Die Zuschauer sind zum größten Teil weiblich, jung und einsam ...

Wissenschaftliche Studie zu Big Brother

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Am 27.01.2001 ist die so genannte Life-Soap "Big Brother" in die dritte Runde gegangen. Nachdem anfangs die Wellen sehr hoch geschlagen sind und sogar ein Verbot gefordert wurde, haben sich die meisten jetzt scheinbar mit dem neuen Sendeformat abgefunden. Schlagzeilen liefert die neue Staffel nicht mehr, nur die Fans werden durch kleine Änderungen der Spielregeln bei Laune gehalten.

Trotzdem brachte die Sendung neue Aspekte in die Medienlandschaft, mit denen man sich jetzt auch auf wissenschaftlicher Ebene auseinandergesetzt hat.

Das Phänomen "Big Brother" lebt vom Jedermann-Menschen. Menschen wie du und ich sehen und halten die Sendung hoch. Voyeurismus soll dabei nicht die wesentliche Rolle spielen, sondern das Interesse an Situationen, die einen Ausnahmezustand des Alltags darstellen. Das zumindest sind Detail-Ergebnisse einer nicht repräsentativen Studie der Universität Augsburg. Der Kommunikationswissenschaftler Professor Grimm befragte mit Studenten des Fachbereiches über 800 Personen ab 12 Jahren zu ihren Sehmotiven, ihrer Mediennutzung, zu Personenbewertungen und Zukunftsaussichten von "Big Brother".

Die Befragten der Augsburger Studie haben scheinbar den von RTL angedachten Sinn und Zweck von Big Brother I erkannt und interpretierten die Aufgabe, sich 100 Tage in einem Container der Fernsehöffentlichkeit zu stellen, doch als eine Ausnahmesituation des Alltags. Durch die tägliche Ausstrahlung eines Zusammenschnitts im Fernsehen und der Möglichkeit, per Internet jederzeit in den Container zu schauen, konnten sich die Zuschauer mit einzelnen Kandidaten identifizieren. Dabei haben sich Zuneigung und Abneigung entwickelt. Das Phänomen "Big Brother" hat nach Ansicht der Kommunikationsforscher einen ebenso hohen Stellenwert gehabt wie die Wahl eines amerikanischen Präsidenten oder der Tod von Lady Diana. Besonders bei den 12- bis 19-Jährigen erzielte Big Brother I Traumquoten. Bei BB II dagegen hatte RTL schon erhebliche Probleme, die Quote zu halten.

Mit der Befragung sollten folgende Fragen geklärt werden: "Welche Motive der Zuschauer und welche medialen Bedingungen haben den Big-Brother-Boom ermöglicht? Was macht "Reality TV" mit erkennbar hohen Anteilen der Inszenierung attraktiv für das Publikum? Welche psycho-sozialen Funktionen erfüllt "Big Brother"? Welche Merkmale unterscheiden die Vielseher von "Big Brother" von denjenigen, die sich dem Format verweigern? Und schließlich: Inwieweit wird die Totalüberwachung als Verletzung der Intimsphäre interpretiert?" Die Befragung wurde ausschließlich während der 1. Staffel der Sendung durchgeführt.

Verbieten?

Die Menschenwürde der Containerbewohner ist nach Ansicht von 92,5 Prozent der befragten Zuschauer nicht verletzt. Bei der Frage nach einem Verbot (Sollte eine "härtere Gangart eingeschlagen" werden?), stimmen zwar noch 61,9 Prozent mit "Nein", aber doch auch 38,1 Prozent mit "Ja". Verbotsforderungen stammen oft zu einem größeren Anteil von Nichtsehern, wobei die Wissenschaftler deren Erfahrungsgrundlage als fragwürdig ansehen. Bei den politischen Bedenkenträgern von damals ist die Luft inzwischen wohl raus: Nach Auskunft des Büros der CDU-Jugendschützerin Böhmer (Schluss mit lustig) ist Big Brother derzeit kein Thema, hier will man sich vielmehr mit der Reform des Jugendschutzes beschäftigen. Weitere Stellungnahmen speziell zu der Doku-Soap wurden abgelehnt.

Hauptinteresse Neugierde

Zirka 30 Prozent der Befragten bezeichneten sich als Vielseher. Grimm ist klar, dass die Studie zwar nicht repräsentativ ist, aber eine hohe Aussagekraft in sich birgt. Für die Befragten war das Hauptinteresse an der Sendung die Neugierde, wobei sich das Interesse auf das Alltägliche und weniger auf das Außergewöhnliche konzentrierte. Eine deutliche Mehrheit von 80 Prozent empfand das Geschehen im Big Brother Container trotz Eingriffs der Regie als realistisch.

