Die dritte "Inkarnation Gottes" in Rom
Das Drama der Papstkirche nach Aufklärung und Revolution. Ein Blick in die Geschichte. Teil 1
Mit mehr als einer Milliarde Mitgliedern ist der Romkatholizismus ein wichtiger "global player". Nach einer bemerkenswerten Öffnung zur "Welt von heute" im Reformkonzil von 1962-1965 ist die Papstkirche inzwischen wieder in den Monolog verfallen. Speziell der Pontifex aus Deutschland hat den Narzissmus der "Alleinseligmachenden" erneut auf die Spitze getrieben. Der Vorgang ist nur im historischen Rückblick verstehbar: Nach Aufklärung und Französischer Revolution sieht sich die römisch-katholische Kirche tödlich bedroht. Sie reagiert auf eine Weise, die ihr einen Dialog mit der Neuzeit systematisch verbaut. An die Stelle der Beratung eines Konzils, das den Erdkreis repräsentiert, tritt die "unfehlbare" Definitionsmacht des Papstes. Die kollegiale Leitung der Kirche durch eine weltweite Gemeinschaft von Ortbischöfen wird aufgegeben zugunsten der zentralistischen Befehlsgewalt eines Einzelnen. Die neuen Papstdogmen des I. Vatikanischen Konzils (1869/70) und die offizielle Theologie der Folgezeit haben mit der Moderne mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick scheint. Aus tiefster Verunsicherung heraus hat sich die Römische Kirche 1870 noch einmal neu erfunden und die Angst vor der Freiheit zementiert.
Die Papstdogmen aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind ein epochaler Machtentscheid im Ringen um die Kirchenstruktur. Sie sind daneben aber auch eine höchstpersönliche Angelegenheit von Papst Pius IX. Dieser sorgt als oberster Drahtzieher und Beschleuniger dafür, dass es zu einem Dialog mit der großen Zahl anders denkender Bischöfe erst gar nicht kommen kann. Das bedeutsame konziliare Prinzip der Einmütigkeit wird ersetzt durch rücksichtslose Majorisierung. Ein Teil der Stimmberechtigten auf dem I. Vatikanum ist wirtschaftlich vom Papst abhängig. Vor, während und nach Verkündigung der Papstdogmen waltet eine beispiellose Einschüchterung. Seelischer und mitunter auch physischer Druck wird ausgeübt. Alle wichtigen Konzilsgremien sind gleichgeschaltet. Das mit großem Aufwand gemalte Bild eines freien Konzils bricht zusammen, sobald an entscheidender Stelle ein ernstzunehmender Widerspruch zu den Primatsdefinitionen (Papstdogmen) angemeldet wird.
Man beruft sich denkbar unqualifiziert auf "Zeugnisse der Tradition" - darunter schon damals erwiesene Fälschungen - und ignoriert vorsätzlich ein umfangreiches Schrifttum, das den Forschungsstand auch der katholischen Historiker vermittelt. Heuchelei, Lüge und pures Strategentum reichen bis in die oberste Etage. Speziell über Papst Pius IX. soll der Kurienkardinal Gustav von Hohenlohe bei seiner Ablehnung der Unfehlbarkeit ein hartes Urteil gefällt haben: "Ich brauche kein anderes Argument für mich als das einzige, dass mir in meinem ganzen Leben kein Mensch vorgekommen ist, der es mit der Wahrheit weniger genau nahm als gerade Pius IX."
Wer sich den unschuldigen Glauben bewahren möchte, der Heilige Geist habe bei der Ausarbeitung von Dogmen eine breite Landebahn, der meide an dieser Stelle (und bezogen auch auf andere Konzilien) die seriöse Geschichtsforschung. Die ansonsten so gern verabscheute "Politisierung des Glaubens" erreichte auf dem I. Vatikanum ihre Höchstform.
Die Kirche als Kriegsschiff?
