Die "besorgten Bürger" von Chemnitz und Köthen
Können diejenigen, die bürgerliche Werte und eine bürgerliche Verfassung ablehnen, als "besorgte Bürger" gelten?
Mitunter heißt es: An den Demonstrationen in Chemnitz und in Köthen beteiligten sich "besorgte Bürger", die mit Rechtsradikalismus nichts gemein hätten. Warum ziehen sich die "besorgten Bürger" aber nicht z. B. in Köthen von der Demonstration nach der Rede von David Köckert zurück? Denn diese Rede vom 9. September in Köthen hat es in sich.
Köckert ruft zu Gewalt gegen Andersdenkende auf, agitiert dafür, politische Amtsträger "zu Hause" "vor ihren Türen" zu attackieren, lehnt das Gewaltmonopol des Staates ab, ergeht sich in Bestrafungsphantasien und schwelgt in Tagträumen eines Marsches von Putschisten nach Berlin. Köckert bezeichnet Personen, die im "Landtag, Kreistag, Gemeinderat" sitzen, als "Marionetten", "Mistmaden" und "Verbrecher".
- "Denen gehört die Tür eingetreten."
- "Das einzige, was diese Scheiß-Piep-Kunden verstehen, ist, wenn man sie zu Hause stellt, wenn man vor ihren Türen auf sie wartet. Wenn sie genau das wiederbekommen, was sie uns zumuten. Und zwar Auge um Auge, Zahn um Zahn."
- "Wenn wir noch einmal die Macht bekommen, dann werden diese Flitzpiepen sich im dunklen Kellerverließ wiederfinden."
- "Und zwar ist es Krieg und das kann man wirklich so sagen. Ein Rassenkrieg gegen das deutsche Volk, was hier passiert, und dagegen müssen wir uns wehren. Wollt Ihr weiterhin die Schafe bleiben, die blöken, oder wollt Ihr zu Wölfen werden und sie zerfetzen?"
Köckert ist Kopf des Pegida-Ablegers "Thügida" und Ex-NPD-Mann. Er hat großflächige Tätowierungen im Gesicht. Sie zeigen unter anderem die "Schwarze Sonne", ein nationalsozialistisches Symbol, das als Erkennungszeichen der rechtsextremen Szene gilt.
Selbstverständlich ist "besorgten Bürgern" abzuverlangen, dass sie das "Problem", auf das sie hinweisen wollen, mit Augenmaß ins Verhältnis setzen zu anderen Problemen. "Besorgten Bürgern" ist zuzumuten, dass sie nicht infantil wegen eines Problems gleich die ganze Verfassung in Frage stellen. Auch "besorgte Bürger" kennen ja die Redewendung, es komme darauf an, nicht wegen des "Schlechten" auch das "Gute" zu verwerfen, also "nicht das Kind mit dem Bade wegzuschütten".
So wird mann und frau ja z. B. unterscheiden: Kampf gegen Kriminalität ja, aber nicht mit jedem Mittel. Wenigstens gibt es bislang Vorbehalte gegenüber manchen Vorschlägen. Kriminalität ließe sich gewiss verringern, wenn alle lückenlos so überwacht würden, dass die Ermittlung von Tätern leicht fällt. Das wäre z. B. durch die flächendeckende Installierung von Überwachungskameras überall möglich - vor jeder Wohnungstür und in jedem Zimmer.
Bei Köckerts Rede kann jede(r) merken: Hier wird ein Todesfall zum Anlass genommen und instrumentalisiert, um in hemmungsloser Sprache einen Aufruf zur Gewalt und zur Abschaffung der liberalen Demokratie vorzubringen. Wer das nicht merkt oder nicht merken will, ist kein "besorgter Bürger". Vielmehr rückt er das Problem, auf das er hinweisen will, so egozentrisch und maßlos in den Mittelpunkt, dass ihm alles andere egal wird oder in Vergessenheit gerät.
