Die Wasserbrücke
Wir verändern seit Jahrhunderten und mit zunehmender Geschwindigkeit die weltweiten Ökosysteme - aus Unüberlegtheit, Profitinteressen oder Selbstsucht. Tun wir es dieses eine Mal mit Sinn und Verstand
Immer schneller reihen sich die Klima-Hiobsbotschaften aneinander. Weltweit brennt es, die berüchtigten Kipppunkte fallen wie Dominosteine; die Klimakrise beginnt, sich selbst zu verstärken. Wir müssen nicht nur den Ausstoß aller Treibhausgase so schnell wie möglich stoppen und Strategien entwickeln, sie der Atmosphäre wieder zu entziehen. Wir müssen uns gleichzeitig auch auf eine nie dagewesene Katastrophe einstellen. Eine vollständige Akzeptanz des brutalen Wandels, an dessen Anfang wir uns befinden, könnte die Grundlage für unser Überleben sein. Auf dieser Überlegung basiert dieser Vorschlag. Ein Vorschlag nicht nur zur Verhinderung des Schlimmsten, sondern auch zur Verbesserung des Ist-Zustandes. Und sogar zur Korrektur vergangener Fehler.
Als sicher scheint heute, dass in weiten Bereichen des Planeten Dürren, Trockenheit und Brände die Symptome sein werden, die uns am schnellsten und heftigsten treffen werden. Sie tun es jetzt schon: Brände wüten in Kalifornien, Griechenland, Australien und in Brandenburg. Feuer zerstört die Wälder Brasiliens, Alaskas und Sibiriens. Auch in Europa plagen uns Hitzewellen und ausbleibender Niederschlag samt Ernteausfällen. Das wird in Zukunft schlimmer, nicht besser. In den nächsten Jahren könnte sogar in Mitteleuropa das Grundwasser zur Neige gehen - mit unabsehbaren Konsequenzen. Diese Gefahr ist real und gegenwärtig. Wir können vielleicht bald nur noch entscheiden, ob wir verhungern oder verdursten. Zuerst werden andere das für uns tun, weil wir mit unserem Geld ihre Ernten und ihr Wasser kaufen werden. Aber früher oder später sind auch die reichen Länder an der Reihe.
Es ist natürlich unerlässlich, alles zu unternehmen, damit sich die Situation nicht noch verschärft. Insbesondere muss der Ausstoß der verschiedenen Treibhausgase drastisch und schnell reduziert werden. Dann wäre viel erreicht - vor allem perspektivisch: Wenn wir darin erfolgreich sind, wird sich mit etwas Glück ein ähnlich komfortables Klima wie vor dem 20. Jahrhundert einstellen - aber das kann dauern, vielleicht 100, vielleicht aber auch 10.000 Jahre. Denn selbst wenn wir alle fossilen Emissionen morgen früh komplett beenden würden, wirken die Treibhausgase in der Atmosphäre noch lange weiter. Und das planetare Klimasystem braucht viel Zeit, um sich zu regenerieren. In der Zwischenzeit drohen weite Teile des Planeten unbewohnbar zu werden. Net zero alleine wird also nicht mehr reichen, um die nächsten Jahrzehnte ohne apokalyptische Szenen zu überstehen.
Können wir das Schlimmste verhindern?
Infrastruktur für Meerwasser und dessen Entsalzung
Gegen Hitze und Dürre hilft das gleiche: Wasser. Verdunstungskälte lindert lokale Hitzewellen, Wasser ermöglicht Pflanzenwachstum und gute Ernten. Boden braucht nur Wasser, um Leben zu ermöglichen. Geben wir also den Böden, was ihnen immer öfter fehlt: Wasser.
Doch regelmäßige Niederschläge lassen nach, und überall auf der Welt sinken die Pegelstände der Flüsse aufgrund von Grundwasserentnahmen und dem Verschwinden der Gletscher. Die immer wärmere Atmosphäre kann immer mehr Wasser aufnehmen und saugt es aus denn kontinentalen Böden. Verschwindet das Wasser auf den Landflächen, verschwindet das Leben. Die Frage ist also: Woher sollen wir so viel Wasser nehmen?
