Die Verkitschung des Sozialen
Seite 3: Expansion trotz kleiner Störungen
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Im Schatten dieses Unwissen konnte mein Reich weiter wachsen und gedeihen. Auch wenn es immer wieder Störungen meines harmonischen Daseins gibt. Zum Beispiel diese linken Kritiker. 2015 stellen tatsächlich Abgeordnete um Sabine Zimmermann und die Fraktion DIE LINKE eine Kleine Anfrage an den Bundestag, betreffend "Tafeln - Entwicklung, Praxis und Stellung im System sozialer Hilfen in Deutschland" (Bundestagsdrucksache 18/5812).
Die Tafeln übernehmen als private Akteure faktisch einen Teil der Existenzsicherung. Die unzureichende öffentliche Leistungsgewährung erscheint angesichts der Existenz von Tafeln eher hinnehmbar. Die Zuständigkeit wird damit tendenziell vom Sozialstaat zur privaten Fürsorge verschoben. Gleichzeitig sind die Leistungen der Tafeln volatil, d.h. nicht flächendeckend, nicht bedarfsdeckend und nicht einmal berechenbar, da der Umfang der Leistungen von Spenden abhängig und damit systematisch nicht kontrollierbar ist.
Die Bundesregierung wird in der Anfrage aufgefordert, "umfassend" Auskunft über ihre Einschätzung der Tafeln zu geben. Ich zitiere den für mich wichtigsten Satz aus der Antwort der Bundesregierung:
Die Tafeln in Deutschland, in all ihrer Vielfältigkeit und damit auch in der Pluralität ihrer Trägerschaft, ihrer sich selbst gesetzten Aufgabenstellungen und Vorgehensweisen, sind ein herausragendes Beispiel für zivilgesellschaftliches Engagement. Durch dieses Engagement können Menschen über die staatliche Sozialpolitik hinaus unterstützt werden. Die Bundesregierung sieht deshalb in den Tafeln eine wichtige Ergänzung der vorhandenen staatlichen Sozialleistungen und begrüßt es, dass die Tafeln eine sinnvolle Verwendung von qualitativ einwandfreien Produkten, insbesondere von überschüssigen Lebensmitteln, ermöglichen. Die Bundesregierung sieht die Tafeln jedoch nicht als Ersatz staatlicher Sozialpolitik.
Diese Anfrage und die Antwort wird hier und da kommentiert, auch von einem sogenannten "Tafelkritiker", dem Soziologen Stefan Selke, der schreibt:
Insbesondere lässt die Antwort (und die dabei zum Ausdruck gebrachte Argumentationslinie) keine Orientierung an übergeordneten Prinzipien erkennen. Der Staat verabschiedet sich damit von seinen eigenen Leitbildern, insbesondere dem Leitbild für nachhaltige Entwicklung. Dieses wurde erstmals im 13. Deutschen Bundestag (1994-1998) im Kontext einer Enquête-Kommission formuliert - damals bemühte man sich noch um eine Definition sozialer Nachhaltigkeit: Die von der Bundesregierung berufenen Experten wiesen darauf hin, dass die Umsetzung soziale Nachhaltigkeit, primär eine gesellschaftliche Schutz- und Stabilisierungsfunktion habe und Gerechtigkeitsvorstellungen auf der Basis sozialen Ausgleichs umgesetzt werden sollten. Diese Aufgabe ist nicht - auch nicht punktuell - an zivilgesellschaftliche Akteure delegierbar. Gerechtigkeit als verfassungsrechtlich geschütztes 'Gut' (Bürgerrecht) dient der Möglichkeit des Erhalts menschenwürdiger Lebensbedingungen. Explizit weist die Kommission darauf hin, dass hierzu 'Schutzräume durch soziale Sicherung' notwendig sind. Weiterhin weist der Bericht der Enquête-Kommission ausdrücklich darauf hin, das 'barmherzigen Almosensysteme' (gleich welcher Form) diese Rolle nicht übernehmen können. Die Umsetzung sozialer Nachhaltigkeit ist Gesellschaftspolitik und nicht durch zivilgesellschaftliches Engagement zu ersetzen.
Die Linksfraktion scheint hoch erfreut und twittert: #Tafel-Experte @StefanSelke attestiert BReg "kein tiefergehendes Verständnis" für die Tafeln in Deutschland.
Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat auf, ein umfassendes Armutsbekämpfungsprogramm aufzunehmen und durchzuführen (sowie) die Menschenrechte in die Durchführung des Armutsbekämpfungsprogramms einzubeziehen.
UN-Sozialausschuss, Mai 2011
Der Staat delegiert die Grundversorgung immer weiter an die Zivilgesellschaft. Das Menschenrecht auf Nahrung wird in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt, sondern zunehmend gefährdet, weil der Staat seinen Verpflichtungen nicht angemessen nachkommt.
Grundlagenpapier "Ernährungsarmut und das Menschenrecht auf Nahrung in Deutschland", Menschenrechtsorganisation FIAN, 2012
'Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht', sagt man. Seit Jahren nimmt die Armut in Deutschland stetig zu, immer häufiger sieht man selbst Senioren in Mülleimern wühlen. Tafeln schießen wie Pilze aus dem Boden. Das bedeutet, man akzeptiert Armut, kultiviert und verwaltet sie. Die Armutsindustrie schafft viel gut dotierte Jobs - nur nicht für die Betroffenen selbst. Wohl aus diesem Grund wird nicht hinterfragt, warum man diese Energie nicht umlenkt in Bekämpfung der Armutsursachen. Sämtliche Tafelorganisatoren entlassen die Politik aus ihrer Verantwortung. Noch weniger hinterfragt man, wie die betroffenen Menschen sich an den Ab-Speisungen fühlen. Sie werden beschämt und zahlen mit ihrer Würde. Weiterhin werden sie wütend-passiv und darüber hinaus in eine Parallelgesellschaft gedrängt. Man wundert sich nun, dass gerade die armen Menschen verbittert und wütend den rechten Parteien zustimmen, sehen sie doch in Hinblick auf die Fluchtproblematik, dass viel Geld für Integration in die Gesellschaft da ist, aber wiederum nicht für ihre eigene. Sie selbst sehen sich einem abermals verschärften Verteilungskampf, auch um bezahlbaren Wohnraum. Bevor Politik und Gesellschaft den moralischen Zeigefinger erheben, sollten sie sich vielmehr fragen, warum sie diese Menschen, die ihnen nicht (mehr) nützlich erscheinen, seit Jahren konsequent im Stich lassen. Warum sie es nicht stört, dass in einem der reichsten Länder von Armut betroffene Menschen eine um durchschnittlich 10 Jahre geringere Lebenserwartung haben. Eine Demokratie muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht
Regina Rämisch. Aus einem Brief an Brigitte Lischka vom Bayerischen Roten Kreuz zu deren Engagement bei der Nürnberger Tafel
20 Jahre Tafeln
So geht es weiter, immer weiter. Bevor ich auch nur einmal innehalten konnte, um über all das nachzudenken, waren bereits 20 Jahre um. Dafür hatten andere nachgedacht, die mir immer lästiger wurden. Sie waren das Salz in meiner Suppe.
2013, also zum Anlass meines 20jährigen Bestehens, bildete sich das "Kritische Aktionsbündnis", ein Sammelsurium tafelkritischer Personen und Organisationen. Sabine Werth, die "Mutter aller Tafeln" wollte anfangs sogar mitmachen, trat dann aber aus, weil sie von einigen Vertretern des Aktionsbündnisses zu sehr angefeindet wurde. Im Aktionsbündnis versammelten sich Armutsbetroffene, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und kritische Wohlfahrtsverbände. Hinzu kamen zahlreiche Einzelpersonen als UnterstützerInnen und Sponsoren. Einfach ekelhaft: Unter dem Motto "20 Jahre Tafeln sind genug!" wurden sogar kritische Filme produziert, die mich verunglimpften, Tafelkritik!
Ziel des Aktionsbündnisses war - das stelle man sich nur einmal vor - das gemeinsame Eintreten für eine armutsfeste Mindestsicherung, die "Tafeln und ähnliche Angebote wirklich "überflüssig macht". Man konnte diese Forderungen sogar aus dem Internet herunterladen.
