Die Wahrheit über das Massaker in Erfurt
Die FAZ und der bayerische Innenminister suchen die Schuld bei Computerspielen, die Counterstrike-Community ist geschockt und sucht nach Gegenargumenten
Die FAZ weiß, vereint mit der bayerischen Regierung, was die Ursache des Massakers von Erfurt war: der Täter spielte Counterstrike, das derzeit wohl beliebteste Online-Spiel, das auch bei LAN-Parties hoch im Kurs steht. Der Titel "Software fürs Massaker" klingt zwar aufmerksamkeitstechnisch schrill, ist aber natürlich völlig schief. Aber auch der bayerische Innenminister Beckstein, assistiert von Kanzlerkandidat Stoiber, ist offenbar der Überzeugung, dass es politisch opportun ist, einmal wieder ein "Verbot solcher Programme" zu fordern, während den Schützenvereinen eine Art kathartische Funktion zukomme.
Der Angriff der alten Herren und Medien auf die Computerspiele, beim Film und Fernsehen hält man sich schon eher zurück, stößt natürlich auf das Entsetzen der meist jungen Computerspieler, auch wenn die Kritik wieder eine unbezahlte Werbung darstellt. Besonders der FAZ-Artikel hat Unwillen erregt und wird heiß diskutiert. Der ganz offenbar schnell heruntergeschriebene, Emotionen ansprechende Artikel gegen die "Haßindustrie" suchte nur nach den üblichen Klischees bei Ähnlichkeiten zwischen Spiel und Tat.
"Es ist wohl jedem klar dass hier versucht wird, CS als Alleinverantwortlichen für den Amoklauf darzustellen. Was in Erfurt geschehen ist, kann man nicht mehr rückgängig machen, aber dafür nun CS die Schuld zuzuschieben kann nicht der richtige Weg sein. Besonders, wenn es noch in einer vollkommen überzogenen und einfach falschen Darstellungsweise, wie es hier der Fall ist, geschehen ist. Niemand weiß genaueres über den Familienstand, oder sonstige aussergewöhnliche Umstände, die für den Täter der Grund für sein Handeln war. Im IRC wurde mir berichtet, dass die ersten Eltern schon Verbote aufgrund dieses Artikels für das CS spielen verhängt haben. Es bleibt abzuwarten, was noch alles auf uns zukommen wird." - Counterstrikegcpro.de
Der Autor suggeriert Begründungen - "Was ging in dem Kopf des Amokläufers von Erfurt vor? Die Antwort darauf steht auf diesen Seiten." -, die dann nicht erfolgen. Einen "Handlungscode für den Amoklauf" habe das Spiel geliefert, also für die Ausrüstung mit Waffen, die Verkleidung und das Töten. Aus der Klamottenkiste der Medienkritik mindestens seit Platon heißt es dann noch : "Ob der Massenmord für ihn Spiel oder das Spiel schon Mord war, werden Psychologen erkunden." Einige aus dieser Zunft hatten sich dann als die dringend benötigten Experten betätigt und etwa davon gesprochen
Vermutlich unbewusst im Sinne der dürftigen Argumentation verdreht wurde denn auch noch die Szene mit dem Lehrer Heise, der den Amokläufer zum Einhalten brachte. Für den FAZ-Autor riss der Lehrer dem Täter die "Kapuze und damit die Rolle vom Leib", während er dies offenbar selbst tat, um sich dem Lehrer zu erkennen zu geben.
Herumgereicht wird in der Counterstrike-Community nun ein Text, in dem der FAZ-Artikel "widerlegt" wird. An erster Stelle steht natürlich die angebliche Ursache, dass ein Computerprogramm "den Amokläufer von Erfurt trainiert" habe. Trainiert aber hat der Täter wohl eher im wirklichen Leben:
"Wenn man ein Computerspiel spielt, ist es dann möglich, eine Waffe im realen Leben zu bedienen ? Den Rückschlag abzudämpfen, die Waffe, die einiges an Gewicht hat, zu halten, um damit zu schiessen ? Nein. Der Täter Robert S. war Mitglied in zwei Schützenvereinen und hat dort den Umgang mit den Waffen gelernt. Dort hat er sich auch die Erlaubnis "erarbeitet", sich eine eigene Waffe zu kaufen."