Wir haben weltweit eine Infrastruktur für Autos und Strom, für Öl, Benzin, Gas und Flugreisen. Wir haben eine ausgewachsene Infrastruktur auch für Abwasser und für Datenströme, für Müll und für mobiles Telefonieren. Wir brauchen auch jetzt eine große Infrastruktur für Wasser - für Meerwasser, um genau zu sein. Für sehr viel Meerwasser sogar. Was sollen wir mit Meerwasser anfangen? Es ist salzig und zu nichts gut. Wir können es nicht trinken, es zerstört Böden und Pflanzen. Aber: Es ist unbegrenzt vorhanden, es wird sogar zu viel. Und das Salzproblem lässt sich lösen.
Heute schon gibt es unfassbar leistungsfähige Entsalzungsgeräte, mobile und festinstallierte, große und kleine, als Massenware oder zum selber Bauen; basierend auf Umkehrosmose oder auf Verdunstung. Wo ein Mensch hinfindet, findet eine solche Vorrichtung auch hin. Solar stills sind technisch anspruchslos und arbeiten mit simpler Verdunstung. Sie sind problemlos im Eigenbau herzustellen und es gibt Dutzende von Videoanleitungen im Netz dazu. Technisch fortgeschrittene Varianten mit hohen Wirkungsgraden werden heute schon von australischen oder indischen Firmen industriell hergestellt und verkauft; sie ähneln äußerlich oft Solaranlagen. Selbst einfache solar stills produzieren bei Sonne pro Stunde und m² etwa 1 Liter sauberes Wasser. Desto trockener und heißer das Klima, desto mehr.
Anlagen hingegen, die auf der sogenannten Umkehrosmose basieren, sind noch leistungsfähiger und können schon in einer kleinen Variante (auf anderthalb Quadratmetern Fläche) etwa 20 Kubikmeter Nutzwasser am Tag zur Verfügung stellen. Große Umkehrosmosegeräte reinigen schon so viel Wasser, dass aus ihnen per definitionem ein kleiner, stetiger Bach in die Landschaft laufen kann. Solch ein Entsalzungsgerät hat die Abmessungen eines Transporters und kostet einen Bruchteil eines neuen LKWs. Und es sind zur Zeit drei Millionen LKW in Betrieb - allein in Deutschland.
Aus Meerwasser wird auf diesen Wegen für Menschen und Landpflanzen verwertbares Wasser. Wie sähe eine Welt aus, wenn wir eine globale Infrastruktur hätten, um Meerwasser in großen Mengen lokal zu entsalzen und in den Boden zu lassen? Mit drei Millionen Entsalzungsanlagen könnte in der kompletten Sahara flächendeckend alle paar Kilometer eine menschengemachte Quelle entspringen. Die Sahara könnte so grün werden, wie sie es schon mehrfach in der Erdgeschichte war. Gäbe es eine globale Infrastruktur, um kostenlos Salzwasser zu erhalten, könnte jeder Garten zum Wellenbrecher für die Springflut aus Hitze werden, die auf uns zurollt. Vertrocknende Weinberge und Obstwiesen bekämen einen eigenen Bach, wenn nötig. Und Wald- und Buschbrände könnten weltweit gelöscht werden, bevor sie überhaupt ausbrechen - indem die bedrohte Vegetation rechtzeitig Wasser bekommt.
Verwandeln wir also die verdurstenden Böden dieser Welt in Orte der Hoffnung. Bringen wir massenhaft Wasser in die Landschaften, in die brandgefährdeten Wälder, in die vertrocknenden Landstriche, ja sogar in die Wüsten. Bauen wir eine Brücke über die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Eine Brücke, die uns in eine Zeit bringt, in denen das Klima wieder lebensfreundlich wird. Eine Brücke aus Wasser.
Das viele Wasser, das wir den steigenden Ozeanen entnehmen, wird Grundwasserbestände auffüllen, pflanzliches und tierisches Leben ermöglichen und so die Erdoberfläche abkühlen - eine Art Geoengineering, aber lokal steuerbar und daher mit beherrschbaren Risiken. Die Kosten bleiben überschaubar - und niedrig im Vergleich mit den weltweiten Klimawandelfolgekosten, der Brandbekämpfung und den Ernteausfällen. Und im Vergleich mit den weltweiten Militärhaushalten sowieso. Und hier geht es um wesentlich mehr.
