Emil und der Vierjahresplan
Seite 5: Die Gefolgschaft bringt dem Führer ein Geschenk
- Emil und der Vierjahresplan
- Wehrhaftmachung
- Dienst an der Volksgemeinschaft
- Die Gutehoffnungshütte grüßt den Führer
- Die Gefolgschaft bringt dem Führer ein Geschenk
- Auf einer Seite lesen
"Seit 40 Jahren, hochverehrter Herr Clausen, lenken Sie die Geschicke der Clausen-Werke, die Sie selber geschaffen haben", sagt der Werkmeister. "Immer waren Sie ein Mann der Tat, nicht der Worte. Ein Mann, dem mehr als 20.000 Arbeiter und Angestellte in blindem Vertrauen folgen, weil wir wissen, dass Sie unter 20.000 der Tüchtigste sind." Harlan zeigt uns dazu die Köpfe der Arbeiter, die aufmerksam der Rede lauschen, und beim blinden Vertrauen sind wir beim Podium angekommen, wo der Werkmeister seinem Helden gegenübersteht. "Ein Führer, ein Vorbild", sagt er (was 1950 auf Anweisung der FSK entfernt werden musste). "Denn wodurch sind denn die Clausen-Werke zu diesem Musterbetrieb geworden? Durch Ihre unermüdliche aufopfernde Arbeit. Und so, hochverehrter lieber Herr Clausen, habe ich die Ehre, Ihnen im Namen der Gefolgschaft der Clausen-Werke als Zeichen unserer tief empfundenen Dankbarkeit dieses Geschenk zu überreichen."
Im Namen der Gefolgschaft der Clausen-Werke? Klingt komisch und nach schlechtem Deutsch. "Gefolgschaft" war ein NS-Wort für Belegschaft und musste von 1950 bis 1979 raus, was vermutlich daran lag, dass sich bei der ersten FSK-Prüfung noch jemand an die Folgen des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 erinnerte. Mit diesem Gesetz wurde Wirtschaftsbetrieben das Führerprinzip verordnet. Unternehmer waren laut §1 "Führer des Betriebs", Arbeiter und Angestellte die "Gefolgschaft". Trotz kosmetischer Aufhübschungen mit "Vertrauensräten" und dergleichen: Der Führer gab die Befehle und die Gefolgschaft tat, was man ihr sagte. Die betriebliche Mitbestimmung war endgültig abgeschafft. Mitzureden hatten allerdings die vom Reichsarbeitsminister eingesetzten "Treuhänder der Arbeit", die dem NS-Staat dabei halfen, in die Betriebe hineinzuregieren. Über diese "Treuhänder" ärgerte sich die deutsche Wirtschaft viel mehr als über die "marxistische Propaganda" in Der Herrscher. Sozialistisch hieß im Dritten Reich nationalsozialistisch. In diesem Film wird das exekutiert. Systemkonformer geht es nicht.
Clausen nimmt die tief empfundene Dankbarkeit der Gefolgschaft schweigend hin - und tief bewegt, hätte ich fast geschrieben, aber das wäre falsch. Jannings verzieht keine Miene. Durch den Kontrast zum gerührten Werkmeister wird hervorgehoben, wie emotionslos Clausen ist. So inszenierte sich der andere Führer, Adolf Hitler, gern bei seinen öffentlichen Auftritten, wenn er den sich aufopfernden Diener der Volksgemeinschaft gab, der eisern seine Pflicht erfüllt und sich dabei keine Gefühle leisten kann, weil Gefühle Schwäche sind.
