Emil und der Vierjahresplan
Geschichte einer Verstrickung 5
Wir haben mit Emil Jannings, Veit Harlan und Thea von Harbou aufgehört, die sich 1936 in Jannings’ Domizil am Wolfgangsee trafen, um das Drehbuch für den Herrscher zu erarbeiten. Nach wie vor frage ich mich, was da diskutiert wurde. Nicht einmal zu Harlan würde einem heute als erstes der Antisemitismus einfallen, wenn er später nicht Jud Süß gedreht hätte, und zu Harbou und Jannings noch viel weniger. Trotzdem hatte Harbou zuvor das Drehbuch zu Der alte und der junge König geschrieben. Da gibt es diese Szene mit den Falschspielern, die aus dem Land geworfen werden, falls sie die von Jannings als "Soldatenkönig" angeordnete Prügelstrafe überleben sollten. Mit einer auf mich bedrückend wirkenden Selbstverständlichkeit werden den Männern "typisch jüdische" Attribute zugeschrieben. Jannings scheint das nicht gestört zu haben.
Teil 4: Wie Emil und Veit einmal einen unpolitischen Film drehen wollten
War so etwas Routine? Gewöhnte man sich an den alltäglichen Antisemitismus, wenn man sich entschieden hatte, für die von Goebbels kontrollierte Unterhaltungsindustrie zu arbeiten? Nahm man in billigend in Kauf, wenn man ansonsten der Filmkunst frönen (oder sich das zumindest einreden) durfte? Wie war das also, 1936 am Wolfgangsee? Sprachen die Herrschaften darüber, ob sie ein, zwei geldgierige Juden einbauen sollten? Improvisierte Emil für Veit schnell mal eine Szene, aus der hervorging, was für gefährliche "Volksschädlinge" diese Juden sind? Wahrscheinlich eher nicht. 1936 war Olympiade in Berlin. Der inländischen "Systempresse" (abgeleitet von "Systemzeit", einem NS-Kampfbegriff für die Weimarer Republik) hatten die Nazis bereits das Handwerk gelegt. Doch es gab noch die "Lügenpresse" aus dem Ausland. Die sollte keine Gelegenheit erhalten, das Regime, das mit der Olympiade seinen Ruf aufpolieren wollte, gleich wieder mit Dreck zu bewerfen. Darum war Anweisung ergangen, auf allzu offenen Antisemitismus zu verzichten. Keine judenfeindlichen Parolen am Ortseingang, keine Schmierereien an den Hauswänden oder auf den Fenstern jüdischer Geschäfte, keine Juden mit krummen Nasen auf der Leinwand.
Haltungsloser Weißfisch
Die Szene mit dem Direktorium der Clausen-Werke löst bei mir trotzdem ein großes Unbehagen aus. Wer das Kapital und die öffentliche Meinung kontrolliert, schreibt Hitler in Mein Kampf, der hat die Macht. Bei ihm hatte diese Erkenntnis eine biographische Komponente. Zwei Faktoren, jammert er, haben ihn in seinem Fortkommen behindert: die Geldnot und die Feindseligkeit der Presse. Außerdem sind da noch die bösen Juden. In der NS-Propaganda, nicht nur im Film, tauchen denn auch regelmäßig die jüdischen Bankiers, die jüdischen Direktoren einer Firma und die jüdischen Journalisten auf, als Kombination von zwei Feindbildern.
