Die Zombieregierung in Großbritannien
Die Schwäche der Opposition hält Regierung an der Macht
Zum zweiten Mal seit 2011 halten die britische Konservativen ihren Parteitag im nordwestenglischen Manchester ab. Schon damals demonstrierten Zehntausende dagegen. Freundschaftliche Gefühle in der Bevölkerung gibt es auch jetzt nicht. 50.000 Demonstranten folgten am 29. September laut Polizeiangaben einem Aufruf des britischen Gewerkschaftsbundes TUC, etwa 80.000 waren es laut den Organisatoren. Die Lokalpresse schreibt von der größten Demonstration, die Manchester je gesehen hat.
Die nationale britische Presse ignorierte die Demonstration weitgehend. "Es gibt nichts zu sehen, bitte weitergehen", war der satirische Titel eines Blogs dazu. Dabei sollte die Größe der Demonstration der britischen Regierung zu denken geben. Sie ist ein Indikator für den wachsenden Unmut gegenüber Premierminister Cameron und Co.
Und Manchester ist nicht die einzige Großdemonstration der jüngsten Zeit. Über 20.000 Menschen demonstrierten am 21. September in Edinburgh für die schottische Unabhängigkeit. ()Zwar ist immer noch nur eine Minderheit aller Schotten für eine Trennung vom Vereinigten Königreich, doch diese Minderheit wird mit jeder neuen Sparmaßnahme größer.
Weitere 20.000 demonstrierten am 30. September in Stafford gegen die Schließung eines Kinderkrankenhauses. Auch die Demonstration in Manchester hatte die geplante Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens NHS als zentrales Thema. Das NHS ist tief im Massenbewusstsein als größte Errungenschaft der Nachkriegszeit verwurzelt. Der geplante Verkauf dieser Institution an multinationale Gesundheitskonzerne hat Aufstandspotential.
Ein Ende der Einsparungen ist nicht in Sicht. Finanzminister Osborne warb in seiner Parteitagsrede für die Idee, in Jahren des Wirtschaftsaufschwungs ein Haushaltsplus zu erzielen. Außerdem sollen zukünftig Arbeitslose zu gemeinnütziger Arbeit gezwungen werden. Das ist eine Weiterentwicklung von Workfare-Konzepten, die von britischen Gerichten bereits für illegal erklärt wurden.
David Cameron ist durch historische militärische Abstimmungsniederlage angeschlagen
Die Konservative Partei gibt sich in Manchester optimistisch. Osborne redet gar von der Sonne, die bereits aufgeht und eine bessere Zukunft als jemals zuvor verspricht. Doch die Abstimmungsniederlage der Regierung über die Frage eines britischen Kampfeinsatzes in Syrien hat große Schwächen der Regierung deutlich gemacht. Zum ersten Mal seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verlor eine britische Regierung eine militärpolitische Abstimmung.
Das ist auch dem russischen Premierminister Putin aufgefallen. Der nannte Großbritannien im Rahmen des letzten G20-Gipfels "eine kleine Insel, die nichts mehr zu sagen hat". Die Antwort der britischen Bulldogge, personifiziert durch Premierminister Cameron, lies nicht lange auf sich warten: "Wir sind zwar nur eine kleine Insel, aber wir haben die Stimme eines Löwen!"
Dieser kleine Zwischenfall verdeutlicht ein Problem der britischen Regierung. Sie steckt in der Krise. Es ist eine Zombieregierung, die nur durch die noch größere Schwäche ihrer Gegenspieler am Leben erhalten wird.
Cameron wurde durch zweierlei erledigt. Zum einen durch das Taktieren der oppositionellen Labour-Partei. Deren Spitze forderte mehr Zeit für UN-Inspektoren, um Beweise für einen möglichen Giftgaseinsatz durch das syrische Regime zu finden. Zusätzlich versagte eine Gruppe rund um das europaskeptische Lager in der konservativen Parlamentsfraktion Cameron die Gefolgschaft. 30 Tories stimmten gegen einen Militäreinsatz, 30 weitere erschienen gar nicht erst zur Sitzung.
Die Abstimmungsniederlage Camerons ist auch ein später Erfolg der britischen Antikriegsbewegung. Hier dürfte sich die Intervention des ehemaligen Premierministers Blair, der sich mit einer Reihe von Zeitungsartikeln in die Debatte einmischte und einen Militärschlag gegen Syrien vehement einforderte, eher gegen das Vorhaben der derzeitigen Regierung ausgewirkt haben. Nur eine Minderheit der Bevölkerung war für einen Militärschlag, zu stark ist die Erfahrung mit gefälschten "Beweisen" im Bewusstsein verankert.
Damit hat Cameron jetzt ein innenpolitisches Problem. Es ist noch rund anderthalb Jahre bis zu den nächsten Wahlen. Bis dahin möchte seine Regierung einiges umsetzen: Die Privatisierung des Gesundheitswesens und der Post, neue Gesetzgebung, die die finanziellen Möglichkeiten von NGOs und Gewerkschaften drastisch einschränkt, die Errichtung von Fracking-Anlagen in vielen ländlichen Gebieten sowie die Reduzierung der Dachspopulation im Interesse der Fleischindustrie, um nur einige zu nennen.
Alle diese Maßnahmen sind in der Bevölkerung umstritten. Die Abstimmungsniederlage hat bewiesen, dass die Regierung besiegbar ist.
Teilweise kriegt die Regierung sogar Gegenfeuer aus den eigenen Reihen. So ist das geplante Transparenz- und Lobbygesetz auch unter Konservativen umstritten. Das Gesetz richtet sich hauptsächlich gegen die Gewerkschaften. Vor allem in Wahlkampfjahren soll es ein Maximum festlegen, das für politische Kampagnen ausgegeben werden darf.
