Die Verkitschung des Sozialen
Seite 2: Mythen und Tabus
Auch meine Existenz ist mit einigen Geheimnissen verbunden, schließlich hat jeder ein paar Leichen im Keller, wie man so sagt. Es ist eben nicht alles Gold, was glänzt. So ist es auch ganz in meinem Sinne, dass einige Mythen im Umlauf sind, die - ich sage es mal so - nicht ganz der Realität entsprechen.
Mit großem Nachdruck sorge ich immer wieder dafür, dass die Tafeln als rein ehrenamtliche Bewegung wahrgenommen werden. Auch wenn es inzwischen einen gewissen Druck zur Professionalisierung und viele hauptamtlich eingestellte Tafel-LeiterInnen gibt, die Vollzeit für mich arbeiten. Vom Büro des Bundesverbandes mit seinen Festangestellten ganz zu schweigen. Es ist doch praktisch, wenn alle denken, dass es meinem Reich alles umsonst und freiwillig gibt.
Ich achte auch strikt darauf, dass der Mythos der Ursprungsidee unverfälscht erhalten bleibt, auch wenn er so gut wie nichts mehr mit meiner Praxis zu tun hat. Damals ging es um die Umverteilung des Überflüssigen. Das war doch meine geniale Idee vor 25 Jahren: Überflüssige Lebensmittel abholen und an die Überflüssigen der Gesellschaft verteilen.
Ich unterschlage gerne, dass Tafeln inzwischen massiv Spendengelder einwerben und von diesen Spendengeldern Waren aller Art zukaufen. In meinem Reich wird inzwischen das Fehlende ersetzt und nicht nur das Überflüssige umverteilt. Das ist doch eine tolle Strategie, auf die ich sehr stolz bin. Denn das Überflüssige ist endlich, während das Fehlende immer wieder neu definiert werden kann. So schaffe ich mir meinen zukünftigen Bedarf selbst. Ich will gebraucht werden, mein Reich soll wachsen.
Unterstützer im Lande,
geheiligt werde mein Name.
Mein Reich komme.
Mein Wille geschehe,
wie im Charity-Himmel so auch in der Praxis.
Ihr Brot gebe ich ihnen täglich,
auch wenn ich sie damit zu Ausgeschlossenen erkläre,
auch wenn Kritiker mir meine Schuld nicht vergeben.
Ich führe die Armen immer wieder in die Versuchung,
aber ich erlöse sie niemals von der Abhängigkeit.
Denn mein ist das Reich
und die Moral der guten Tat
und die Herrlichkeit der öffentlichen Anerkennung
für meine Ewigkeit.
Gerne auch gegen Spendenquittung.
Stromlinienförmige Gedanken
Ich muss natürlich ein wenig aufpassen. Neid und Missgunst lauern überall. Von Kritik will ich erst gar nicht sprechen. Wieder kommt die Hilfe aus Richtung der Politik. Was mich wirklich weitergebracht hat, war das "Jahr der Freiwilligentätigkeit" (2011), das von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen wurde.
Ich muss ein wenig ausholen, damit das verständlich wird: Die Planungen für dieses Jahr begannen bereits 2007 in Brüssel. Das zentrale Dokument stammt aus einem Ausschuss für regionale Entwicklung und nennt sich "Arbeitsdokument über Freiwilligentätigkeit als Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt". So wurde das Themenjahr richtig strategisch vorbereitet. Die Logik von der Instrumentalisierung des Ehrenamts wird hier bereits professionell vorausgedacht. Da ist zu meiner großen Freude die Rede vom "unschätzbaren Beitrag" der Freiwilligentätigkeiten. Gleichzeitig wird auch der wirtschaftliche Stellenwert freiwilliger Arbeit beziffert.
Das Sozialkapital, also als die Neigung der Bürger, den Staat freiwillig und vorauseilend finanziell zu entlasten, wird damit zu einem harten Standortfaktor, zu einer Ehrenamts-Schattenökonomie. Freiwilligenarbeit wird als unverzichtbar für die "volkswirtschaftliche Gesamtrechnung" dargestellt. Der Nutzen wird mit quasi-religiösen Heilserwartung geradezu überfrachtet.
Kurz: Freiwillige sind die Lösung für so gut wie jedes Problem: Sie sollen europäische Werte in die Praxis umsetzen, die Beschäftigungsfähigkeit sichern, Jugendarbeitslosigkeit verringern, Solidarität zwischen den Generationen und den Dialog zwischen den Kulturen fördern, Regionen attraktiver und Nachbarschaften sicherer machen sowie ein Gefühl örtlicher Verbundenheit entstehen lassen. Freiwillige werden als die "wertvollste Form erneuerbarer Energie" deklariert. Das hat weitreichende Folgen und ich bin mittendrin: Staatskrisen sind in Zukunft nur noch Aktivierungskrisen. Wer genügend Freiwillige aktivieren kann, hat gewonnen.