Geben die Bibelstellen über Petrus überhaupt etwas her zum Amt des Papstes, wie es die Römische Kirche des zweiten Jahrtausends - am radikalsten das I. Vatikanum - festgeschrieben hat? Der kirchentreue Jesuit Klaus Schatz schreibt:
Die … Frage, ob über Simon-Petrus hinaus an ein bleibendes Amt gedacht ist, dürfte, rein historisch gestellt, negativ zu beantworten sein, also in der Fragestellung: Dachte der historische Jesus bei der Beauftragung des Petrus an Nachfolger? War sich der Verfasser des Matthäus-Evangeliums … bewusst, dass Petrus und sein Auftrag jetzt in den auf ihn folgenden römischen Gemeindeleitern fortlebt? […] Wenn wir weiter fragen, ob sich die Urkirche nach dem Tod des Petrus bewusst war, dass seine Vollmacht auf den jetzigen Bischof von Rom übergegangen ist, dass also der Gemeindeleiter von Rom jetzt Nachfolger Petri, Fels der Kirche und damit Träger der Verheißung nach Mt 16,18ff ist, dann muss diese Frage, so gestellt, sicher verneint werden. […] Hätte man einen Christen um 100, 200 oder auch 300 gefragt, ob der Bischof von Rom Oberhaupt aller Christen ist, ob es einen obersten Bischof gibt, der über den anderen Bischöfen steht und in Fragen, die die ganze Kirche berühren, das letzte Wort hat, dann hätte er sicher mit Nein geantwortet.
So kritisch konnten die meisten Konzilsväter 1869/70 die Befunde natürlich noch nicht sichten. Sie verstanden die neutestamentlichen Zitate als verbürgte Worte aus Jesu eigenem Mund und bezogen sie ohne großes Federlesen direkt auf das Papstamt. Doch man hätte die Bibel schon etwas mehr beim Wort nehmen können. Im Lukasevangelium 22,32 steht "Stärke deine Brüder!", nicht: "Definiere unfehlbare Dogmen!" Schon damals erkannte der Kapuzinererzbischof und päpstliche Hofprediger Luigi Puecher-Passavalli, ein Gegner von römischem Despotismus und Unfehlbarkeitsdefinition, dass es einen Unterschied ausmacht, ob man "Lämmer weidet" (Johannesevangelium 21,15-17) oder "Christi Schafstall in eine Sklavenherde" umwandelt.
Die Ungleichzeitigkeit der geistigen Horizonte von Bischöfen war 1870 unglaublich (und ist es ja auch heute noch). Nicht ernsthaft bedacht wurde z.B. die einschneidende Debatte zur Zukunft der Kirche im Umfeld des sogenannten "Ersten Apostelkonzils", in deren Verlauf Paulus "dem Petrus ins Angesicht widerstanden" hat wegen dessen feiger Heuchelei (Galalterbrief 2,11-14) und sich als durchaus gleichberechtigter Amtsträger mit anderem Wirkungsbereich vorstellt (Galater 2,8). Entsprechend kam es - so einmalig in der Kirchengeschichte - während des I. Vatikanums zur inflationären Demütigung von Apostelnachfolgern, die mit dem Papst nicht einer Meinung waren.
Die Kernfrage von 1869/70 lautete: Was soll man machen, wenn die Feinde schon ganz nah vor den Mauern der Papstfestung stehen, wenn ringsum "Autorität" für "Autorität" vom Thron stürzt, wenn die Gelehrten selbst die heiligsten Schriften für Ammenmärchen halten und sich lustig machen und wenn die Brandungen der Geschichtswissenschaft eine felsenfeste Gewissheit nach der anderen aushöhlen? Soll da ein Papst wirklich aussteigen aus dem Boot und sich hinaus aufs weite Meer begeben, wie es Petrus einst gewagt hatte (Matthäus-Evangelium 14,28-31)? Oder muss der Nachfolger Petri die Kirche nicht vielmehr eilends zum Kriegsschiff hochrüsten?
Verzerrte Volkssouveränität: Die ultramontane Mobilisierung der Massen
Das Schreckensbild von der bedrohlichen Neuzeit, je nach Interessenlage besonders düster gemalt, zeigt aber nur die eine Seite der Medaille. In Wirklichkeit nämlich ist Rom die große Gewinnerin der revolutionären Umwälzungen in Europa. Jenes bischöfliche Selbstbewusstsein, das bislang die Durchsetzung der absolutistischen Papstidee verhindert hatte, liegt am Boden. Rom macht da, wo es eigenen Machtzuwachs einbringt, gemeinsame Sache mit den säkularen Staatsmächten (Musterfall: französisches Konkordat von 1801). Die in der Folgezeit in ihrer Selbstständigkeit weiter geschwächten Regionalkirchen suchen ihrerseits angesichts staatlicher Zudringlichkeiten Hilfe in Rom (nicht selten wurzeln die vorausgehenden Konflikte mit dem Staat in vatikanischen Instruktionen etc.). Am Ende steht unangefochten der römische Kirchenzentralismus, wie wir ihn heute noch kennen.