Zusätzlich hat Cameron nun Schwierigkeiten mit den Vereinten Nationen. Raquel Rolnik, UN-Sonderberichterstatterin für Wohnungsfragen, besuchte Großbritannien Anfang September. Dabei stellte sie große Mängel fest. Insbesondere kritisierte sie die so genannte "bedroom tax", eine neue Abgabe, die Familien aus ihren Sozialwohnungen vertreibt, wenn ein Zimmer nicht oft genug verwendet wird. Rolnik nannte diese Maßnahme menschenrechtswidrig, die konservative Tagespresse reagierte mit Hasstiraden gegen die Sonderberichterstatterin.
Da passt die Ankündigung Camerons, Großbritannien aus der europäischen Menschenrechtskonvention herausholen zu wollen, ins Bild. Aus dem Ausland will man sich nichts vorschreiben lassen. Das ist ein Zugeständnis an die Europaskeptiker in den eigenen Reihen und ein Abwehrmanöver gegen die rechtspopulistische UKIP-Partei, die an der konservativen Mitgliedschaft nagt.
Seit Cameron Parteichef ist, ist die Zahl der Parteimitglieder um die Hälfte von 253.000 auf 134.000 gesunken. Die Parteispitze enthielt diese Zahlen ihren eigenen Reihen lange Zeit vor, für eine Veröffentlichung brauchte es erst eine Graswurzelkampagne innerhalb der Partei.
Was ist mit der Labour-Partei?
Was hält diese Regierung an der Macht? Die Schwäche der Opposition. Die Labour-Partei hat einen internen Krieg gegen die Gewerkschaften begonnen. Sie möchte die historische Verbindung mit den Gewerkschaften kappen. Gewerkschaften haben die Labour-Partei gegründet. Der Großteil des Parteieinkommens kommt aus Gewerkschaftskassen. Doch der politische Einfluss, den Gewerkschaften auf die Parteipolitik haben, ist in den vergangenen Jahrzehnten auf ein fast nicht mehr wahrnehmbares Minimum abgesenkt worden.
Im kommenden Frühling will Labour eine Sonderkonferenz abhalten, um das Verhältnis mit den Gewerkschaften neu zu regeln. Geht es nach Parteichef Miliband soll es dann nur noch eine individuelle Mitgliedschaft von Gewerkschaftern geben. Als Organisationen hätten die Gewerkschaften dann keine kollektive Stimme mehr in der Partei. Das setzt vor allem jene Gewerkschaftsführer unter Druck, die auch unter den Regierungen Blair und Brown die Verbindung mit der Labour-Partei immer verteidigt haben: Trotz Irakkrieg und Privatisierungsmaßnahmen.
Miliband versuchte in den vergangenen Wochen seine Partei in ein linkes Licht zu rücken. So möchte er die Verbraucherkosten für Strom und Gas einfrieren. Diese Idee begeistert die großen Energiekonzerne naturgemäß überhaupt nicht, sie schickten den alten Spindoktor Peter Mandelson ins Rennen, um den Plan schnellstmöglich vom Tisch zu kriegen. Mandelson war ein Vertrauter des ehemaligen Premierministers Blair und leitet heute eine Lobbyfirma für Energiekonzerne.
Nach den neuesten Umfragen wird die Labour-Partei zwar bei kommenden Parlamentswahlen mit 39% aller Stimmen stärkste Kraft, muss sich aber einen Koalitionspartner, wahrscheinlich die Liberaldemokraten, suchen. Diese stehen derzeit bei 11%, überraschend stabil für eine Partei, mit deren politischem Tod man wegen ihrer Regierungsbeteiligung mit den Konservativen eigentlich fest rechnete.
Miliband laviert. Die Energiekosteninitiative soll ihm ein radikales Image verschaffen. Auf der anderen Seite weigert er sich, die Einsparungen der Koalitionsregierung im Falle eines Wahlsieges rückgängig zu machen. Auf jeden Fall schafft es Miliband nicht, die nötige Mehrheit der Wähler davon zu überzeugen, eine glaubwürdige Alternative zur derzeitigen Regierungsmannschaft zu sein.
Die Gewerkschaften stehen unter steigendem Druck, etwas zu unternehmen. Lehrer, Feuerwehrleute, Postler und viele andere Berufsgruppen stehen in Arbeitskämpfen gegen die Regierung. Hinzu kommen Auseinandersetzungen im privaten Sektor. In einer Großbäckerei in der Nähe von Manchester streikten die Beschäftigten gegen prekäre Arbeitsbedingungen und gewannen.
Auf seinem jüngsten Kongress beschloss der britische Gewerkschaftsbund TUC einen Aktionstag an einem Arbeitstag unter der Woche. Das folgt aus einer zunehmenden Unzufriedenheit in der Mitgliedschaft über große, aber letztendlich zahnlose Großdemonstrationen am Wochenende. Über eine Millionen Menschen demonstrierten gegen den Irakkrieg in London, konnten aber die Blair-Regierung nicht stoppen.
Ein unsichererer und durch Ereignisse wie dem Regierungsshutdown in den USA gefährdeter Wirtschaftsaufschwung und wachsende Militanz in der Bevölkerung gegen die Regierungspolitik sind das Spannungsfeld, in dem David Camerons Regierung sich bewegt. Es ist möglich, dass sie bis zu den Wahlen im Mai 2015 überlebt. Eine ausgemachte Sache ist es nicht.