Emil und der Vierjahresplan
Seite 4: Die Gutehoffnungshütte grüßt den Führer
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Wir sind jetzt, nach fast 30 Leinwandminuten, in etwa da angekommen, wo Vor Sonnenuntergang beginnt. Bei Hauptmann wird dem 70-jährigen Matthias Clausen die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen, in der sein Verlag den Hauptsitz hat. Bei Harlan, Jannings und Harbou feiert man das 40-jährige Bestehen der Clausen-Werke. Das kennen wir schon. Das Private (der Geburtstag) wird aus ideologischen Gründen durch das Öffentliche (die Werksgründung) ersetzt. In seiner Autobiographie schreibt Harlan, dass Goebbels als Aufpasser Arnold Raether abgestellt habe, den ersten Leiter der Filmabteilung der NSDAP. Raether habe verlangt, dass bei der Feier Hakenkreuzfahnen flattern müssten "als auch, daß der ‚Heil Hitler’-Gruß selbstverständlich von sämtlichen Personen in aller Deutlichkeit ausgeführt werden müsse, um zu betonen, daß der Film im nationalsozialistischen Deutschland spiele". Das, so Harlan, hätten er und Jannings entschieden abgelehnt:
Das Lied "Deutsch ist die Saar" war noch zu verkraften. Aber auf Hakenkreuzfahnen oder gar auf den Heil-Hitler-Gruß wollten wir uns durchaus nicht einlassen. Wir machten Herrn Raether klar, daß die Fahnen und der Hitlergruß den internationalen Wert dieses Filmes wesentlich herabsetzen und daß man dadurch nicht nur dem internationalen künstlerischen Erfolg, sondern auch dem Geschäft dieses Filmes Schaden zufügen würde. Der freundliche Herr sah ein, daß die nationalsozialistischen Symbole im Auslande höchst unpopulär waren. […] Wir hatten im Jahre 36 noch Glück mit unserem Einspruch, denn Goebbels ließ sich von unseren Argumenten überzeugen.
Buchloh paraphrasiert diese Passage und wiederholt auch Harlans Geschichte, in der er, von Oberhausen nach Berlin zurückgekehrt, bei Goebbels zum Rapport erscheinen musste. Das sei, so Harlan, "eine warnende - noch ungefährliche - Unterhaltung" gewesen, bei der ihm Goebbels erklärt habe, "daß in Gegenwartsfilmen deutlich gemacht werden müsse, daß der Nationalsozialismus das herrschende Gesetz in allen Lebenslagen sei. […] Er habe diesmal lediglich ein Auge zugedrückt." Soll heißen: Harlan hatte sich bereits mit seiner Ablehnung von Hitlergruß und Hakenkreuz durchgesetzt. Die ihm und Jannings von Goebbels oktroyierten Propagandasätze konnte er nicht mehr verhindern, denn dann wäre es gefährlich geworden (bis hin zum "Befehlsnotstand" bei Jud Süß, den ihm nach dem Krieg ein früherer NS-Richter attestierte). Also mussten sich die Künstler widerwillig fügen. Die Frage ist: Wollen wir das glauben? Auf Frau Buchloh verlassen wir uns lieber nicht. Die "präzisen Filmanalysen", die der Verlag auf dem Buchdeckel verspricht, liefert sie an keiner Stelle.