Um die notwendigen Dynamiken für ein solches Unternehmen freizusetzen, ist es zentral, den Rohstoff Meerwasser überall kostenfrei zur Verfügung zu stellen, um lokalen Akteure die Umsetzung zu ermöglichen. Die Entsalzung vor Ort (anstatt in Großanlagen) stellt sicher, dass lokale Akteure mit lokalen Erfahrungen, Interessen und Wissen die Handelnden sind. Mit neokolonialer Klimapolitik wären niemandem geholfen, wir sollten vielmehr das Denken und Wirtschaften hinter uns lassen, das uns in diese Katastrophe geführt hat.
Das örtlich gewonnene Wasser wird (wenn niemand mehr Durst leidet) in den Boden gelassen, wo es langsam versickert oder abfließt. Versickertes Wasser steigt durch Kapillarwirkung und Verdunstung wieder an die Erdoberfläche zurück, minimiert die Brandgefahr und ermöglicht Pflanzenwachstum. Der Trockengürtel von Nordafrika über den gesamten Nahen Osten bis nach China (Wüste Gobi) und der überwiegende Teil Australiens bieten so ein gigantisches Potential an CO2-Senken (als Feuchtgebiete oder Wälder), das in der weltweit beachteten ETH-Studie zu Aufforstungspotentialen überhaupt noch nicht einberechnet ist.
Fliegende Flüsse
Eine planetare Wasserbrücke kann uns über den Abgrund der drohenden Verwüstung des Planeten in ein neues, lebensfreundliches Klimasystem führen. Ihre Elemente (Wasser und Pflanzen) können Mikro- und Mesoklima so beeinflussen, dass Gebiete im heißen Erdgürtel, die nach heutigen Prognosen bald aufgegeben werden müssen, vielleicht bewohnbar bleiben können. In heute noch ariden und semiariden Gebieten könnten sich nach einigen Jahren selbsterhaltende Mechanismen einstellen, zum Beispiel waldgespeiste Wolken, die Pflanzenwachstum auch in weit entfernten Regionen ermöglichen.
Dieses Prinzip - Wald produziert Wolken, die anderswo Niederschläge erst ermöglichen - ist durch die Amazonaswaldbrände in die Schlagzeilen geraten, weil dort diese "fliegenden Flüsse" zu versiegen drohen. Aber das Prinzip ist überall dasselbe; und solche Feuchtigkeitsströme können nicht nur versiegen, sondern auch neu entstehen. Abgesehen von einem Verzicht auf Bewirtschaftung und vor allem auf Weidehaltung dürfte in den neu vernässten Gebieten nichts weiter nötig sein als zwei oder drei Jahre Geduld, bis eine beeindruckende Flora zu entstehen beginnt, der die Fauna folgen wird. Wir müssen nicht überall Bäume pflanzen. Wir müssen nur wachsen lassen.
Global gedacht, kann eine Wasserbrücke das gesamte Klima zugunsten des Lebens beeinflussen, denn nicht nur der Treibhausgasausstoß der letzten 200 Jahre, sondern auch die Entwaldung und Trockenlegung weiter Teile der Welt in den letzten 2000 Jahren hat zur Veränderung des Klimas beigetragen.
In römischen (Reise-)Berichten wird deutlich, dass vor zweitausend Jahren Nordafrika ein Paradies für die Landwirtschaft war - und dass nicht nur Deutschland und Großbritannien größtenteils feucht und bewaldet waren, sondern auch die iberische Halbinsel. Diese Wälder sind als Brennstoff in Rauch aufgegangen oder liegen als Überreste der römischen Flotte und der spanischen Armada auf dem Meeresgrund. Und mit ihnen ist die Wasserspeicherfähigkeit und die stetige Verdunstung der Landmassen rapide gesunken. Die "fliegenden Flüsse" könnten auch in Europa zurückkehren und sich selbst erhalten, wenn wir die mediterranen und iberischen Halbwüsten wieder zu Wäldern werden lassen.
Der Aufbau der nötigen Infrastruktur ist nicht in ein paar Wochen zu machen und auch nicht umsonst zu haben. Heute mag dieser Vorschlag daher vielleicht übertrieben erscheinen. Doch der nötige Aufwand erscheint als harmloses Späßchen, wenn ein unbewohnbarer Planet die Alternative ist. Daher sollten wir unsere Techniken der Entsalzung weltweit und in großem Maßstab für ein "global cooling" nutzen - und potentielle Todeszonen zu grünen, lebensfreundlichen CO2-Speichern machen.
Die Menschheit steht vor einem tiefen Abgrund, den sie selbst ausgehoben hat. Wir brauchen eine Brücke. Bauen wir sie.