Der Verleger in Hauptmanns Theaterstück liegt mit seiner Familie im Clinch. In Der Herrscher kommen die Konflikte mit dem Direktorium hinzu. Das Bindeglied ist Direktor Klamroth, der Schwiegersohn. Auch wenn Klamroth von Herbert Hübner gespielt wird, dem Darsteller jüdischer Pferdehändler, jüdischer Beamter und jüdischer Geschäftemacher (das kam alles später) entdecke ich da keine antisemitischen Klischees, vermag aber nicht zu sagen, ob ich das als Zuschauer im Dritten Reich genauso gesehen hätte. Reichten nach drei Jahren, in denen überall im Land gegen die Juden gehetzt wurde, schon kleine, heute kaum mehr wahrnehmbare Hinweise aus, um eine Filmfigur als "Juden" (= die Projektionsfläche für Ressentiments der Frustrierten) kenntlich zu machen? Dorothea Hollstein meint in Jud Süß und die Deutschen, dass der den Juden häufig zugeschriebene Beruf (Journalist, Bankier, Direktor) "zum Merkmal der bösen Rasse" wurde. Sah ein antisemitisch vorgeprägtes Publikum in Klamroth also mehr oder weniger automatisch den assimilierten (im NS-Jargon: den "getarnten") Juden, weil er ein geldgieriger, dem Volk (vertreten durch die Belegschaft der Clausen-Werke) schadender Direktor ist? Ich weiß es nicht. Es ist ein riesengroßer Unterschied, ob man einen Film isoliert sieht oder im Kontext einer von den Antisemiten dominierten Gesellschaft.
Mir ist bei der Direktoriumsszene unwohl, weil Jannings, Harbou und Harlan keine Anfänger waren, sondern Profis. Wie heikel dieser Auftritt der Schmarotzer ist sollte ihnen eigentlich klar gewesen sein. Harlan zeigt sich in seinen Memoiren davon begeistert, dass Jannings jede Szene bis ins Detail probte und die Zeit mitstoppte:
Wie oft passiert es im Filmleben, daß ausgezeichnet gelungene Filmszenen nicht in den Film aufgenommen werden können, weil der Film zu lang ist. Solche Überlängen kosten außerdem viele Hunderttausend Mark. Durch das vorherige Abstoppen der original gespielten Szenen kommt man später nicht in solche Verlegenheiten.
Demnach wurde nur gedreht, was man tatsächlich haben wollte. Nachträgliche Änderungen waren teuer und sollten minimiert werden. Genaue Planung verringerte die Produktionskosten.
Ein Gedankenspiel: Angenommen, man müsste das Drehbuch für einen Propagandafilm schreiben - sagen wir: mit einem Mann als Helden, der das von Adolf Hitler vertretene Führerprinzip verkörpert - und wüsste nicht genau, ob etwas Antisemitismus gewünscht wird, wenn es zum Drehen kommt, weil der Minister dauernd seine Direktiven ändert und morgen schon ein Fehler sein kann, was heute noch verlangt wird. Wie würde man das machen? Die Direktoriumsszene wäre ideal. Je nachdem, was gerade opportun ist, könnte man Klamroth oder einem der anderen Direktoren eine krumme Nase ins Gesicht kleben, sie ein wenig jiddeln lassen, für Jannings einen abfälligen Dialogsatz über die Söhne vom Berge Sinai schreiben, wie ihn Hans Albers in Carl Peters spricht (gemeint ist Herbert Hübner als jüdischer Beamter) - oder eben nicht. Mit minimalem Aufwand würde man so einen großen Effekt erzielen, falls der Minister (die Olympiade ist vorbei) es wünschen sollte.
Nehmen wir ferner an, dass es so gewesen wäre (ich habe wirklich keine Ahnung, nur ein ungutes Gefühl, das sich mit jedem Sehen dieser Szene noch verstärkt). Der Minister wünscht einen Schuss Antisemitismus. Nicht zu massiv, aber doch so deutlich, dass man nicht auf die Kombinationsgabe oder die mitgebrachten Vorurteile des Publikums angewiesen ist. Direktor Klamroth, der Schurke im Stück, ist ein Jude, und man merkt das jetzt auch gleich, obwohl er "getarnt" ist (in Carl Peters wird Hübner ein nicht assimilierter Bruder beigegeben, der von Beruf Journalist ist, einer von der "Lügenpresse"). Würde man dann bei Noack und Buchloh lesen können, wie an anderen Stellen ihrer Bücher, dass Jannings und Harlan nichts dafür konnten, weil Goebbels gegen ihren Willen zwei antisemitische Sätze einfügte? Ganz so einfach ist die Sache nicht. Filme sind komplexer. So funktioniert das nicht. Man ändert nicht die Botschaft, indem man einen Schauspieler ein paar Sätze sagen lässt, die nicht im Drehbuch standen. Wer eine solche Szene schreibt macht dem "Missbrauch" durch Joseph Goebbels weit die Tür auf. Jannings, Harlan und Harbou halte ich für zu professionell, um glauben zu können, dass sie das nicht wussten.