Besser, wir schauen uns den Film direkt an. Mit dem Gründungsfest gab Harlan seine Visitenkarte ab. Bis dahin war er ein Regisseur von kleinen, eher intimen Filmen gewesen. In Oberhausen zeigte er, dass er auch Massenszenen inszenieren konnte. Goebbels müsste diese Talentprobe eigentlich erfreut registriert haben, weil er für sein Ziel, Hollywood mit "Großfilmen" Paroli zu bieten, Leute wie Harlan brauchte. Massenszenen kann nicht jeder. Es beginnt mit einer Panoramaeinstellung: die Gutehoffnungshütte von oben. Am Anfang des Films, bei der Beerdigung von Frau Clausen (mit Schwenk zum Firmengelände) waren Kirchenglocken zu hören. Jetzt heulen nur noch die Werkssirenen, weil die Abkehr von alten Bräuchen und Institutionen, weg von der Kirche und hin zum NS-Staat, auch auf der Tonspur vollzogen wird. Harlan wusste genau, was er da tat. Das Firmengelände ist für den großen Tag geschmückt: "40 Jahre Clausen-Werke". Die Belegschaft ist zum Feiern angetreten. Die Menge schreit "Heil! Heil! Heil!". Jeder Mann, auch ein paar Jungen mit dabei, streckt den Arm zum Hitlergruß nach oben. Es sind so viele Arme, dass ich sie gar nicht alle zählen kann. Wie jetzt? Das ist doch der Film, bei dem Harlan und Jannings mutig Einstellungen mit dem Heil-Hitler-Gruß verweigerten, worauf Harlan sich von Goebbels einen Rüffel holte und am Ende nicht mehr verhindern konnte, dass Jannings ein paar Propagandasätze sprechen musste, weil es sonst richtig gefährlich für die beiden Künstler geworden wäre. Was ist da los?
Kollektive Demenz mit FSK-Freigabe
Manchmal hilft ein Blick auf die Chronologie. Anfang 1948 wurde in den drei westlichen Besatzungszonen eine Kommission gebildet, die sich von deutscher Seite aus mit der Frage beschäftigen sollte, wie Filme die Jugend gefährden und was man dagegen machen kann. In diese im hessischen Kultusministerium tagende Kommission schickten auch die Kultusministerien der anderen westdeutschen Länder ihre Vertreter, Funktionäre der Filmwirtschaft waren mit dabei, die christlichen Kirchen, und auch die Katholische Jugend Bayerns hatte sich eine Einladung verschafft. Daraus ging die "Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft" hervor. Im September 1949 übertrugen die Militärbehörden der Westalliierten ihre Kontrollbefugnisse offiziell an die FSK.
Wenn es um etwas so Wichtiges wie den Schutz der Jugend geht, denkt sich der naive Beobachter, dann versammelt sich da bestimmt der geballte Sachverstand. In der Praxis hat man aber doch irgendwie den Eindruck, dass Leute ihr persönliches Steckenpferd ritten und mehr eine altbackene Sexualmoral geschützt wurde als die Jugend. Der erste von der FSK geprüfte Film, am 18. Juli 1949, war Intimitäten (1944), eine leicht frivole Verwechslungskomödie von Paul Martin und ein "Überläufer", also ein im Dritten Reich produzierter Film, der erst nach dem Zusammenbruch desselben uraufgeführt wurde. Dem Vernehmen nach sollen sich die Prüfer heftig über eine Kussszene gestritten haben. Intimitäten wurde dann ab 16 Jahren freigegeben - mit Kuss, aber nicht an den "stillen Feiertagen" (am Karfreitag küsst, singt und lacht man nicht).
"Auch die Kirchen nahmen ihre Verantwortung gegenüber dem Medium Film wahr", teilt die FSK zu ihrer Geschichte mit, "und suchten nach Mitwirkungsmöglichkeiten in einer künftigen freiwilligen Selbstkontrolle." Soll heißen: Funktionäre des organisierten Christentums hatten von Anfang an großen Einfluss darauf, was die Jugend sehen durfte und was nicht. Der Herrscher, denkt man, müsste es also schwer gehabt haben, weil da die christliche Religion aus der fiktionalen Welt verschwindet, um Platz für nationalsozialistische Glaubenssätze zu machen. Ganz falsch. Vielleicht freuten sich die Jugendschützer zu sehr darüber, dass nicht geküsst wird. Vor Intimitäten muss man keine Angst haben in einem Film, der das Ersetzen des Privaten durch den Staat propagiert. Am 25. Juli 1950 gab die FSK den Herrscher wieder frei, ab 16 Jahren und mit fünf Schnittauflagen.