Die viel beschworenen Ungeheuer des Zeitalters leisten gleichzeitig gute Dienste, um die Papstideologie auch geistig durchsetzen zu können. Die Grundstimmung ist nicht mehr Optimismus, sondern Verunsicherung. Schon Novalis lobte 1799 rückblickend das "weise Oberhaupt der Kirche", da es (gegen Galilei) den "kühnen Denkern" wehrte, die Erde als einen "unbedeutenden Wandelstern" und als "tote Gesetzeswirkung" zu betrachten. Vor allem restaurativ-reaktionäre Zeitströmungen erblicken im Papst den einzigen Rettungsanker wider die Auflösung aller Ordnungen und Gewissheiten. Extravagante Geister und auffällig viele Konvertiten sind die Vordenker. Rom wird dies schon unter Papst Gregor XVI. (1831-1846), einem theologischen Vorreiter der Unfehlbarkeitslehre, aufgreifen. Es winkt eine treue Massenbasis für die Papstdevotion.
Vorraussetzung für die Mobilisierung von oben sind freilich Bewegungen von unten. Als das feste Gefüge von Staat, Gesellschaft und Kirche zerfällt, muss der Katholizismus, will er nicht sterben, zwangsläufig und viel profilierter eine "Sache" der Menschen selber werden. Wo ihm das im 19. Jahrhundert gelingt, geht er gestärkt aus der Säkularisierung hervor. Die noch von der katholischen Aufklärung geprägten Kirchenmänner sind keineswegs durchweg Verfechter einer kühlen Vernunftreligion oder Verächter von Volksfrömmigkeit. Es gibt in ihrem Wirkkreis frühe Ansätze von Leuteseelsorge und neue Wege für die "Karitas". Ein Bewusstsein von Rückständigkeiten und Bildungsdefiziten in katholischen Landschaften ist zumindest teilweise ausgeprägt. Nach Wegfall der Adelsherrschaft kommen auch Vertreter der unteren Klassen in Ämter der Kirchenleitung und sorgen für mehr Sozialkompetenz (was man später Sozialkatholizismus nennen wird, ist keine Erfindung von Rom, sondern hat sich von unten her entwickelt). Schließlich ist jene ultramontane, nach Rom blickende Bewegung, die das Papsttum als Bollwerk gegen "zuviel Freiheit" und "Relativismus" betrachtet, nicht der ganze Ultramontanismus. Es gibt ja, zuerst in Frankreich, auch jene liberale Strömung, die im Papsttum eine moralische Instanz im Dienste der Völker erblickt, die der staatlichen Über-Macht und Willkür Grenzen setzen könnte. In Deutschland entsteht ab 1848 mit unglaublicher Dynamik eine "Laienbewegung" (in welcher es freilich neben den eigenständig denkenden Katholiken immer wieder auch Gruppen geben wird, die päpstlicher noch als der Papst sind). Fast alle, die sich in den 1860er Jahren den Exzessen der Papstideologie und dem wahnhaften Kampf gegen Freiheit und Moderne widersetzen werden, haben zunächst eine "ultramontane", d.h. romtreue Biographie.
Der Papst als Anwalt und Hüter der Freiheit? Nichts ist fast allen Päpsten seit der Französischen Revolution so sehr zuwider wie die Vorstellung, dass alle Gewalt in einem Gemeinwesen vom Volke ausgehen soll. Man will vielmehr die Zeiten wiederherstellen, in denen Könige durch göttliche und päpstliche Gnade alle regieren. "Volk" und "Freiheitsrechte" sind nur interessant, wo sie zur Stärkung Roms und zur Sicherung kirchlicher Macht instrumentalisiert werden können. Der politische Katholizismus muss in seiner Geschichte an diesem Widerspruch oft genug zerbrechen.