Der Werkmeister übergibt seinem Helden ein Modell von den Clausen-Werken inklusive der Schmiede, in der Clausen vor 40 Jahren angefangen hat. "In dieser kleinen Kesselschmiede, an der wir heute noch jeden Tag, den Gott werden lässt, vorüber gehen, haben Sie vor 40 Jahren als einfacher Schlosser jearbeitet", sagt er. Und dat is’ es ja g’rade, hochverehrter Herr Clausen, wat uns so fest mit’nander verbindet, dat Sie auch 'n ganz gewöhnlicher Arbeiter gewesen sind wie wir alle, und dat Sie auch 'n rußjeschwärztes Gesicht und zerkloppte Daumen gehabt haben wie wir alle. Heute ham Sie ja nun kein rußjeschwärztes Gesicht und keine zerkloppten Daumen mehr, aber 'n Arbeiter sind Sie geblieben, und darum erlauben Sie mir, dat ich Ihnen im Namen aller meiner Arbeitskameraden die Hand drücke und unsere kleine Feier mit dem Ruf schließe: Unser hochverehrter Herr Clausen, der erste Arbeiter unseres Werkes, er lebe hoch!" Bei "aber 'n Arbeiter sind Sie geblieben" wird auf glücklich lächelnde Arbeiter geschnitten. Mir kommt das etwas dick aufgetragen vor, aber ich betrachte die Szene von heute aus und kann mir durchaus vorstellen, dass ein Schuss Sentimentalität die Wirkung steigert, wenn man in einem diktatorisch sein Werk regierenden Industriellen einen Helden der Arbeiter sieht.
Die Nazis hatten eine sehr moderne Marketing-Strategie. Analog zu Clausen, der auch als Wirtschaftsboss ein einfacher Arbeiter geblieben ist (sagt der Werkmeister und mit ihm der Film) verkauften sie ihren Führer nicht mehr als Feldherrn in Galauniform, wie es etwa zu den Imagekampagnen für Italiens Diktator Mussolini gehörte, sondern als "einfachen Soldaten". Den ersten Arbeiter der Clausen-Werke lässt die Menge jetzt hochleben, und dazu fahren die Arbeitskameraden wieder den Arm aus, machen den "Deutschen Gruß" allerdings nicht mehr so steif und ritualisiert wie zu Beginn, sondern so, dass es als spontane Begeisterung durchgehen kann, obwohl das eine politische Kundgebung ist, nach Regieanweisung von Veit Harlan. Gleich sind die Arme wieder unten, dann fangen die Arbeiter erneut zu klatschen an. Die Bergmannskapelle spielt einen Marsch, die Kamera fährt auf den Schalltrichter einer Tuba zu, von da wird auf die Wellen in einem künstlichen Teich überblendet.
Es wird einmal ein Wunder gescheh’n
Harlan mochte solche Übergänge, die man virtuos finden kann oder affektiert. Mir gefällt dieser hier ganz gut, weil er zur gekünstelten Atmosphäre im großbürgerlichen Palast des "ersten Arbeiters im Werk" überleitet. Dort feiert die High Society. Harlan und Harbou nutzen die Gelegenheit, um zu rekapitulieren, was das für eine Familie ist, von der sich Clausen lossagen wird: Sohn Wolfgang, ein schnöseliger Akademiker, verheiratet mit Paula Clothilde, geborene von Rübsamen, die stets nur an den eigenen geldwerten Vorteil denkt und wieder ihr Lorgnon mitgebracht hat, um die Pretiosen im Haus des Schwiegervaters besser inspizieren zu können; Tochter Bettina, die buckelige Hysterikerin; Tochter Ottilie, hypochondrisch und verheiratet mit Direktor Klamroth, der die (kriegswichtige) Rohstoffforschung sabotiert hat. Mit dabei steht Sanitätsrat Geiger. Er ist erstaunt darüber, wie gut sich sein Freund Clausen von dem Zusammenbruch vor einem Jahr (nach der Direktoriumssitzung) erholt hat. Geradezu ein Wunder sei das, meint er. "Es ist ein Wunder, Herr Sanitätsrat", antwortet Bettina. "Mutters Hand hat meine Pflege gesegnet." Das Bild der toten Mutter hängt in diesem Haus an der Wand, weil die Kinder, allen voran die ledige Tochter, ödipal an sie gebunden sind. Hauptmann, darin ganz der naturalistische Dramatiker, macht in Vor Sonnenuntergang die psychische durch eine physische Deformation deutlich, den vom Film übernommenen Buckel.