Entfernt werden mussten Sätze über Führertum, Gefolgschaft und Volksgemeinschaft sowie der "Deutsche Gruß". An der ideologischen Botschaft änderte das nicht viel, und der Zuschauer erfuhr von den Kürzungen wie üblich nichts. Beim Herrscher machte sich die FSK - sicher ungewollt - zum Komplizen von Veit Harlan. Er konnte nämlich in seinen 1966 erschienenen Memoiren umso leichter behaupten, Einstellungen mit Hitlergruß verweigert zu haben, als man sie freundlicherweise aus dem Film herausgeschnitten hatte. Ich würde nicht einmal ganz ausschließen, dass er inzwischen selber glaubte, was er da schrieb, weil er es oft genug erzählt hatte. Vielleicht sah er sich zum Auffrischen der Erinnerung die gekürzte Fassung an und fühlte sich bestätigt.
Wie es dann weiterging ist nur sehr fragmentarisch überliefert. Bei den Vorbehaltsfilmen ist das durchaus typisch. Irgendwie scheint eine Gefahr von ihnen auszugehen, weil man sie sonst nicht wegsperren müsste. Alles andere bleibt nebulös. Der Herrscher wurde noch zwei Mal von der FSK geprüft: am 17. August 1979 und am 24. August 1983. In beiden Fällen wurde er ab 12 Jahren freigegeben, und nur noch mit einer Schnittauflage. Gekürzt werden musste eine Dialogstelle ganz am Schluss. Die 1983 freigegebene Fassung ist ein paar Meter kürzer als die von 1979. Es könnte also sein, dass zumindest 1983 eine Version eingereicht wurde, aus der man den Hitlergruß zuvor entfernt hatte. Einer der 1318 Endnoten von Ingrid Buchloh entnehme ich, dass die ARD den Herrscher 1984, anlässlich des 100. Geburtstags von Emil Jannings, ins Programm nahm. Das dürfte die Fassung von 1983 gewesen sein, ohne Hitlergruß und mit gekürztem Schlussdialog. Die ARD, so Buchloh, "ließ aber die letzten politischen Sätze kommentarlos weg!" Den Hitlergruß erwähnt sie nicht. Ich würde ausschließen, dass sie ihn vorsätzlich verschweigt, um den von ihr so entschlossen verteidigten Harlan keiner Lüge überführen zu müssen. Wahrscheinlich kannte sie nur eine gekürzte Fassung.
Der Leser wird sich inzwischen wundern. Drei FSK-Freigaben, Fernsehausstrahlung … Der Herrscher ist doch ein Vorbehaltsfilm, oder nicht? Stimmt. Gezeigt wird er heute nur in geschlossenen Veranstaltungen mit Referent. Hier darf man seiner Phantasie mal wieder freien Lauf lassen, denn Informationen dazu gibt es nicht. Ich konnte zumindest keine finden. Saß jemand, auf den man bei der Murnau-Stiftung hört, 1984 vor dem Fernseher, als zu Jannings’ Hundertstem Der Herrscher über die Mattscheibe flimmerte und ärgerte sich, weil da trotz entferntem Hitlergruß ein NS-Propagandafilm lief? Erschrak man damals bei der Stiftung und beschloss, den seit 1950 freigegebenen Herrscher zu den anderen Vorbehaltsfilmen in den Giftschrank zu stellen? Nichts Genaues weiß man nicht. Vor der Umgestaltung des Web-Auftritts stand auf der Startseite der Stiftung ein Spruch vom Film, der das Gedächtnis des 21. Jahrhunderts sei (oder war es das 20.?). Gemeint war wohl, dass der Film unser kollektives Gedächtnis ist, das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft, in der wir leben. Die Stiftung hat uns eine kollektive Demenz verordnet.
Spalier der Nazi-Ritter
Interessant ist Harlans Behauptung, er habe die ausgestreckten Arme mit dem Hinweis auf das Auslandsgeschäft verhindern können. Vergleichen wir das mit dem Film, den er gedreht hat. 40 Jahre Clausen-Werke, Jubel, die Arbeiter strecken wie ein Mann den Arm zum "Deutschen Gruß" aus. Einer allerdings sticht heraus. Im Vordergrund, am rechten Bildrand, steht ein Mann mit Hut und Mantel. Durch die Kleidung und die privilegierte Position innerhalb der Einstellung hebt er sich von den anderen ab. Die Kamera fährt dann nach unten, und da ist wieder so ein Mann mit Hut und Mantel. Beide haben ein dunkles Tuch um das Handgelenk des erhobenen Armes gebunden. Hier muss ich leider passen. Sind das Parteifunktionäre? Angehörige der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation oder der Deutschen Arbeitsfront, bei denen es schwarze Uniformen gab? Die Zeitgenossen, nehme ich an, wussten das zu deuten. Ich kann es nicht. (Wer mehr weiß: Bitte melden!).