Ein solcher "besorgter Bürger" geht dazu über, sich gemein zu machen mit Leuten, deren primäres Anliegen die Abschaffung der liberalen Demokratie ist. Die Tugenden dieser Ordnung sind "Toleranz und Respekt für die Rechte anderer, Selbstdisziplin, Reflektiertheit, Selbstkritik, Mäßigung, und ein angemessener Grad von Engagement in den staatsbürgerlichen Aktivitäten".1 Das schließt ein "die Verpflichtung zur öffentlichen Rechtfertigung: Die Anwendung von Macht sollte begleitet sein von Gründen, die alle vernünftigen Menschen akzeptieren können".2
Lust, auf die Minimalstandards von Vernunft zu pfeifen
Selbstdistanz und Mäßigung - daraus folgt beispielsweise, zur eigenen Erregung über den Tod eines Menschen oder zur "Sorge" vor "der Migration" ein solches Verhältnis zu gewinnen, dass man sich nicht von den eigenen Affekten fortreißen lässt. Der besorgte Bürger ist ja kein Kleinkind, das seine unmittelbaren Affekte ist, sondern sie hat, also mit seiner Urteilskraft zu ihnen Stellung nimmt. Wer die liberale, also bürgerliche Verfassung in Frage stellt, kann sich nicht zugleich als "besorgter Bürger" darstellen. Das ist entweder Heuchelei oder, zurückhaltend gesagt, ein Selbstmissverständnis. "Besorgte Bürger" befürchten von Migranten eine gravierende nachteilige Veränderung des Landes. Wenn aber gegenwärtig im Kampf gegen die Migranten die für die westliche politische Kultur der Gegenwart prägende liberale Verfassung und die mit ihr verbundenen Tugenden frontal angegriffen werden, dann bereitet das "besorgten Bürgern" keine Sorgen.
Die Benennung einer Ursache für alle Probleme, einfache Lösungen und Vorstellungen von deren gewaltsamer Durchsetzung ("kurzer Prozess") machen dem Kopf weniger Mühe als ruhiges Nachdenken und umsichtige Analyse der komplexen Realität. Der Bericht von Dr. Harald Lamprecht, eines Pfarrers aus Sachsen, von seinen Erlebnissen in einem Zugabteil nach einer Kundgebung in Chemnitz () schildert die Mentalität vieler Anhänger von AfD und Pegida.
Ihnen macht es Freude, auf die Minimalstandards von Vernunft zu pfeifen. Sie malen sich die Welt, wie sie ihnen missfällt. Sie genießen die Freiheit, alles mit allem in Verbindung zu bringen und jenseits von Tatsachen und Wissen der Verwirrung und Konfusion zu frönen. Die hässlichen Anteile des "Es" stehen auf gegen das "Ich" und das "Überich" und meinen: Endlich dürfen wir uns mal los und ledig von dieser lästigen Zensur frei ausleben und Raum gewinnen. Endlich Schleusen auf für dirty talk. Der Bericht schildert plastisch die Assoziationsketten und die Neigungen, die eigenen Gewalt- und Sexfantasien auszuleben. Ein Beispiel: Claudia Roth solle nur mit Unterwäsche bekleidet ins Asylbewerberheim geschickt werden. Irgendein "Notgeiler" werde sich dann schon an ihr vergehen.
Viele Anhänger von Pegida und AfD imitieren und radikalisieren, was ein Dieter Bohlen in der Unterhaltungsbranche und ein Donald Trump in der Politik vorführen: Selbsterhöhung durch hämische und höhnische Abwertung anderer mit menschenverachtenden Sprüchen sowie Entfesselung der niederen Instinkte. Endlich keine Selbsteinschränkung mehr durch Vorbehalte gegen die Freude am eigenen wirren Phantasieren und Projizieren!
Ein Buch von Rebecca Niazi-Shahabi gegen die Selbstoptimierungsmanie und den Perfektionierungswahn trägt den Titel: "Ich bleib so Scheiße, wie ich bin. Lockerlassen und mehr haben vom Leben." Diese Parole drückt beides aus: die Akzeptanz einer Fremd- und Selbstbewertung und zugleich deren Umdeutung. Der Slogan bringt auf diese Weise - anders als von der Verfasserin beabsichtigt - einen zentralen Anteil des impliziten Lebensmottos von Pegida- und AfD-Anhängern treffend auf den Punkt.
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