Noch ist in der Tat Counterstrike, wie die FAZ falsch berichtet, in Deutschland nicht indiziert, allerdings erwägt bekanntlich die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPJS) dies und soll noch im Mai die Entscheidung treffen. Als das bekannt wurde, kam es zu einem Aufschrei unter den Spielern und es wurde eine Petition gestartet (Online-Petition gegen eine Indizierung), in der unter anderem gesagt wird:
"Für viele von uns ist Counterstrike zu einem wichtigen Freizeitinhalt geworden, über den wir neue Freunde gefunden haben. Ich spiele Counterstrike nicht, weil ich mich an der Gewaltdarstellung ergötzen will, sondern um des sportlichen Vergleichs willen. Meiner Meinung nach bewirkt die bloße Darstellung von Gewalt in diesem Spiel noch keine Jugendgefährdung, es geht auch um den Geist und den Kontext, in dem gespielt wird: ich sehe uns nicht als Killer, sondern als Sportler in einem neuen, elektronischen Medium."
Ob das freilich alle überzeugt, darf man bezweifeln. Manche Clans haben aufgrund einer Initiative von Thüringer Gruppen symbolisch ihre Websites geschlossen, um ihre Trauer darzustellen, aber auch zu versichern, dass die Gamer keine Mörder sind. Unter dem Motto "Gamer gegen Terror" soll heute Abend eine Website gestartet werden, auf der man etwas gegen die Kritik an Computerspielen tun will. In einem Kommentar wird zumindest auch zum Nachdenken angeregt:
"In den letzten Wochen wurde oft über die Indizierung von Counter-Strike diskutiert. Nach einer solch schockierenden Tat, wie den Amoklauf aus Erfurt, müssen wir Computerspieler uns aber auch selbstkritisch einige Fragen stellen. Haben Computerspiele wirklich negative Auswirkungen auf Jugendliche oder einzelne Personen? Wie verarbeiten Jugendliche eigentlich das virtuelle Blut, welches täglich über ihren Monitor fließt? Würden solche Tragödien ohne Computerspiele nicht passieren?" Für den Autor sind nicht Gewaltdarstellungen für das Ausrasten von Tätern wie in Erfurt verantwortlich, sondern gesellschaftliche Probleme, das "Versagen von Erziehungsberechtigten" oder mangelnde personelle Ausstattung der Schulen.
Ob und wie die Netzwerkparty "Das große Beben", die vom 3. bis 5. Mai ausgerechnet in Erfurt stattfinden soll, ablaufen wird, dürfte interessant werden. Erst letzte Woche konnten noch zwei Sponsoren gefunden werden, die die Realisierung des Treffens vorerst retteten, auf dem natürlich auch die nun unter Verdacht stehenden Ego-Shooter gespielt würden. Jetzt findet man auf der Homepage große Betroffenheit und Verunsicherung:
" An dieser Stelle möchten wir vom Beben-Team unser tiefstes Mitgefühl den Familien und Angehörigen der Opfer des 26. April widmen. Mehr als 7 Mitglieder unseres Teams waren Schüler des Gutenberg-Gymnasiums und kannten die verstorbenen Lehrer, sodass dieses Attentat uns sehr zum Nachdenken und Trauern bewegt hat."
