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Die Zeitmaschine und der Krieg der Welten

Was 2017 gemeinfrei wurde: H.G. Wells, Gerhart Hauptmann, Gertrude Stein, Alfred Rosenberg, Gustav Noske und W.C. Fields

2017 wurden - im Vergleich zu 2016 [1] - nur die Werke relativ weniger wichtiger Schöpfer gemeinfrei. Der wichtigste davon ist der am 13. August 1946 verstorbene englische Schriftsteller H. G. Wells, der die Naturwissenschaften studiert hatte und vor allem für seine Science-Fiction-Romane berühmt ist, obwohl er auch zahlreiche andere Erzählungen wie beispielsweise das "Fahrradidyll" The Wheels of Chance [2] veröffentlichte.

Seine bekanntesten Werke sind das 1895 erschienene Buch The Time Machine und das drei Jahre darauf veröffentlichte War of the Worlds. Im "Krieg der Welten" landen Marsmenschen auf der Erde und versuchen, diese zu erobern. Nachdem sich die Kriegswaffen zur Verteidigung als untauglich erweisen wird die Menschheit von alten Feinden gerettet: Von Krankheitskeimen, gegen die die Marsianer keine Abwehrkräfte haben. Inspiriert war die Geschichte von damals modernen Erkenntnissen der Bakteriologie und von der Eroberung Amerikas, bei der es allerdings genau anders herum lief: Hier besiegten die Keime der Eroberer die Einheimischen.

Adaptionen noch nicht gemeinfrei

Dass der "Krieg der Welten" so bekannt ist, liegt auch an einem Radiohörspiel, mit dem Orson Welles 1938 viel Aufmerksamkeit erzeugte (vgl. Medienmythos "Marsianer" [3]) und an zwei Verfilmungen: Einer besseren von 1953 und einer schlechteren von 2005 (vgl. Kompromisslos böse und mörderisch [4]). Diese Verfilmungen wurden 2017 - anders als die Romane in den nicht übersetzten Originalfassungen - noch nicht gemeinfrei, weil die Urheberrechte daran nicht nur auf H.G. Wells zurückgehen.

Mit Hegel in der Zeitmaschine

Das gilt auch für die klassische Verfilmung der "Zeitmaschine" von 1960. In der ab 2017 gemeinfreien Romanvorlage dazu reist ein Engländer mehrere Hunderttausend Jahre in eine Zukunft, in der es statt der Klassen des 19. Jahrhunderts zwei biologisch getrennte Einheiten gibt: Die an der Erdoberfläche lebenden verweichlichten Eloi werden dort von den unter der Erde lebenden Morlocks nicht nur mit Maschinen versorgt und ernährt, sondern auch gefressen, bevor sie altern. Hier nimmt Wells G.W.F. Hegels Erkenntnisse zur Dialektik von Herr und Knecht auf und lässt seinen namenlosen Romanhelden erst glauben, die Eloi beherrschten die Morlocks, bis ihm aufgeht, dass es tatsächlich umgekehrt ist.

Horrorfilmklassiker

Aus zwei anderen von Wells' Romanen wurden Horrorfilmklassiker [5]: In der 1887 erschienenen und 1933 vom Frankenstein [6]-Regisseur James Whale verfilmten Erzählung The Invisible Man findet ein Chemiker heraus, wie man etwas unsichtbar macht - aber nicht, wie das unsichtbar Gemachte wieder sichtbar wird. Nachdem er seine Entdeckung an sich selbst ausprobiert hat, kann er der Versuchung nicht widerstehen, die Wirkung, die ihn sozial isoliert, zu Gesetzesbrüchen bis hin zum Mord einzusetzen, bis er schließlich gelyncht und wieder sichtbar wird.

In The Island of Dr. Moreau landet ein Schiffbrüchiger auf einer Insel, auf der ein Wissenschaftler versucht, aus Tieren chirurgisch und durch Erziehung menschenähnliche Veganer zu machen, was nicht ganz schmerzfrei abläuft und letztendlich nicht nur misslingt, sondern im Tod Moreaus durch eines seiner Experimentwesen mündet. Die 1932 als Island of Lost Souls erschienene Verfilmung mit Charles Laughton und Bela Lugosi blieb unter anderem wegen Sätzen wie "Do you know what it means to feel like God?" in Großbritannien bis 1958 verboten.