Als Grund für den Erfolg der Sendung sieht Grimm nach diesen ersten Ergebnissen, dass die Zuschauer eine "Gier nach der Wirklichkeit" an den Geschehnissen rund um die Bewohner im BB-Haus entwickelten. Je mehr sich allerdings die Regie einmischte, schien das Interesse abzurutschen und BB geriet in eine Krise.

Neben der Neugierde als Motiv, sich Big Brother zuzuwenden, versuchten die Wissenschaftler auch Antworten in den Teilgebieten wie Orientierung, Erlebniswert, Gefühlsmanagement, Para-Soziale Interaktion, Soziale Interaktion und Spiel in Erfahrung zu bringen.

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Jeder Zuseher war auch Teil einer Kommunikationskette unter Freunden, auf dem Schulhof oder am Arbeitsplatz, die zumindest bei Big Brother I nicht aufhören wollte. Für die Forscher ein spannender Punkt, denn so konnte das Interesse an der Sendung herausgearbeitet werden.

Gesprächsthemen:
Nominierung 72,1 Prozent
Wer gewinnt? 65,8 Prozent
Wer ist sympathisch/unsympathisch? 64,8 Prozent
Medienberichte über BB 51,0 Prozent
Wer ist unmöglich 47,0 Prozent
Charakter 45,7 Prozent
Erfolg/Misserfolg von Ex-Bewohnern 41,1 Prozent
Prominente 36,8 Prozent
Konflikte 36,0 Prozent
Wochenaufgabe 34,5 Prozent
Wer hat Sex? 27,0 Prozent
Wer sieht gut aus? 26,1 Prozent
Biografie 19,4 Prozent
Gesangeskünste 18,5 Prozent
Tiere 7,3 Prozent
Wer ist mir ähnlich? 3,6 Prozent

Bei der zweiten, im Dezember abgeschlossenen Staffel, wird sich diese Gesprächsthemengewichtung sicher verschoben haben. Denn die Containerbewohner legten es vielmehr darauf an, sich in den Vordergrund zu rücken und ihre Popularitätswerte zu steigern, um nach der BB-Zeit möglichst schnell eine CD machen zu können und berühmt zu werden.

Die Augsburger Forscher stellten auch fest, dass "der Gesamtumfang der personalen Kommunikation über BB bei Vielsehern etwa dreieinhalb Stunden pro Woche beträgt." Am meisten wurde mit Freunden und Kollegen über Big Brother philosophiert. Innerhalb der Familie und mit dem Lebenspartner tauschte man sich weit weniger aus. Interessanterweise unterhielten sich selbst die als Nichtseher eingestuften Befragten im Schnitt eine Stunde pro Woche mit jemandem über die Sendung.

Vielseher sind eher einsame Menschen

Ein sehr auffälliger Beweggrund die Sendung zu sehen, ist die Einsamkeit der Zuschauer. Besonders bei den Vielsehern muss man von der Möglichkeit ausgehen, dass sie auf diese Weise die Chance suchen, an einer visuellen Gemeinschaft teilzuhaben. Wie in einem Fußballklub kann man als aktiver Big Brother-Seher sofort über die Bewohner kompetent mitreden oder lästern.

Überpräsentiert sind der Studie zufolge die Realschüler, während Hauptschüler und Gymnasiasten eher unterrepräsentiert erscheinen. Die Mehrzahl der Zuschauer ist weiblich. Damit wird ein Trend bestätigt, der sich auch bei anderen Daily-Soaps (Unter uns, Marienhof etc.) abzeichnet. In der Gruppe der 10- bis 17-jährigen Zuschauer finden sich die meisten Fans; je älter sie sind, desto stärker zeigt sich eine kritische oder zumindest distanzierte Haltung.

Highlights der Erinnerung

Interessant scheint auch die Tatsache zu sein, dass sich die Befragten in erster Linie an zwei eher herausragende Highlights der Sendung erinnern konnten. Zum einen war der Gastauftritt von Verona Feldbusch und deren eigens mitgebrachtes Toilettenhäuschen in Erinnerung und zum anderen die Sexszene der Kandidaten Alex und Kerstin.

In dem Zusammenhang gibt die Studie auch eine neue Deutung von BB: die Mischung aus Biologie und Banalität. Ähnlich wird es sich bei der zweiten Staffel verhalten. Vom Fernsehsender wird daraufhin abgezielt, versprechen doch derartige Aktionen eine gute Quote. Die dritte, gerade angelaufene Produktion stellt mit einer Sauna auch wieder mehr nackte Haut in Aussicht.