In Bayern will man jedoch offenbar nicht so sehr nachdenken, sondern mit Verbotsforderungen politisch punkten, auch wenn dies nicht ohne Paradoxien abläuft. Der bayerische Innenminister Beckstein, der bei einem Wahlsieg von Kanzlerkandidat Stoiber Innenminister werden dürfte, sagte gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass die Bundesregierung zwei Jahre lang "in skandalöser Weise untätig geblieben" sei, nachdem im Bundesrat die Forderung nach einem Verbot von gewaltverherrlichenden Video- und Computerprogrammen erhoben wurde. Schon 1992 habe Bayern einen ersten Versuch gemacht, solche Videospiele zu verbieten, sei aber im Bundesrat gescheitert. Bundesinnenminister Schily - und Konkurrent des Bayern - warf Beckstein daraufhin "schamloses und unanständiges" Verhalten vor und forderte gar Edmund Stoiber auf, "Beckstein aus seinem Wahlkampfteam zurückzuziehen".
Auch die SZ kann sich nicht enthalten, von Counterstrike als einem "Computer-Trainingsprogramm" für das "Töten per Kopfschuss" zu sprechen. Deswegen habe es nach Ansicht der Polizei in Erfurt kaum Verletzte, sondern sofort Tote gegeben.
Tatsächlich dürfte es aber ein großer Sprung von der Beherrschung einer virtuellen Waffe zu der einer realen in einer wirklichen Situation sein. Würde man diesen Gedanken verfolgen, der nicht ausschließt, weiter der Frage nachzugehen, wie möglicherweise auch Computerspiele etwa durch Gewöhnung an Gewaltlösungen zu solchen Massakern beitragen, dann käme natürlich das Training an wirklichen Waffen ins Blickfeld - und damit auch ein möglicherweise wichtiges Wählerpotenzial, das die Politiker nicht verärgern wollen. Daher also die Erklärung Becksteins:
"Es herrscht jetzt die breite Überzeugung, dass solche Videos mit-ursächlich sind für die Explosion von Gewalt bei Jungendlichen ... Dadurch wird ihre Hemmschwelle massiv herabgesetzt."
Eine solche Mit-Ursächlichkeit wird dem Training mit wirklichen Waffen und scharfer Munition in Schützenvereinen jedoch von Beckstein nicht unterstellt. Die sind für ihn sogar segensreich:
"Ich halte es für falsch, nun solche Schützenvereine zu verbieten. Seriöse Vereine kanalisieren das Bedürfnis Jugendlicher nach dem Umgang mit einer Waffe und filtern Ungeeignete eher heraus."
Immerhin sei zu überlegen, meinte Beckstein, ob das Alter für den Erwerb bestimmter Waffen nicht heraufgesetzt werden sollte (bekanntlich hatte der Täter zwar eine Pumpgun, schoss aber nur mit der Pistole). Die Katharsis-These könnte aber nicht nur für das Trainieren an wirklichen Waffen in Schützenvereinen herangezogen werden, sondern sie wird zumindest seit Aristoteles auch bei Schauspielen diskutiert, den Vorläufern der Medien.
Natürlich liegt Beckstein vermutlich wahlstrategisch richtig, auf ein Verbot der Computerspiele zu setzen. Hier lassen sich in einer alternden Gesellschaft mehr Stimmen von denjenigen holen, die schlicht durch ihr Alter an den neuen Medien vorbeigegangen sind und womöglich gerne an eine einfache Ursache glauben, während sie an ihren Gewohnheiten festhalten - wozu eben auch das Schießen in Vereinen gehört. Neu ist die Schuldzuweisung an das Neue freilich nicht, misstrauisch wurde schon immer neuen Medien und Darstellungsformen begegnet. Ob sich allerdings die Verbots-Politiker von Computerspielen bei der nachwachsenden Generation und den Jungwählern damit beliebt machen, steht auf einem anderen Blatt - zumal es keine verschwindend kleine Minderheit mehr ist, die unter anderem auch solche Spielen spielen wollen, und Verbote, wie sie dann auch immer im Zeitalter des Internet durchgesetzt werden sollen, als Eingriff in ihre Freiheit sehen. Wer allerdings über Wahlkampfgetöse hinaus wirklich nach Ursachen suchen will, wird weder alleine bei Computerspielen noch bei Schützenvereinen fündig werden.