Was ist mit Hans Stiebner, dem Mann mit der rundlichen Figur? Er hat eine kleine Sprechrolle als einer von den drei Direktoren. Dieser Mensch ist ein übler Kriecher, hält sich am liebsten am Bildrand auf und ätzt, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Bei der Trauerfeier wundert er sich, dass Clausen so aufrecht am Grab seiner Frau stehen konnte: "Beinah unnatürlich, so viel Haltung, wie?" Und bei der Direktoriumssitzung möchte er wissen, was aus dem (nicht von ihm) erwirtschafteten Gewinn geworden ist: "Und? Wo ist das Geld geblieben?" Dieser Direktor will an den mühsam verdienten Lohn der Arbeiter, "Haltung" ist für ihn ein Fremdwort und höchstens dafür gut, Clausen zu unterstellen, dass er seine Frau nicht aufrichtig geliebt hat. Laut Besetzungsliste heißt er Weißfisch. Clausen müsste ihn nur bei diesem jüdischen Namen nennen, und man hätte den beiläufigen Antisemitismus mit drin, den es in vielen NS-Filmen gibt und deren Wirkung sich mit den Jahren summierte, worauf Die Rothschilds (Stiebner ist als Bronstein zu sehen) und Jud Süß dann aufbauen konnten. Die Macher von Der Herrscher waren entweder grenzenlos naiv oder höchst professionell. Man wähle selbst. (Noch eine Möglichkeit, als Tipp für die Apologeten: Klamroth und/oder Weißfisch sollten antisemitische Karikaturen werden, was Jannings und/oder Harlan verhindern konnten.)
"Geliebter Freund"
Wie gesagt: Ich war nicht dabei und bin auf Spekulationen angewiesen. Noack hilft einem auch nicht weiter, obwohl er zwei dicke Bücher über Harlan und Jannings geschrieben hat, und Buchloh fährt einen enormen Endnotenapparat auf (1318 Stück auf 53 eng bedruckten Seiten, dazu 47 Seiten Dokumente), der sich bei genauerem Hinsehen als jede Menge heiße Luft erweist. Jannings und Harlan kamen aus einer Theaterszene, die den Nazis ein Dorn im Auge war, weil da erfolgreich ein Zusammenleben von Juden, getauften Juden und "Ariern" praktiziert wurde, das sie für unmöglich erklärt hatten. Das war nicht der geringste der Gründe dafür, dass sie so entschlossen gegen die jüdischen Bühnenkünstler vorgingen. Die jüdischen Freunde zur Entlastung eines Regisseurs wie Veit Harlan vorzubringen, der sich und seine Talente in den Dienst dieses Regimes stellte, während die Freunde diskriminiert, verfolgt und im schlimmsten Fall in Auschwitz ermordet wurden wie Harlans erste Frau Dora Gerson ist - gelinde gesagt - problematisch.
Nicht fehlen darf bei Buchloh ein Brief Francesco von Mendelssohns von 1949, in dem er Harlan "einen geliebten Freund" nennt und vom Vorwurf des Antisemitismus freispricht. Sehr gut recherchiert und die maximalen fünf Sternchen wert finden das zwei von derzeit insgesamt drei "Kundenrezensenten" bei Amazon. Da sollte man vielleicht hinzufügen, dass Francesco ein gebrochener, alkoholkranker, suizidgefährdeter Mann war, unter schweren Depressionen litt und seine erlernten Berufe als Cellist und Regisseur nicht mehr ausüben konnte. In Thomas Blubachers Buch über die Geschwister Mendelssohn ist nachzulesen, warum das nicht nur eine Folge seines wilden Lebens in Berlin war, sondern der Emigration. 1949 bereitete Francesco eine Europareise vor, von der er sich so etwas wie einen Neuanfang versprach, ein Anknüpfen an die glückliche Zeit vor 1933. Darum schrieb er Briefe an Leute wie Harlan, die er von früher kannte. Er muss unter einem enormen psychischen Druck gestanden haben, als er diese Reise plante. Bei Buchloh erfährt man davon nichts.