Natürlich ist es nicht diese gestörte Tochter, der Clausen seine Genesung verdankt. Es ist Inken Peters, inzwischen Clausens Privatsekretärin, mit der Klamroth gerade tanzt. Klamroth ist ein geiler alter Bock, der nicht die Finger von der schlanken jungen Frau lassen kann und versucht, sie zu einer Spritztour mit seinem neuen Wagen und zu einem gemeinsamen Weekend zu überreden. Inken lässt ihn selbstverständlich abblitzen und entwindet sich den Händen dieses Lüstlings, der nur zu gern seine Gattin Ottilie, Clausens Tochter, mit ihr betrügen würde. Es folgt ein Wortgefecht mit der Geborenen von Rübsamen, die Inken unterstellt, sich von Clausen für sexuelle Gefälligkeiten reich beschenken zu lassen. Inken ist zusammen mit ihrer Mutter zu dem Fest gekommen, der Besitzerin einer kleinen Gärtnerei, um zu betonen, wie unterschiedlich die zwei Welten sind, die hier aufeinander stoßen: die von Inken (Einfachheit, Ehrlichkeit, Frische, Natürlichkeit) und die von Clausens Kindern und Schwiegerkindern (Hinterlist, Gemeinheit, Geldgier, Dekadenz).
Wie böse es mit den Clausens enden könnte zeigt Luchino Visconti in seiner Version der Krupp-Story, Die Verdammten. Im Herrscher aber steht der Patriarch im Mittelpunkt. Wenn Klamroth, ohnehin der Buhmann, zu allem Überfluss auch noch ein Lüstling sein muss, schmeckt das nach Overkill. Dramaturgisch ist es erforderlich, weil die Liebe Clausens zu einer sehr viel jüngeren Frau ein heikler Punkt ist. Durch den Kontrast zu Klamroth und seinen plumpen Annäherungsversuchen zeigt sich, dass daran nichts Anrüchiges ist. Nach dem Fest zieht Clausen sich mit Sanitätsrat Geiger zu einem Gespräch unter alten Freunden zurück. Er fühlt sich wie ein neuer Mensch: "Und wenn es nicht pathetisch klänge, dann würde ich sagen: An mir ist ein Wunder geschehen." "Und wer hat dieses Wunder vollbracht?" fragt Geiger. Inken Peters heißt das Wunder. "Ihre Klarheit, ihre Frische, ihre Jugend", begeistert Clausen sich, "überströmen mich mit neuer Lebenskraft. Ich … ich kann sie einfach nicht mehr entbehren, ich wehre mich auch nicht. Mag kommen, was da will, ich liebe dieses Mädchen."
Weil das eine zarte, tief empfundene Liebe ist und keine Lüsternheit, und weil Clausen der Altersunterschied sehr wohl bewusst ist, hat er Inken von seinen Gefühlen noch nichts gesagt. Der Sanitätsrat gibt ihm seinen Segen und empfiehlt, das schleunigst nachzuholen: "Denn wer die Wandlung gesehen hat, die durch dieses Mädchen mit dir vorgegangen ist, der kann doch nur freudig Ja und Amen sagen." Als sein Arzt und als sein Freund ist Geiger nur an Clausens Wohlergehen interessiert. Wer nicht Ja und Amen sagt, heißt das im Umkehrschluss, hat eigene Interessen. Die beiden Freunde stoßen auf Inken Peters an, während im Nebenzimmer die Kinder sitzen und Bettina Klavier spielt, um akustisch auf diese Präsenz hinzuweisen. Zur Zerstreuung etwaiger Zweifel an der Reinheit von Inkens Motiven werden wir bald danach eine Unterredung mit ihrer Mutter belauschen, in der sie sagt, dass sie niemals von Clausen weggehen würde: "Ob du’s verstehst oder nicht, ich liebe den Mann." "Aber er wird dich doch nicht heiraten", wendet die Mutter ein. "Nein, natürlich nicht", antwortet Inken fröhlich. "Ich bin doch nicht größenwahnsinnig. Ich will nur bei ihm sein." Sexuelles bleibt sorgsam ausgespart.