Das Aktionsbündnis organisierte eine dreitägige Diskussions- und Protestveranstaltung in Berlin, führte kritische Stadtrundfahrten zu den Orten der Armutsproduktion durch. Man stelle sich vor: Sie kamen sogar zu mir! Auf allen Kanälen forderten sie diese bedarfsgerechte Mindestsicherung. Höhepunkt war eine Demonstration vor dem Brandenburger Tor mitten in Berlin, die internationale Medienresonanz erzielte.
Das ärgerte mich dann schon, dass David mal erfolgreich gegen Goliath war. Diese Unverschämten bauten eine große festliche "Tafel" vor dem Brandenburger Tor auf und ließen Arme dort in Reih und Glied antreten, um sich Almosen abzuholen. Sie trugen ein T-Shirt mit der Aufschrift "Armgespeist. 20 Jahre Tafeln sind genug."
Noch mehr ärgerte mich allerdings dieser Soziologe mit seinem Buch "Schamland", das kritische Sozialreportagen enthielt. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie er unbehelligt drei Jahre durch mein Reich gereist und mit meinen "Kunden" gesprochen hatte. Dieses Land nannte er - völlig unverständlich für mich - Schamland.
Wir leben im Schamland. Dieses Land existiert bereits seit 20 Jahren. In dieser Zeit haben wir Erfahrungen gemacht, die denen, die Tafeln als Erfolgsmodell feiern, fremd sind. Wir werden nun sprechen, alle zusammen. Mit einer Stimme, die wir lange gesucht haben. Wir, das sind alle Menschen, die bei einer der vielen Lebensmittelausgaben, Tafeln oder Suppenküchen anzutreffen sind. Wir sind die, die seit Jahren Almosen in Empfang nehmen. Wir sind die Stimme und das schlechte Gewissen der neuen sozialen Frage in Deutschland. Wir sind viele. Auch wir leben mitten in diesem Wohlstandsland. Aber vom Wohlstand haben wir nur etwas als Empfänger von Almosen. Deswegen ist Scham der Preis für unsere Existenz. Im Schamland machen wir alle, jeder für sich, ähnliche Erfahrungen. Still und verschwiegen, dankbar und demütig zugleich. So wie man es von uns erwartet. Damit ist jetzt Schluss. Hier und jetzt erzählen wir von unseren Erlebnissen. Unser Ziel ist es, dieses schiefe Bild geradezurücken. Gerade wir sind in der Lage, von der Abwärtsspirale der Menschlichkeit zu berichten, denn wir sind deren Kronzeugen. Um diese Rolle haben wir uns nicht bemüht, aber nun machen wir das Beste daraus. Das Beste ist, darüber zu sprechen, damit wir endlich gehört werden. Denn wir haben ein Recht auf unsere Sicht der Dinge.
Stefan Selke: Schamland
Der Autor war sogar so unverschämt, Freiexemplare an meine Tafeln zu senden und um Kommentare zu bitten. Zum Glück reagierte so gut wie niemand darauf. Darin habe ich allerdings einige Übung. Schon 2011 hatte ich erfolgreich interveniert und alle Tafeln in Baden-Württemberg angewiesen, bei Forschungsprojekten dieser Person nicht teilzunehmen. Bis auf zwei Abtrünnige hielten sich auch alle brav an meine Order. So auch bei der Versandaktion für das Buch. Einer der wenigen, der antwortete, war Josef Kersting, der Vorsitzende der Lüdinghauser Tafel:
Schilderungen über persönliche Armutsfälle scheinen mir zum Teil nicht reflektiert und kritisch hinterfragt zu sein. Erschreckend sind für mich (...) die Bilder, die Sie von Tafeln zeichnen. Ich wünschte mir, Sie hätten die Lüdinghauser Tafel kennengelernt. Wir pflegen die 'Augenhöhe'. Unsere Kunden empfinden die Ware nicht als 'zweite Wahl', sondern als echte Hilfe. Die von uns angebotene Ware ist keine Resterampe, sondern durchaus qualitätsvoll, aber wegen Überproduktion nicht verkauft. (...) Die Existenz einer Tafel bedeutet für unsere Kommune: Sie ist ein Ort für soziales Engagement und für Hilfe für Menschen, die zurzeit nicht auf der Sonnenseite stehen; in der 'Innensicht' des Betriebs ist sie für viele Ehrenamtliche auch so etwas wie eine Familie. Sie ist natürlich auch eine Herausforderung an die Politik, Tafeln einmal überflüssig werden zu lassen. Deshalb bleiben wir in Lüdinghausen auch in unserer engen Halle und haben keine 'Expansionsgelüste'.
