Medienmythos "Marsianer"
Wie mit "Krieg der Welten" die Wissenschaft selbst einen Mythos produziert hat: die Massenpanik von 1938 hat es nie gegeben
Dass Massenmedien und Katastrophen zusammengehören wie Pech und Schwefel, scheint sich stets aufs Neue zu bestätigen. "Krieg der Welten" ist ein Inhalt, der sich anscheinend immer wieder sein passendes Medium sucht: zuerst gab es den Roman (1898), dann (1938) ein von Orson Welles inszeniertes Hörspiel und jetzt den Film von Stephen Spielberg (Kompromisslos böse und mörderisch). Verfilmt wurde das Thema der Invasion vom Mars allerdings schon 1953, einige direkte wie indirekte Remakes folgten (u.a. "Independence Day" und "Mars Attacks!"). In den 70ern gab es dann das unvermeidliche Musical, eine amerikanische Fernsehserie und später selbstverständlich auch ein Computerspiel.
Der Roman des britischen Schriftstellers Herbert George Wells (1866-1946) war eine Art Lehrstück des aufgeklärten Industrialismus, von einem nicht unproblematischen Autor, der die moderne Technisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Eugenik mit glühendem Eifer verteidigt hat. "Krieg der Welten" hat eine verborgene Botschaft: Wer sich der modernen Technik nicht bemächtigt, der wird von den fremden Mächten erobert. Wells bedient damit auch jenen fragwürdigen Mythos, der Zivilisation mit Ab- und Ausgrenzung identifiziert und nicht zuletzt auch Krieg als notwendiges Übel akzeptierbar machen soll.
Die Technik - das waren zu Lebzeiten des Autors vor allem die Medieninnovationen des 19. Jahrhunderts wie Telegraphie, Fotografie und Telefon, die für die menschliche Vorstellungskraft eine neue Beweglichkeit in Raum und Zeit ankündigten. Die Science-Fiction-Geschichte ist ein Bewältigungsversuch dieser in den Alltag eindringenden neuen Medientechnologien. Und genau diese sollten das Thema in sich aufsaugen und weiterführen. Es erwies sich als Dauerbrenner - immer wieder nahm es eine neue mediale Form an und avancierte nebenbei auch zum wissenschaftlichen Klassiker.
Das Hörspiel und seine Wirkung
Seine überwältigende Wirkung hatte die Geschichte einer Alien-Invasion nämlich weniger als Romantext, sondern in seiner ersten re–mediatisierten Fassung als Hörspiel im amerikanischen Radio CBS. Der damals noch unbekannte Orson Welles und sein "Mercury Theatre"-Team produzierten das Stück als Halloween-Special im Herbst 1938. Der Rest ist Mediengeschichte.
Die Dramatisierung des Romans für das Massenmedium Radio begann bewusst harmlos, gesendet wurde leichte Tanzmusik. Allerdings auch eine Ansage, die anscheinend vielfach überhört wurde: Alles nun Folgende sei reine Fiktion. Trotzdem, und nicht zuletzt aufgrund der eingesetzten Stilmittel, glaubte ein Teil der Zuhörer an die suggerierte Landung der Invasoren vom Mars in einem Park in New Jersey (wo heute sogar ein Denkmal steht). Hier die Beschreibung eines Medienwissenschaftlers für das, was nun folgte:
Am Abend des 30. Oktober 1938 wurden Tausende von Amerikanern von einer Panik erfasst, als sie eine Radiosendung hörten, die scheinbar von einer Invasion der Marsmenschen berichtete, die unsere ganze Zivilisation bedrohte. Wahrscheinlich sind niemals zuvor so viele Menschen aller Berufe und aus allen Teilen des Landes so plötzlich und heftig erschreckt worden wie in dieser Nacht.
Hadley Cantril 1940
Anscheinend genial hat Orson Welles mit seinem Gespür für Medienwirkung und Publicity (das auch an seinen späteren Filmen abzulesen sein sollte) die Funktionen des Mediums für seine Zwecke ausgereizt: Erreicht wurde die absolute Panik beim Publikum. Die Marsianer sind gelandet! Oder waren es doch die Deutschen?
