gesamten Verkehrs in Tokio ist öffentlicher Verkehr. S- und U-Bahnen fahren im Drei-Minutentakt. Das Smartphone ist für junge Japaner längst wichtiger als ein Auto.
Oder Indien: Ab 2030 müssen alle Neuwagen elektrisch fahren.
Oder die USA: Acht Bundesstaaten haben sich zu einer Initiative vereinigt, die bis 2025 über drei Millionen E-Autos auf die Straße bringen wollen.
Oder die Schweiz: Helvetia ist das Land der Eisenbahn-Fans. Wie in kaum einem anderen Land spielt hier der öffentliche Verkehr eine wichtige Rolle. 2479 Kilometer fährt ein Schweizer Mensch jedes Jahr mit der Bahn, im weit größeren Deutschland sind es nur 1115 Kilometer, dazwischen liegt Österreich mit 1426 Kilometer.
Neun von zehn Schweizern haben ein "Generalabonnement", eine Bahncard 100. Schweizer pflegen eine beispiellose Liebe zu Bahn, Bus und Tram. Das Geheimnis des Erfolgs: Schweizer Züge sind pünktlich und sehr zuverlässig. (Leser wiesen uns darauf hin, dass diese Zahl überhöht ist. So soll es im Landesdurchschnitt 5,6 GAs pro 100 Einwohner geben.)
Die größte Stadt der Schweiz, Zürich, plant jetzt sogar eine unterirdische Güter-Rohrpost: eine Cargo sous Terrain! Ab 2045 sollen Güter in einem ausgeklügelten Tunnelsystem unterirdisch verschickt werden. Somit könnten 40% des Güterverkehrs von der Straße verschwinden. In Zürich setzt die Stadtpolitik voll auf den öffentlichen Verkehr. Wer im Stadtviertel Kalkbreite wohnen will, darf kein Auto besitzen.
Auf allen Autobahnen der Schweiz gilt Tempolimit 120 Kilometer pro Stunde. Weltweit beginnt die Verkehrswende.
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