Eklat am Familientag
Inzwischen ziehen sich dunkle Wolken über den Liebenden zusammen, denn Egert, der jüngste Sohn, hat dem Rest der Verwandtschaft erzählt, dass der Vater jeden Sonntag in der Gärtnerei verbringt und er Inken für dessen Freundin hält. Hier nimmt nun die melodramatische Geschichte Fahrt auf, die Jannings als künstlerischer Oberleiter bei Hauptmann angekauft hat. Klamroth hat eben noch seine und Ottiliens Kinder angeschleppt, damit sie für den Opa ein Gedicht aufsagen. Jetzt bezichtigt er den Schwiegervater, sich eine Geliebte zu halten. Wolfgang fürchtet um seinen Ruf, Bettina sieht die Mutter geschändet, Clothilde zischt, dass die Glücksritterin womöglich schon Wertsachen aus dem Haus geschleppt hat, und Bettina fällt dazu der mütterliche Schmuck ein, der von Clausen aus dem Tresor geholt wurde. "Heute ist es der Schmuck, morgen vielleicht das Haus", sagt Clothilde giftig, "übermorgen das Bankkonto" (mit Betonung auf den zwei ks). Das besondere Augenmerk gilt einem Ring, den Bettina zu "Mutters Heiligtum" erklärt. Tatsächlich gehörte der Ring einst Clausens Mutter, später hat er ihn seiner Frau geschenkt, der Mutter seiner Kinder, und jetzt gibt er ihn an Inken weiter, mit der er den Rest seines Lebens verbringen will. Diese Kinder wissen gar nichts von ihrem Vater. Von Inken und ihrer Mutter wissen sie auch nichts, weil sie sonst nicht versuchen würden, das Problem mit Geld aus der Welt zu schaffen. Klamroth bietet Frau Peters 40.000 Reichsmark, wenn sie mit ihrer Tochter die Stadt verlässt. Ohne Erfolg.
Clausen will nun noch einmal durchstarten und endlich den Urlaub machen, den er wegen der schändlichen Einstellung seiner Direktoren vor einem Jahr nicht nehmen konnte. Er kauft sich ein Schloss in Bayern, lässt eine Yacht bauen und bittet Inken, den Verlobungsring anzunehmen und ihn fortan auch privat zu begleiten. Inken sagt Ja. Clausen will wissen, ob sie sich das gut überlegt habe. Er sei ein alter Mann. Inken gibt das Credo der Heldin im NS-Film ab: "An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal für Sie arbeitete, im Februar vor einem Jahr, wusste ich, dass ich zu Ihnen gehöre. Seitdem habe ich nie etwas anderes gewollt, als bei Ihnen bleiben zu dürfen." Das ist keine Amour fou, sondern das Chauvitum der Nazis. Die Frau als Helferin und treue Begleiterin des Mannes. Warum kauft sich Clausen keinen Hund? Antwort: Weil der weibliche Teil des Publikums durch das Vorbild der Heldin das korrekte Verhalten der deutschen Frau einüben soll und weil ein Hund im Haus nicht den Konflikt hervorrufen würde, den der Film braucht, um seine Botschaft von der Leinwand in den Zuschauerraum zu bringen.
