Die allumfassende Computerisierung und Vernetzung der Lebenswelt

Schweizer Wissenschaftler legen eine Technikfolge-Abschätzung für "Pervasive Computing" vor und fordern das politische Handeln nach dem Vorsorgeprinzip

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Obgleich wir uns im Zeitalter der Wissensgesellschaft befinden und das Leben in digitalen Informationsumwelten immer bedeutsamer wird, schauen wir in aller Regel, wenn es um die Risiken geht, noch eher auf die Inhalte, die womöglich zensiert werden. Während Risiken für den Körper genauestens untersucht und Grenzwerte festgelegt werden, scheint man immer noch dem altehrwürdigen Dualismus zu folgen und den "Geist" des Einzelnen oder ganzer Gesellschaften schutzlos den Informationswelten auszusetzen. Da wir aber in eine Welt eintauchen werden, in der digitale Informationen und intelligente Dinge von Kugelschreibern über Kleidung bis hin zu Häusern oder Fahrzeugen uns permanent und überall umgeben werden, ist es höchste Zeit, so fordern Schweizer Wissenschaftler vom Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung (TA-SWISS) in der Studie "Das Vorsorgeprinzip in der Informationsgesellschaft. Auswirkungen des Pervasive Computing auf Gesundheit und Umwelt", dass ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs darüber beginnt, in welcher Weise wir die Computerisierung unserer Lebenswelt gestalten wollen und wie weit der "Intelligenschub" der Alltagsgegenstände gehen soll.

Die technische Entwicklung setzt sich durch wie ein Schicksal, dem man nicht entgehen kann. Bedenken können angemeldet werden, wenn es um gesundheitliche Risiken geht, also beispielsweise um die Strahlung, die von Bildschirmen, Handys oder WLANs ausgeht. Nur in einem Fall haben mittlerweile viele Staaten die Benutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien begonnen zu regeln, indem das Telefonieren beim Autofahren nur noch mit einer Freisprecheinrichtung erlaubt ist. Obwohl bekannt ist, dass Telefonieren überhaupt das Risiko erhöht, lässt sich kaum ein striktes Telefonierverbot beim Fahren durchsetzen. Gleichwohl ist damit wohl erstmals im Bereich des "privaten" Fahrzeugs auf öffentlichen Straßen über die Regulierung von bestimmten Inhalten hinaus der Einfluss von Informations- und Kommunikationstechnologien auf die Kognition, in diesem Fall: auf die Aufmerksamkeit, zum Thema geworden.

Da Ablenkung der Aufmerksamkeit beim Autofahren durch die Invasion weiterer Informations- und Kommunikationsmittel in Form von Unfällen, deren Opfer zufällig jeder werden kann, jedermann einsichtige und drastische Folgen hat, dürfte das Auto weiterhin der Ort sein, an dem die Auseinandersetzungen über die Regulierung der die Menschen einbindenden Informationsströme stattfinden. Doch die fortschreitende Miniaturisierung der Mikroelektronik, eine konstante Energieversorgung sowie der Ausbau der drahtlosen Funknetzwerke werden große Bereiche der Umwelt in eine Informationsumgebung verwandeln. Sensoren überwachen die Umwelt und die Menschen, auch viele Bereiche der leblosen Umwelt werden intelligent und können auf die Menschen reagieren oder autonome Netzwerke bilden, die selbständig nach bestimmten Regeln agieren.

In zehn Jahren könnte für eine Milliarde Menschen eine Billion elektronisch aufgerüsteter, vernetzter Gegenstände zur Verfügung stehen - zumindest, wenn die Erwartungen des Computerherstellers IBM sich erfüllen.