Die ultramontane Bewegung hat zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits erheblichen Rückhalt bei den Unterschichten und der einfachen Landbevölkerung. Deren wirtschaftliche Interessen sind nicht deckungsgleich mit denen des Besitz- und Bildungsbürgertums. Die ultramontane Absage an den - vornehmlich ja ökonomisch motivierten - Liberalismus erscheint also auch sozial plausibel (nicht selten werden allerdings im Rückblick die ständischen Feudalverhältnisse idealisiert). Als der Papst schließlich über kein eigenes Militär mehr verfügt, hat er längst ungezählte Fußtruppen unter den kleinen Leuten (zumal dort, wo eine kirchliche Kontrolle des Schulwesens erhalten oder neu errungen werden konnte). Was wussten etwa noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts die Bewohner eines geistlich regierten Territoriums wie dem Herzogtum Westfalen, mehrheitlich Kleinbauern, schon großartig vom jeweiligen Papst, außer dass es ihn gab? Gut hundert Jahre später aber wird in dieser Region jedermann Giuseppe Garibaldi hassen, weil der dem Papst den Kirchenstaat streitig macht. Will man jemanden grob beschimpfen, so sagt man noch auf Jahrzehnte hin: "Du alter Garibaldi!"
Ohne die modernen Mittel der Massenbeeinflussung hätte der - zum Teil denkbar aggressiv gesteuerte - Ultramontanismus natürlich nicht so schlagkräftig werden können (gegen Massen hat man nichts einzuwenden; man muss sie nur von den gefährlichen Ideen "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" fernhalten). Die wichtigste Waffe zur Durchsetzung von Romanisierung und Machtzentralismus ist das Plebiszit. Unter dieser Voraussetzung verkommt die Lehre vom "Glaubenssinn aller Getauften" zur kirchenpolitischen Aktion. Man weiß sehr wohl um die psychologischen Wirkungen einer forcierten Marienverehrung.
Volksmissionen bewirken, dass die Einzelnen ob ihrer "natürlichen Sittenpraxis" große Angst bekommen und immer tiefer in die Abhängigkeit des Beichtstuhls geraten. Ein System der Gratifikationen sorgt dafür, dass jeder Einsatz für Papst und Kirche mit heiligem Dank erwidert wird. Peterspfennig, Gebets-, Adress- und Unterschriftskampagnen, Komitees, Pressebüros, eigene Druckmedien, industriell hergestellte Frömmigkeitsprodukte, Vatikan-Choreographie, triumphale Musikkompositionen und neue Verkehrsmöglichkeiten für Pilgermassen leisten gute Dienste. Man erreicht in katholischen Gegenden alle Multiplikatoren und jeden Haushalt (was den Gegnern der neuen Papstdogmen nicht gelingt).
In der Unfehlbarkeitsdebatte greift Papst Pius IX. für die Jesuitenzeitung "La Civiltà Cattolica", deren Redaktion mit ihm alle wichtigen Artikel und Marschrouten abspricht, auch selbst zur Feder. Diesem Presseorgan und anderen ultramontanen Blättern gelingt es sogar, einfache Leutepriester gegen ihre "zu gebildeten" Bischöfe aufzuhetzen. Pius IX. heizt mit ein, indem er eigenständig denkende Amtsbrüder ohne Tabus beleidigt (heute nennt man vergleichbare Erscheinungen "Populismus"). Unter diesem Pontifex., der sich gerne als Opfer einer bösen Zeit betrachtete, hatte das Papsttum längst eine nie da gewesene Anziehungskraft erlangt. Aber manchmal, so weiß schon das "Märchen vom Fischer und seiner Frau", reicht es einem Menschen nicht, nur die Papstkrone zu tragen.
Neuzeitlicher Kult des Individuums: Papolatrie
Der schon genannte Kapuzinererzbischof Luigi Puecher-Passavalli sah dann in der "fetischhaften Anbetung der kirchlichen Hierarchie" den "hauptsächlichen Irrtum der Katholiken" (B. Hasler). Wir könnten hier an einen Rückfall in hierokratische Liturgien des Mittelalters denken oder einen schon nicht mehr zeitgemäßen Absolutismus am Werke sehen. Betrachten wir die Papolatrie (Papstanbetung) jedoch als ganz modernes Phänomen, dann geht es um den Kult des Individuums, um die Wahnvorstellung vom Übermenschen und - bis heute - um das Idol der Massen. Die Zeugnisse im Umfeld des I. Vatikanischen Konzils sind erschütternd.