Clausen plant, Inken offiziell in die Familie einzuführen. Das soll beim gemeinsamen Frühstück geschehen, zu dem Kinder und Schwiegerkinder einmal im Monat anreisen, zur Stärkung des Zusammenhalts. An diesem "Familientag" kommt es zum Eklat. Clausen hat durch den treuen Diener Winter ein neuntes Gedeck auflegen lassen, das Sohn Wolfgang prompt entfernen lässt. Vor rund einem Jahr, bei der Direktoriumssitzung, hat Clausen erklärt, dass sein Wille das oberste Gesetz ist und im Werk kein Platz mehr für Leute, die sich dem nicht unterwerfen. Das wird jetzt auf die Familie übertragen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Die Kinder und Schwiegerkinder wollen, dass am Familientag am Tisch der Clausens kein Platz für Inken Peters ist. Das kommt einer Palastrevolte gleich. Die Verschränkung des Privaten und des Politischen war eine Spezialität Thea von Harbous, und Harlan war auch nicht eben schlecht darin. So macht man aus dem Melodram das Vehikel der Indoktrination.
Inken sieht, dass nicht für sie gedeckt ist, versteht die Botschaft und verlässt das Haus. Clausen haut kurz mit der Faust auf den Tisch, beruhigt sich dann gleich wieder. Er ist mit einer Situation konfrontiert, die jener bei der Direktoriumssitzung sehr ähnlich ist. Damals musste er feststellen, dass sein Schwiegersohn das Geld für die Rohstoffforschung gestrichen hatte. Jetzt muss er erfahren, dass sein Sohn das Gedeck für Inken entfernen ließ. Die eine Szene spiegelt sich in der anderen, weil es das Ziel des Films ist, das Private nach und nach zugunsten des Öffentlichen aufzulösen. Mir ist Clausen über weite Strecken sehr sympathisch. Das liegt an der Schauspielkunst von Emil Jannings und an der Regie von Harlan, der ihn dazu gebracht hat, seine darstellerischen Mittel fein dosiert einzusetzen, statt bei jeder Gelegenheit die Rampensau zu geben. Clausen ist da, wo ich ihn mag, ein sensibler, gebildeter, sorgfältig formulierender alter Herr, ein Mann der leisen Töne, der durch die Liebe zu einer viel jüngeren Frau eine Lebenskrise überwindet.
Das Problem daran ist nur, dass die von mir beschriebene Figur nur bedingt zu der Geschichte passt, die der Film zu erzählen hat. Am Ende wird ein Mann aus Stahl gebraucht, der nicht mehr viel mit dem feinfühligen Verleger aus dem Stück von Gerhart Hauptmann zu tun hat. Der sympathische alte Herr, den ich da sehe, ist der Köder, mit dem man in eine Welt gelockt wird, die hart wie Kruppstahl ist. Diese zum geflügelten Wort gewordene Redewendung findet sich übrigens in einer Ansprache, die Hitler im September 1935, beim Nürnberger Reichsparteitag, an 50.000 Hitlerjungen richtete: "In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!" Letzteres galt auch für alte Männer. In Der Herrscher geht es um nichts weniger als um die Erschaffung eines Neuen Menschen.
Unter Nichtstuern und Schmarotzern
Davon ahnt man noch recht wenig, als Clausen mit seiner Familie am Frühstückstisch sitzt und sich nach Inkens Abgang um den Anschein von Normalität bemüht. Zur Eindämmung des Konflikts versucht er, mit seinen Angehörigen ins Gespräch zu kommen. Klamroth ist der erste. "Was gibt es Neues aus Genf, Herr Klamroth?", will der Schwiegervater beim gemeinsamen Löffeln der Frühstückssuppe wissen. Der Schwiegersohn, der schon die Entwicklung der synthetischen Rohstoffe stoppen wollte, hat natürlich "keine Ahnung". Genf war der Sitz des Völkerbundes, der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen. Seit die Nazis damit begonnen hatten, die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu umgehen und aufzurüsten wurde dort versucht, eine diplomatische Lösung zu finden. Die gleichgeschalteten deutschen Medien berichteten im Sinne des NS-Regimes über die Verhandlungen. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und ihre Verbündeten waren da die Kriegstreiber, die einer echten Abrüstung im Wege standen. Genf wurde so zum Ort, an dem feindliche Mächte das "Diktat von Versailles" durchzusetzen suchten und die - aus Nazisicht - legitimen deutschen Interessen beschnitten. Für die Clausen-Werke sind die Genfer Verhandlungen wichtig, weil dieser Betrieb, wie verklausuliert auch immer, zur Rüstungsindustrie gehört (so wie die Krupp AG zur Waffenschmiede des Dritten Reichs wurde).