Meist würden neue Technologien eingeführt, um Prozesse zu beschleunigen und damit (Arbeits)Zeit zu sparen und/oder Stress zu vermeiden. Das aber sei oft nicht der Fall, weil die Rückwirkung der eingeführten Technologien in aller Regel die beabsichtigten Einsparungen wieder aufheben. So hätten beispielsweise die schnelleren Transportmittel nicht die durchschnittliche Zeit des Fahrens vermindert, sondern nur die Fahrdistanzen vergrößert. Oder Emails seien zwar schneller zu schreiben, aber die Menschen würden mittlerweile mehr Zeit mit ihnen verbringen als früher mit traditionellen Briefen. Ganz allgemein gehen die Autoren davon aus, dass die Arbeitsbelastung, aber auch die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit im Privatleben durch das Pervasive Computing weiter zunehmen werden.

Das Fahrzeug als ein "unabhängiges System mit einer stabilen Energieversorgung" wird nach Ansicht der Autoren eine "Testplattform" für das "Pervasive Computing" darstellen. Daneben aber werden auch die Häuser und Wohnungen, wenn auch langsamer, "intelligent". Am schnellsten würden "smart labels" auf Waren zum Bestandteil der computerisierten Umwelt werden. Über Transponder lassen sie sich berührungslos und ohne Sichtkontakt ablesen. Das könnte zu weiteren Personaleinsparungen beispielsweise in Form von Kaufhäusern ohne Kassen (aber mit Sicherheitspersonal) führen: "Der Kunde passiert im Kaufhaus der Zukunft eine Schranke, die mit einem Lesegerät ausgestattet ist. Dieses erkennt anhand der smarten Etiketten, welche Artikel den Regalen entnommen wurden. Die Ware braucht dazu nicht einmal mehr aus der Tasche gepackt zu werden, denn für Smart Labels ist Sichtkontakt nicht erforderlich. Über die Bankkarte wird der Kaufbetrag direkt vom Konto abgebucht." Natürlich können solche "smart labels" sehr unterschiedliche Informationen enthalten und nicht nur an Gegenständen, sondern auch an Menschen angebracht werden, um beispielsweise Zugangskontrollen zu erleichtern.

Große Vorteile gäbe es zwar für die Gesundheitsversorgung, besonders für chronisch Kranke, die nicht mehr so abhängig von Krankenhäusern sein würden. In die Kleidung eingebaut könnten zahlreiche Sensoren werden, die den Blutdruck, den Blutzuckerspiegel oder auch die Atemgeräusche erfassen und bei Problemen den Arzt oder den Notfalldienst automatisch benachrichtigen. Noch nicht sicher aber sei beispielsweise, wie gut verträglich Implantate sind und wie schädlich die von ihnen ausgehende Strahlung sein kann. Ganz allgemein machen die Wissenschaftler aber auf die noch immer nicht abschließend geklärte Frage aufmerksam, ob die Funkstrahlung für die Menschen risikolos ist. Schließlich könnten, je näher die Dinge dem Menschen durch "wearable comptung" oder Implantate auf oder in den Leib rücken. auch sehr geringe Strahlungsintensitäten bedenklich sein. Auf jeden Fall aber dürfte die Aussetzung an Strahlung weiter zunehmen - auch bei denjenigen, die persönlich "Pervasive Computung" nicht benutzen, aber trotzdem wie Passivraucher der Belastung ausgesetzt sind.

Unklar ist, welche Folgen die Funktechnik für den menschlichen Organismus nach sich ziehen könnte. Und nahezu völlig unbekannt sind die Auswirkungen von Pervasive Computing, das eine neue Form von 'Wellensalat' in die Wohnzimmer und Fahrzeuge bringen wird. Auch werden wir mehr und mehr Sender direkt am Körper tragen.

Auch bei der Entsorgung des mit dem Einzug von "Pervasive Computing" anwachsenden Mülls kleinster elektronischer Teile, die ebenfalls einem schnellen Veralterungsprozess unterliegen werden, aber giftige Bestandteile enthalten, könnte es weitere Probleme geben. Natürlich könnten Kosten in Form von Gebühren bereits vor dem Verkauf zusammen mit "smart lables", die genau über die Zusammensetzung informieren, aber selbst wieder Elektronik enthalten, zur Verbesserung der Recycling-Prozesse beitragen.