Was soll ich sagen? Das alles freut mich sehr, denn diese Ideologie ging direkt in die Planung des EU-Themenjahrs ein, nachzulesen übrigens in einem Amtsblatt der Europäischen Union. Ganz zentral für mich war aber noch etwas anderes: Im Anhang dieses Dokuments wird definiert, wie sich eine positive Stimmung im ganzen Land erzeugen lässt. Dabei wird eine umfassende Serie von "Informations- und Kommunikationskampagnen" vorgeschlagen: Preisverleihungen, Wettbewerbe sowie die "Entwicklung von EU-weit verfügbaren Materialien und Instrumenten für die Medien". Die Schulbücher kamen wohl quasi im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams noch dazu.
Freiwillige sollten mit Ehrenamtspässen, von Ministerien vorgedruckten Zeugnissen oder gleich mit Bundes- oder Landesverdienstkreuzen angelockt werden. Meine Anhänger wurden in den letzten 25 Jahren von Bundesverdienstkreuzen geradezu zugehagelt. Wenn das nicht reichen, dann helfen vielleicht Versprechungen, dass Ehrenamtliche glücklicher sind und länger leben. Respekt: So lässt sich Loyalität gegenüber der Idee Engagements erzeugen.
Wie lächerlich wirkt da die Frage, ob auch die Armen eine Ehre haben. 1,5 Millionen Menschen, die "Tafeln" nutzen müssen, und 15 Prozent der Bevölkerung, die als arm oder armutsgefährdet gelten - sie alle bekommen keine Ehrung dafür, dass sie es täglich schaffen, aufzustehen und sich dem Monster des Bodenlosen entgegenzustellen. Das Monster des Bodenlosen treibt verängstigte Menschen vor sich her. Es treibt sie zu den Tafeln.
Am Besten ist aber dies: Während des EU-Themenjahrs ging auch darum, für eine "gleichlautende und positive Presseberichterstattung" zu sorgen. Diese Schlagzeilengleichförmigkeit lässt sich inzwischen tausendfach nachweisen. Über mein Reich wird fast nur noch im Modus hypnotischer Redundanz berichtet.
Schlagzeile:
"Einen Salatkopf gibt es schon für 40 Cent. Jeden Donnerstag verkauf die Tafeln eineinhalb Tonnen Lebensmittel"
Schlagzeile:
"400 Osternester für die Tafeln der Region"
Schlagzeile:
"Festessen für jede Familie an Weihnachten. Spenden an Tafeln erbeten"
Zum meinem großen Glück gibt es noch immer viel Unwissen über mich im ganzen Land. Auf dieses Unwissen lässt sich aufbauen. Journalisten vergessen die Kritik, weil bereits so viel Zeit seit meiner Gründung vergangen ist, dass die Redaktionen mehrmals ausgetauscht wurden. Ich manage meine Statements, Wissensmanagement in den Medien gibt es nicht.
Der äußeren Form nach kommt es vor diesem Hintergrund schon seit geraumer Zeit in der Bundesrepublik zu einer Expansion vormodern anmutender Hilfeformen.
Eckhard Reidegel und Beatrice Reubelt, 1995
Etabliert sich ein solches (...) System, wird die (...) Mitwirkung bei der Aushöhlung des Bedarfsdeckungsprinzips dramatisch verschärft: Arme werden dann auch hinsichtlich der Qualität der Ware als unterhalb des Marktniveaus versorgbar dargestellt.
Der Jurist Prof. Dr. Falk Roscher im Artikel 'Gefährdung von Rechtsansprüchen durch private Wohltätigkeit?', 1996
Fast niemand weiß, dass es "Tafeln" auch in der Trägerschaft der großen Wohlfahrtskonzerne Caritas, Diakonie und AWO gibt - und welche Paradoxien damit verbunden sind. Ganz neue Märkte entstehen, wir, die Anbieter profitieren vom niedrigschwelligen Zugang, den die "Tafeln" zu diesen Märkten bieten.
Fast niemand weiß, dass es unterschiedliche Tafelsysteme in Deutschland gibt - und welche Folgen damit verbunden sind. Noch weniger wissen wir über die Soziodemographie der "Kunden". So wundert es kaum, wenn selbst die Bundesregierung immer wieder auf meine selbstgemachten, nicht-repräsentativen Statistiken zurückgreift. In Deutschland wissen wir mehr über die Verteilung von Schmetterlingsarten als über die Motive von Armutsbetroffenen, die Tafeln nutzen (Minderheit) oder eben nicht nutzen (Mehrheit).
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