Auch Jutta Holtmann, die Vorsitzende der Langenhagener Tafel e.V. schreibt zurück:
Wir haben uns mit Ihrem Buch und Ihren Fragen auseinandergesetzt und möchten Sie hiermit gerne einladen, uns in unserer Tafel zu besuchen. Es gibt so viele Aspekte, die man eigentlich ausschließlich durch Mitarbeit kennen lernen und beurteilen kann (z. B. auch den Umgang mit extrem unfreundlichen und fordernden Kunden). Wir finden es sehr schade, dass Sie in Ihrem Buch die Tafeln und Ihre Arbeit so negativ beschreiben, denn für das gesellschaftliche Problem bzw. den Umgang mit "Arbeitslosigkeit" und 'Hartz IV' können wir ja gar nichts!!! Wir sind lediglich der Mittler zwischen Lebensmittel-Überfluss und Mangel an Lebensmitteln bei den Menschen, denen es nicht so gut geht.
Mit sehr großem Interesse haben wir gerade Ihr Buch 'Schamland' gelesen. Wir möchten uns bei Ihnen für die klaren Positionen und ausgezeichneten Denkanstöße, auf die wir in dieser Form noch nie gestoßen sind, sie aber ebenfalls seit einigen Jahren - trotz Anfeindungen - vertreten, bedanken. Besonders der 'Chor der Tafelnutzer' ist eine Dokumentation, die Gänsehaut hervorgerufen hat. Wir wünschen Ihrem Engagement weiter wachsende Aufmerksamkeit und vor allem durchschlagende Wirkung, damit die jahrzehntelange Heuchelei demaskiert wird und der 'Chor' endlich seine gestohlene Würde zurück erhält.
Aus einem Brief an den Autor
Seit 20 Jahren bin ich arbeitslos und inzwischen Harz-IV-Empfänger. Meine zahlreichen Aktivitäten, mittlerweile weit über 1.000 schriftliche Bewerbungen, brachten leider nicht den gewünschten Erfolg, so dass ich mich mit meinen 59 Jahren auf ein anderes Leben einzustellen habe. Wie ich über das Internet erfahren habe, sind Sie der Meinung, dass die 'Tafeln' abgeschafft gehören. Das ist auch meine Meinung und eine gewollte Schande für unser Land und unsere Bevölkerung. Die Argumente für eine Abschaffung sind hinreichend bekannt, und wenn man ehrlich ist, substantiell auch nicht zu widerlegen. Es sei denn, dass unsere Politik und die Wirtschaft dieses 'moderne Sklaventum' haben möchten. Würde der zu zahlende Regelsatz, auskömmlich sein, was leider heutzutage bei weitem nicht der Fall ist, könnten sich alle Betroffenen in jedem Supermarkt mit den gewünschten Nahrungsmitteln eindecken. Ich wünsche Ihnen noch die Kraft und viele Mitstreiter, die in Ihrem und im Sinne vieler Anderer die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben!
Aus einem Brief an den Autor
Es ist doch wohl selbstverständlich, dass ich derartige Kritiker bekämpfe, so gut es geht. Da helfen ein paar geschickt im beruflichen Umfeld platzierte Verleumdungen erstaunlich gut. Oder ich lasse gleich mal etwas deftiger drohen. Gut, dass einer meiner Leute gleich eine Morddrohung gegen den Wissenschaftler ausspricht, war so nicht gewollt. Aber vielleicht dann doch am Ende hilfreich.
Noch wirkungsvoller ist es allerdings, einen kleinen Trick anzuwenden. Ich baue die Kritik in einfach in meine eigenen Aussagen ein. Das sieht dann so aus, als ob ich tatsächlich selbstkritisch wäre, gleichzeitig kann ich so weitermachen, wie bisher. Selbstkritik in homöopathischer Dosierung. Toll, diese PR-Leute, auf die kann ich mich wirklich verlassen!
Demnächst Teil 3: "Tafeln und die Kunst"
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