Zweischneidig sei auch die Energiebilanz. Werden immer mehr Gegenstände "intelligent" und vernetzt, so lasse sich dadurch der Energieverbrauch des einzelnen Gegenstands zwar senken, insgesamt würde aber der Energiekonsum steigen. Allerdings könnten viele Geräte auch noch energieeffizienter und dann (zumindest teilweise) auch mit Solarenergie betrieben werden. Aber auch die Vernetzung verbraucht Energie:

Nicht zu unterschätzen ist jedoch der Energiebedarf der Netzwerk-Infrastruktur - des Rückgrats der elektronischen Vernetzung. Dazu gehört auch das Internet, das weiterhin den weiträumigen Datentransport abwickeln wird. Server und andere für Netzwerke dauerbetriebene Geräte sind wahre Stromfresser. Allerdings verfügen sie über Sparpotenziale, sofern es gelingt, elektronische Schaltungen mit geringerer Verlustleistung zu entwickeln. Je nachdem, wie stark die Ausbreitung des Pervasive Computings forciert wird, rechnen Fachleute damit, dass bis zu 10% des gesamten Stromverbrauchs dereinst auf die Alimentation von Servern und sonstigen Elementen der Netzwerk-Infrastruktur entfallen könnten.

Daneben entstehen mit dem "Pervasive Computing" neue Möglichkeiten der Überwachung und der Kriminalität, aber auch Fragen, wer für die Folgen einer immer komplexer werdenden Technosphäre, in der viele Systeme interagieren, noch verantwortlich gemacht werden kann. Die Autoren des Berichts sind der Meinung, dass in diesem Bereich heute noch Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, weil zwar die Infrastruktur und viele Anwendungen gerade aufgebaut und entwickelt werden, wir aber beim "Pervasive Comptung" noch am Anfang stünden. Ganz entscheidend sei, hier tatsächlich noch nach dem "Vorsorgeprinzip" zu handeln, also jetzt die absehbaren Risiken zu minimieren und nicht erst dann in Aktion zu treten, wenn Gefährdungen bereits eingetreten sind. Und schließlich fordern die Autoren nicht nur die Mitwirkung der breiten Bevölkerung beim Umbau der Lebenswelt, sondern auch noch technische Reservate:

Schließlich wäre dafür zu sorgen, dass sich die Menschen der totalen Vernetzung nach Bedarf entziehen können. Zumindest sensible Areale - etwa rund um Spitäler, Kindergärten oder Kultureinrichtungen - könnten als Zonen mit eingeschränktem Elektronikgebrauch ausgewiesen werden, wie dies heute aus Sicherheitsgründen im Flugzeug schon der Fall ist. Solche Zonen würden zugleich darüber aufklären, dass die allgegenwärtige Präsenz von Elektronik keineswegs dem Geschmack eines jeden entspricht, und damit zu einer Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme beim Gebrauch elektronischer Geräte anhalten.

Das aber dürfte ebenso ein schöner Wunsch bleiben wie die Forderung, dass die Verwendung von "smarten Gegenständen" den Menschen nicht aufgezwungen werden dürfe und freiwillig bleiben solle. Und auch dem Vorsorgeprinzip wird man keine großen Chancen gerade hinsichtlich einer Technologie geben können, die einerseits immer besser verschwindet und unsichtbar wird und andererseits einen wichtigen Motor der Wirtschaft darstellt. Schon alleine aus Gründen der Standorterhaltung dürften Politiker in der nächsten Zeit nicht geneigt sein, in der Entwicklung der Informations- oder Wissensgesellschaft das Vorsorgeprinzip walten zu lassen, weil sonst die Angst besteht, dass das Land zurückfallen oder gar von der weiteren Entwicklung abgehängt werden könnte.