Die Kamera schwenkt jetzt von rechts nach links. Im Vordergrund, aus nächster Nähe, ist der Rücken einer Person zu sehen. Sie füllt das Bild. Harlan und seine Cutterin Martha Dübber kaschieren so den Schnitt vor der darauf folgenden Kamerafahrt und erzeugen die Illusion einer ununterbrochenen Bewegung. Vor allem aber ist das die Markierung, wo man schneiden muss, wenn die ausgestreckten Arme verschwinden sollen, weil Nazi-Kundgebungen im Ausland nicht gut ankommen. Der Film ist so gedreht und montiert, dass das mit geringem Aufwand zu bewerkstelligen ist. Hut ab vor so viel Professionalität. Nach 1945 erwies sich das als eine Serviceleistung für den Jugendschutz. An dieser Stelle verlangte die FSK den Schnitt, als sie den Film 1950 freigab. An der politischen Botschaft änderte das nichts, nur der Hitlergruß war eben nicht mehr da. Nach dem Schnitt sieht man applaudierende Arbeiter statt solche, die den Arm ausstrecken. Das ist genau geplant. Harlan kam nicht mit Verweis auf das Auslandsgeschäft um den Hitlergruß herum, er lieferte Goebbels einen Film, aus dem man den Gruß, falls für das Auslandsgeschäft erforderlich, problemlos entfernen konnte.
Gar zu zivil sollte es allerdings auch nicht sein. Die mit den applaudierenden Arbeitern endende Kamerafahrt führt an Männern vorbei, die breitbeinig Spalier stehen, was dem Ganzen ein militärisches Gepräge gibt. Harlan demonstriert, dass man für die Uniformierung der Gesellschaft nicht unbedingt Uniformen braucht, wenn man ein guter Regisseur ist. Das Spalier ist von Fritz Langs Die Nibelungen übernommen (Drehbuch: Thea von Harbou). Harlan hat da nicht einfach eine Inszenierungsidee geklaut. Auch dafür ist er ein zu guter Regisseur. Der Herrscher gibt sich hier vielmehr als Gegenentwurf zu Langs Saga von einer korrupten Ritterclique zu erkennen, die mit einem fürchterlichen Gemetzel endet. Bei Harlan (und der von Hitler enthusiasmierten Thea von Harbou, die im Dritten Reich nicht ohne Grund eine vielbeschäftigte Drehbuchautorin war, während ihr Ex-Gatte Naziland verlassen hatte) münden die dramatischen Verwicklungen in ein Heil auf den Führerstaat.
Im ersten Akt von Hauptmanns Stück, bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an den Verleger, tritt der Oberbürgermeister auf, also ein gewählter Volksvertreter (das Stück ist von 1932). Wahrscheinlich steht dieser Herr auch mit auf dem Podium der im Film 40 Jahre alt gewordenen Clausen-Werke, aber er ist so an den Rand gedrängt, dass er und die Ehrenbürgerwürde nur noch in einem Dialogsatz kurz Erwähnung finden. Schließlich geht es hier um eine andere, nicht demokratische Gesellschaftsform. Die Arbeiter jubeln und klatschen nun also, statt "Heil! Heil! Heil!" zu skandieren, und dann wird alles still, weil - zunächst im Off und per Lautsprecher - Heinz Wemper das Wort ergreift. Der heute vergessene Wemper war ein großer Schauspieler, der im Film der 1930er zumeist in kleinen, von ihm präzise herausgearbeiteten Rollen glänzte. Im Herrscher ist er der Werkmeister, der auf dem Podium, nervös und daher etwas atemlos, das Wort an den Firmengründer richtet. Wemper macht das wie immer ausgezeichnet. Der Mann bemüht sich um tadelloses Hochdeutsch, hat mit seiner Rührung zu kämpfen, wirkt völlig glaubwürdig.
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