Shape of Things to Come

Weniger umstritten war das 1933 erschienene Buch The Shape of Things to Come, in dem sich Wells in einem Rückblick vom Jahr 2106 aus einen Zweiten Weltkrieg vorstellt, der erst in den 1960er Jahren durch eine Seuche endet. Dem Weltkrieg folgt eine als autoritär aber wohltuend geschilderte Weltregierung. Diese Weltregierung ebnet den Weg in einen englischsprachigen Weltfrieden ohne Religionen und schafft sich dadurch schließlich selbst ab.

Gerhart Hauptmann und Gertrude Stein

Gerhart Hauptmann

Ebenfalls gemeinfrei wurden die Werke des schlesischen Buch- und Theaterautors Gerhart Hauptmann, der 1912 den Literaturnobelpreis verliehen bekam und heute vor allem durch sein Deutschunterrichts-Sozialdrama Die Weber ein Haushaltsname ist. Darüber hinaus verfasste der Vertreter des Naturalismus auch das Schauspiel Vor Sonnenuntergang, das Veit Harlan - eher frei - für seinen Film Der Herrscher adaptierte (vgl. Emil und der Vierjahresplan [7]).

Gerhart-Hauptmann-Briefmarke

Nach der NS-Machtergreifung 1933 hatte Hauptmann erfolglos die Aufnahme in die NSDAP beantragt und die Loyalitätserklärung der Deutschen Akademie der Dichtung unterzeichnet. Auch vorher hatte er sich meist daran gehalten, was der Zeitgeist damals mit ähnlichem Druck vorschrieb wie heute andere "Haltungen": Zu Beginn des Ersten Weltkrieges unterschrieb er das kriegsbegeisterte Manifest der 93, noch früher begeisterte er sich unter anderem für eine "Rückkehr zur Natur", Nudismus, "freie Liebe" und fing ein Verhältnis mit einer sechzehnjährigen Schauspielerin an.

Als Schlesien polnisch wurde, wollte Hauptmann im heimischen Agnetendorf bleiben - aber die polnische Verwaltung wollte das nicht. Am 6. Juni entkam er seiner zwangsweisen Vertreibung dadurch, dass er im Alter von 83 Jahren an einer Bronchitis starb.

Gertrude Stein

Im Monat darauf starb die Amerikanerin Gertrude Stein, die ihr Image und ihren Namen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Marke machte, wie später Andy Warhol. Das gelang der stark übergewichtigen Zigarrenraucherin, indem sie sich in ihrem Pariser Salon zum richtigen Zeitpunkt mit Malern wie Pablo Picasso und Henri Matisse und Schriftstellern wie Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald umgab. Ihre eigenen Werke blieben weitgehend unbeachtet, bis die Lesbierin 1933 eine Fake-Autobiografie ihrer Geliebten Alice B. Toklas veröffentlichte, in der die Kritiker und das Literaturpublikum erfahren konnten, wie die Berühmtheiten, mit denen sie sich umgab, privat so sind.

Gertrude Stein auf dem Cover des Time Magazine, 1933

Alfred Rosenberg, Gustav Noske und W.C. Fields

Alfred Rosenberg

Am 16. Oktober 1946 wurde Alfred Rosenberg hingerichtet, nachdem er vorher vom Nürnberger Tribunal unter anderem wegen seiner Verantwortung für Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt worden war. Rosenberg - ein Baltendeutscher, der im Zarenreich aufwuchs - war trotz (oder vielleicht gerade wegen) seines Nachnamens einer der fanatischsten Antisemiten und Rasseideologen in der NSDAP und verfasste zahlreiche Schriften zu diesen Themenbereichen - darunter Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten und Der staatsfeindliche Zionismus. Sein mit Abstand bekanntestes Werk ist Der Mythus des 20. Jahrhunderts. In ihm propagiert er "Religion des Blutes", die das "jüdische" Christentum ersetzen soll.