"Es spricht für sich", schreibt Buchloh im Kapitel "Prozesse und Freisprüche" über die Nachkriegszeit, "dass Harlans jüdische Freunde […] ihm die Hand reichten". Das tut es nicht. Die Fragen fangen da erst an. Wem reichten die jüdischen Freunde die Hand, falls sie es denn taten (als Quelle ist eine "schriftliche Auskunft" von Maria Körber angegeben, Harlans Tochter aus der Ehe mit Hilde Körber)? Dem Mann, mit dem sie bis zur Emigration befreundet gewesen waren oder doch auch dem Regisseur von Der Herrscher, Jud Süß und Kolberg? Kann man, darf man die jüdischen Freunde als Entlastungszeugen anführen, weil sie dieses oder jenes gesagt oder geschrieben haben (oder auch nicht), ohne sich gleichzeitig Gedanken darüber zu machen, wie es jüdischen Deutschen ging mit ihrer deutschen Heimat, wo die ehemaligen Landsleute den Holocaust organisiert hatten? Was ist da Realität, was Wunschdenken und was so hingedreht, dass es zum "Freispruch" führen kann?
Bestimmt hat jeder schon mal die tolle Lucie Mannheim gesehen - nicht unbedingt als Tochter des Glockengießers in G. W. Pabsts Der Schatz, aber doch als Annabella Smith, die mysteriöse Geheimagentin, die in Hitchcocks The 39 Steps von den Nazis ermordet wird. Bis zum Rauswurf der "Nichtdeutschstämmigen" war sie Ensemblemitglied am Preußischen Staatstheater, wo sie mit Harlan auf der Bühne stand. Zwischen dessen Scheidung von Dora Gerson und der Heirat mit Hilde Körber hatten sie wohl mal eine Affäre. Bei Buchloh reicht auch sie Harlan die Hand. Beleg: Ein Harlan-Brief von 1947, in dem er schreibt, dass Lucie Mannheim aus London gekommen sei und ihn besucht habe; seither sei er "viel zuversichtlicher, denn sie hatte eine so rührende Einstellung zu mir - diese ewige Berliner Range, dass es mich nahezu erschüttert hat". Darüber hätte ich gern mehr erfahren, und nicht nur aus einem Brief von Harlan. Papier ist sehr geduldig.
Wenn Künstler ihre Autobiographie veröffentlichen wird meistens gelogen (erfunden, falsch erinnert), dass sich die Balken biegen. Buchloh ficht das nicht an. Als wären sie ein objektiver Bericht zitiert sie ausführlich aus Harlans Memoiren, wo er nach ein paar rhetorischen Selbstanklagen ebenfalls der Meinung ist, dass ihm nach dem Krieg schweres Unrecht widerfuhr. Quellenkritik ist nicht die Stärke dieser Historikerin. Die Filmanalyse auch nicht unbedingt, obwohl sie einleitend ankündigt, "das Bild des Menschen und Künstlers Veit Harlan vor dem Hintergrund seiner Filme und in der unmittelbaren Abhängigkeit des [sic] Reichspropagandaministers zeichnen" zu wollen. Das Fehlen solcher Analysen ist bedauerlich, weil die Filme dadurch tatsächlich irgendwo im Hintergrund verschwinden, statt als Kontrastfolie dienen zu können, um unbewiesene Behauptungen von Memoirenschreibern und sonstigen Zeitzeugen auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.