Öffentliche Wahrnehmung

RTL hat seine beiden Fernsehsender zumindest in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Big Brother war für Monate Gesprächsthema Nummer eins auf Schulhöfen, in der Kneipe und am Arbeitsplatz. Kaum eine Sendung wie die erste Staffel wurde so kontrovers diskutiert. Je nach Standpunkt wurde die Sendung unterschiedlich wahrgenommen.

Aber den Kandidaten erging es nach ihrem Auszug aus dem Container auch nicht besser. Zlatko zum Beispiel wusste nicht, dass er nur allein wegen seiner Wissenslücken zur Kultfigur geworden ist. Kult für die einen und Symbol der Bildungsmisere für die anderen. Endemol bewies aber, dass selbst so ein Typ die Karriereleiter erklimmen kann: Man machte ihn kurzerhand zum Millionär.

Genutzt hat es RTL nur im Bereich des Bekanntheitsgrades. Zwar lässt sich feststellen, dass diese Sendung RTL2 mehr Zuschauer gebracht hat, doch eine exorbitante Verschiebung auf dem Fernsehmarkt hat nicht stattgefunden. Insgesamt sollen sich alle privaten und öffentlich-rechtlichen Sender mit ihren Positionen von 1999 auch 2000 behauptet haben. Aktuelle Zahlen der GfK-Erfassung belegen die Aussage des Direktors der Saarländischen Landesmedienanstalt. Nach seiner Ansicht wird man mit weiteren "Tabubrüchen und Effekthascherei" rechnen müssen.

Wahrgenommen wurde von der Öffentlichkeit auch Vokabeln wie "Menschenexperiment" und "Knast-TV", doch die Kommunikationsdynamik war weder zu stoppen noch zu verlangsamen. Selbst Befürworter eines Sendeverbotes konnten sich nur kurzfristig auf die Titelseite der Bild platzieren.

Zusammenfassung der Forscher

1. Synergieeffekt zwischen BB-TV-Intensivnutzung und Internet-Gebrauch.
2. Verschränkung von Primärkommunikation und Medienkommunikation bei BB.
3. Kognitive und emotionale Stimulation (Neugier und Erlebniswert) sind zentrale Motive der BB-Rezeption.
4. Para-soziale und soziale Sehmotive sind ebenfalls hochausgeprägt.
5. Unter den psychosozialen Dispositionen dominieren Enthemmungsstreben und Einsamkeit als Hintergrundbestimmung der BB-Rezeption.
6. Die BB-Seher schreiben dem Format eine weitaus höhere Wirkung auf andere zu als auf sich selbst.
7. Der Realitätscharakter von BB wird wahrgenommen als Durchbrechen des inszenatorischen Trends.

In einer ersten Zusammenfassung spricht Grimm davon, dass das "hervorstechendste Resultat der Untersuchung darin besteht, dass die Big-Brother-Seher sehr wohl in der Lage sind, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden und dabei innerhalb eines hochprozentig inszenierten Terrains die für sie passenden ŽWirklichkeitssplitterŽ zu selektieren. [...] Aus der fraktalen Widerständigkeit inszenierungsresistenter Elemente, die sich gegen Manipulationsbestrebungen jedweder Art durchsetzten, haben die Zuschauer von BB einen besonders reizsteigernden Realitätseindruck gewonnen."

Für den Wissenschaftler deutet vieles darauf hin, "dass mit der Zunahme der elektronischen Medienangebote Einhakpunkte für ein adäquates Realitätsverständnis knapp geworden sind. Mediale Informationen büßen im Zeitalter der elektronischen Beliebigkeit einen Großteil ihrer Orientierungsfunktion ein. Die Mediennutzer reagieren auf den Verlust an kognitiver Eindeutigkeit damit, dass sie im Treibsand der flüchtigen Medienangebote nach den Resten der verloren gegangenen Objektivität suchen."

Privatatmosphäre vor Berühmtheit

Man muss auch nicht befürchten, dass die Welt nun von Selbstdarstellern à la BB-Stars überflutet wird, denn die Mehrzahl einer anderen Studie sagt aus, dass sie ein "normales Leben mit geschützter Privatsphäre" einem Starrummel vorziehen würde. Wenn überhaupt, dann sind es Männer, die eher zu einer derartig extrovertierten Haltung neigen. Und da schließt sich auch wieder der Kreis, denn bislang sind nur Männer BB-Stars geworden. Das Forschungsprojekt der Universität Augsburg wird mit einer Zweitbefragung und Gruppendiskussionen fortgesetzt.