Weil es den Kindern und Schwiegerkindern nur um ihr durch Inken Peters bedrohtes Erbe geht verliert Clausen doch noch die Contenance und beklagt sich über das unverschämte Verhalten ihm und einem schutzlosen Mädchen gegenüber. Mit dem Zorn des Gerechten beschimpft er die ganze Sippschaft als "anspruchsvolle verwöhnte unfähige Nichtstuer und Schmarotzer". Dann folgt einer dieser irren, in NS-Propagandafilmen gar nicht so seltenen Momente, in denen der Held seinen Kontrahenten Dinge vorwirft, die man eigentlich vom Dritten Reich und der Willkürherrschaft der Nazis kennt: "Bin ich euer Geschöpf, euer Eigentum, euer Gegenstand", ereifert sich Clausen, "oder aber ein freier Mensch mit dem Recht auf freie Entschließungen? Woher nehmt ihr die Frechheit, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Wie könnt ihr es wagen, Spürhunde auf meine Fährte zu legen und mich heimlich wie einen Verbrecher polizeilich zu kontrollieren?" Das sagt ausgerechnet der Mann, der verlangt, dass sein Wille als oberstes Gesetz zu gelten hat - in einem Land, das seine Bürger unter Generalverdacht stellte, durch eine ständig wachsende Geheimpolizei kontrollieren ließ und Menschen wie Gegenstände behandelte, wenn sie keinen Platz in der "Volksgemeinschaft" mehr hatten. Gipfeln würde das in Jud Süß, wo sich die Juden zur Unterdrückung der Württemberger eine Gestapo halten.
So ein NS-Held muss auch mal brüllen, wenn er mit der Schlechtigkeit der Welt konfrontiert ist und ihn die Widersacher reizen bis aufs Blut. "Hinaus! Hinaus! Hinaus!" schreit Clausen und wirft die Kinder aus dem Haus. Weil der NS-Staat in alle Bereiche des täglichen Lebens hineinregieren wollte, die Familie also nicht von den Clausen-Werken (= dem Staat) zu trennen ist, hat er Klamroth zuvor noch seine Vollmachten als Direktor entzogen. Dann meldet sich wieder sein schwaches Herz. Schuld sind die Kinder. Sie versündigen sich gleich mehrfach: am Vater, am vom Vater aufgebauten Betrieb, am Vaterland. Es geht jetzt um alles. "Ich lasse mir nicht das Lebenslicht ausblasen", sagt Clausen noch, bevor abgeblendet wird und der dritte und letzte Akt beginnt.
Vor dem Herrscher, in Traumulus, spielte Jannings einen Gymnasialdirektor, der nach dem Tod seiner ersten Gattin die junge, verschwendungssüchtige und kokette Jadwiga heiratet. Der Film endet mit dem wirtschaftlichen Ruin des Direktors und dem Suizid eines Schülers. Neben dem Leichnam des Schülers stehend wendet sich der Lehrer an den Rest der Klasse: "Ich habe euch nicht geführt, ich habe euch nicht gekannt, ich habe versagt. Ich trete ab. Mein Gott, nun steht ihr da, ihr Kinder, und meint, der da war ein Held. Nein, er war kein Held, und wir sind nicht in dieses Leben geschickt worden, um ihm zu entfliehen, sondern um es zu bezwingen. Deshalb stählt und härtet euch! Kämpft, siegt über euch selbst!" Im Herrscher bringt Jannings sich nicht um wie der Schüler in Traumulus oder der Verleger im Stück von Gerhart Hauptmann. Er stählt und härtet sich wie der Held im Nibelungenlied. Wie wird man zum Siegfried unter Deutschlands Wirtschaftsführern? Die Antwort gibt der nächste Teil:
Emil und das Bad im Drachenblut
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.