Bei genauerem Hinsehen jedoch relativiert sich diese Wirkung ziemlich drastisch. Die Bedrohung der Zivilisation reduziert sich erst einmal auf New Jersey und Umgebung. Eine Massenpanik? Die war wohl selbst eine mediale Fiktion. Sie wird heute noch aufrechterhalten, wenn auf der Webseite zu Spielbergs Film zwar nicht mehr von "Millionen" die Rede ist, die betroffen waren, aber man immerhin noch von "Hunderttausenden Amerikanern" spricht.
Nachweisbar sind diese Zahlen nicht. Weder konnten damals so viele Hörer von einer Radiosendung angesprochen werden, noch haben sie alle so reagiert, es gab schließlich laufend Hinweise auf den fiktionalen Charakter der Sendung. Woher also stammt dieser Mythos der medieninduzierten Hysterie?
Psychologische Kriegsführung
Spätere Fachpublikationen stimmen darin überein, dass die Medienwissenschaft selbst den Mythos produziert hat. Die Studie des Medienpsychologen Herbert Cantril von 1940 (The Invasion from Mars. A Study in the Psychology of Panik) suggerierte in ihrem Darstellungsstil eben jene "Massenpanik", die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Da war weder eine wirkliche Masse noch eine wirkliche Panik; nicht Tausende, ja noch nicht einmal Hunderte haben sich aufgrund der damaligen Radiosendung in Panik zu folgenschweren Reaktionen bewegen lassen.
Die wissenschaftlich verbürgte Panik der gesamten "Zivilisation" entpuppt sich beim näheren Hinsehen als eine kurzfristige Irritation der "lokalen Bevölkerung" – hier ein Zitat aus der Studie:
Dann fuhren wir zu einer Tankstelle und tankten voll, um so weit fahren zu können, wie es ging. Der Tankwart wusste von nichts. Dann entschloss sich ein Freund, bei der Newarker Abendzeitung anzurufen. Er fand heraus, dass es nur ein Hörspiel war. Wir hörten uns das Ende an und gingen dann tanzen.
Das offene Geheimnis der fragwürdigen Studie ist schlicht, dass lediglich mit ca. 100 eine ausgesuchte kleine Personenzahl wissenschaftlich befragt wurde, und zwar "weil von ihnen bekannt war, dass sie durch die Radiosendung in Panik geraten waren." Das dürftige Forschungsdesign der Studie mag um 1940 akzeptabel gewesen sein, würde heutzutage aber kaum mehr als wissenschaftlich durchgehen. Doch das Denken nach diesem Schema ist geblieben: Wirklich ist, was in den Medien ist. Den Medien wurde eine definitiv verhaltensändernde Wirkung zugeschrieben. Das galt für das einst noch neue Massenmedium Radio, die Diskussion flachte dann wieder ab, und wiederholte sich in den 1960ern am Beispiel Fernsehen und in den 1990ern noch einmal am Beispiel Internet.
Neben der Neuheit des Mediums, das man verstehen will, gab es noch weitere Interessen der Wirkungsforscher. Vor allem unterm Eindruck der Kriegspropaganda unterstellte die damalige Psychologie den medialen Inhalten eine nahezu unbeschränkte Wirkungsmacht. Die Massenkommunikationsforschung von Cantril, der am berühmten "Princeton Radio Research Project" mitgearbeitet hat und Professor für Psychologie an der renommierten Princeton Universität wurde, war vom amerikanischen Geheimdienst mitfinanziert. Dort interessierte man sich freilich weniger für "Marsianer" als dafür, wie im Kalten Krieg die "amerikanische Botschaft" international unmissverständlich kommuniziert werden kann. Der Wissenschaftler Cantril stand bei der CIA unter Vertrag als Experte für Sozialpsychologie und demographische Forschung im Dienste der psychologischen Kriegsführung.1