1934 bekam der Baltendeutsche ein eigenes Amt als "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP". Ob dieses Amt ein Abstellgleis sein und ihn davon abhalten sollte, außenpolitischen "Murks" zu machen (wie Hitler es den Goebbels-Tagebüchern zufolge angeblich formulierte), ist umstritten. Unumstritten und gut dokumentiert ist, dass Rosenberg und Goebbels so wenig voneinander hielten, dass sie sich gegenseitig anschwärzten.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Rosenberg Reichsminister für die besetzten Sowjetgebiete, was maßgeblich zu seiner Verurteilung in Nürnberg beitrug. Seine Tagebücher, mit denen er sich entlasten wollte, blieben verschwunden, bis die Homeland Security vor drei Jahren gut 400 Seiten daraus wiederfand und an das Holocaust Memorial Museum [8] weitergab, das Teile davon online stellte. Da sie vorher nicht publiziert waren, endet die urheberrechtliche Schutzfrist dieser Tagebücher nicht 2017, sondern erst 25 Jahre nach der Veröffentlichung.

Gustav Noske

Einen etwas besseren - aber keineswegs tadellosen - Ruf hat der Sozialdemokrat Gustav Noske, der am 30. November 1946 starb und als Redakteur der Brandenburger Zeitung, der Königsberger Volkstribüne und der Chemnitzer Volksstimme einen umfassenden gedruckten Nachlass hinterließ. Die Drehtür zwischen Medien und Politik gab es bereits damals, weshalb die SPD Noske 1906 in den Reichstag schickte. 1919 gab er als Beauftragter für Heer und Marine den Militärs freie Hand, den so genannten "Spartakusaufstand" gewaltsam zu beenden. Das beinhaltete dem Offizier Waldemar Pabst nach auch die extralegale Tötung der Anführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Gustav Noske als Vorgänger Rudolf Scharpings

Zu den größeren Schriften Noske die jetzt gemeinfrei wurden, zählen das 2014 erschienene Buch Kolonialpolitik und Sozialdemokratie, die zusammen mit dem bereits 1930 verstorbenen Adolph Koester verfassten Kriegsfahrten durch Belgien und Nordfrankreich, seine in "Von Kiel bis Kapp" zusammengefasste Sicht auf die "Geschichte der deutschen Revolution" und das 1947 posthum publizierte "Erlebte aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie".

W.C. Fields

Sehr viel schwieriger als die Beurteilung der Gemeinfreiheit literarischer Werke, die meist nur einen Autor haben, ist die von Filmen, an denen bereits früher mehrere Personen mitwirkten. Das gilt auch für dutzende Filme des Komikers W. C. Fields, der am 25. Dezember 1946 starb. Die von ihm verkörperten Leinwandfiguren hassten das offensiv, was viele Menschen hassten, die diese Abscheu im Alltag nicht offen zeigen durften: Kinder, Hunde und andere Menschen. Das macht die Charaktere vielleicht nicht zeitlos, aber zu einer auch emotional ansprechenden Wiederentdeckung im Zeitalter der Snowflakes [9].

Zu Fields sehenswertesten Filmen zählen The Fatal Glass of Beer (1933), You Can't Cheat an Honest Man (1939), My Little Chickadee (1940, mit Mae West), The Bank Dick (1940) und das Meisterwerk Never Give a Sucker an Even Break (1941), in dem er die dem Studio abgetrotzte künstlerische Freiheit dazu nutzte, dem Publikum in einer Groteske vorzuführen, wie Hollywood funktioniert.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Huizinga-Bartok-Kollwitz-3377051.html
[2] http://www.gutenberg.org/ebooks/1264
[3] https://www.heise.de/tp/features/Medienmythos-Marsianer-3401620.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Kompromisslos-boese-und-moerderisch-3401554.html
[5] https://www.youtube.com/watch?v=EKB1NLabjuM
[6] https://www.amazon.de/dp/3943157857/ref=nosim?tag=telepolis0b-21
[7] https://www.heise.de/tp/features/Emil-und-der-Vierjahresplan-3371380.html
[8] https://www.ushmm.org/information/exhibitions/online-exhibitions/special-focus/the-alfred-rosenberg-diary
[9] http://www.spectator.co.uk/2016/06/generation-snowflake-how-we-train-our-kids-to-be-censorious-cry-babies/