Die exzessiven monarchistischen Titel, welche die Papstverehrer Pius IX. zulegen, sind zum Teil vielleicht noch am harmlosesten: Papst-König, Cäsar, erhabener König, herrlichster Fürst, erhabenster Regent, höchster Herrscher der Welt, König der Könige … Pio Nono gilt manchen gar als Stellvertreter Gottes auf Erden oder im Einzelfall als "Vizegott der Menschheit". An Gott gerichtete Hymnen aus dem Römischen Brevier werden auf ihn bezogen. Auch Wäschestücke des "Erlösers" mit heilender Wunderkraft kommen zum Versand. Der später heilig gesprochenen Don Bosco hat Pius IX. durch seine Privatoffenbarungen bestärkt. Ihm zufolge ist der Papst so etwas wie "Gott auf Erden", von Jesus höher gestellt als Propheten und Engel. Bischof Berteaud von Tulle betrachtet ihn als das "fleischgewordene Wort, das fortlebt". Da nimmt es sich noch bescheiden aus, wenn De la Bouilleri von Carcassonne den Papst lediglich mit dem "nicht vergehenden Stern von Bethlehem" vergleicht. Weihbischof Mermillod von Genf predigt über eine dreifache Inkarnation des Sohnes Gottes: im Schoße der Jungfrau, im Altarsakrament und im "Greis des Vatikans". Entsprechend wird der Papst den Gläubigen in einer Monstranz, dem tragbaren Thron (sedia gestatoria), gezeigt und zwar unter dem sonst eucharistischen Prozessionen vorbehaltenen Baldachin. Religionsgeschichtlich sind wir hier wieder - um Jahrtausende zurück - beim Pharao angelangt.
Der Konzilsvater Martinez von Havanna sieht, das letzte Buch der Bibel kommentierend, den Papst auf dem Thron vor Gott und dem Lamm sitzen. In "La Civiltà Cattolica", dem quasi-offiziellen Vatikanorgan, kann man lesen: "Wenn der Papst meditiert, ist es Gott, der in ihm denkt." Man betrachtet den Bischof von Rom jetzt als exklusives Einfallstor des Übernatürlichen in der ansonsten nur irdischen Welt. Der "Univers", das französische Propagandaorgan für die Unfehlbarkeit, schämt sich in keiner Weise, Anrufungen an den Heiligen Geist oder Gott Vater an ihn zu richten (Pius ist "Vater der Armen", Erleuchtung der Herzen, ja eigentlich wie Gott selbst). Analog zur göttlichen Zeugung des Sohnes durch den Vater zeugt der Papst die anderen Apostelnachfolger (Bischöfe). Die Papolatrie im "Univers" versteigt sich zur Aussage: "Die Unfehlbarkeit des Papstes ist die Unfehlbarkeit Christi selbst." Es gelten für ihn desgleichen die Bibelworte "Wer mir folgt, wird nicht im Finstern wandern, sondern das Licht des Lebens haben" und "Alles hat in ihm Bestand".
Der Papst selbst ist durchaus nicht nur argloses Opfer solcher Blasphemien. Die Macher von "La Civiltà Cattolica" haben schließlich unbegrenzten Zugang zu ihm. Schon 1866, so ist überliefert, hat Pius IX. das Bibelwort "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" auf sich angewandt. Er soll sich laut Berichten von Zeitgenossen auch erfolglos als Heiland betätigt und einem armen Kranken zugerufen haben: "Steh auf!" Wie Jesus wird er später verraten und zwar von der Minorität, d.h. den Gegnern der neuen Papstdogmen. Nach einem Besuch des Bischofs Dupanloup äußert er: "Heute habe ich den Judaskuss empfangen." Den Minoritätsbischöfen lässt er außerdem einen Vergleich mit Pilatus angedeihen (ansonsten hält er diese "Verräter" für Weichlinge, Verrückte, Esel, Sektierer etc.).
Der päpstlich sehr geförderte Dominikaner-Kardinal Filippo Maria Guidi erdreistet sich, eine Brücke zu jenen zu bauen, die Pius IX. als seine "Feinde" [sic!] betrachtet. Er schlägt am 18.6.1870 vor, die Konzilsdefinition solle das Missverständnis einer rein persönlichen und von der Kirche getrennten Unfehlbarkeit des Papstes ausschließen (stattdessen: Bindung an den Rat der Bischöfe und die Tradition). In der Konzilsaula atmen viele auf; es sollen sogar Tränen der Freude geflossen sein. Der Papst aber rastet aus und schleudert Guidi abends die ungeheuerlichen Worte entgegen: "Die Tradition bin ich!" Von da ab wird der nicht linientreue Kardinal überwacht. Der Papst kümmert sich selbst darum, dass die Dinge den gewünschten Lauf nehmen.
Es kann nun nicht mehr verwundern, dass Bischof Karl-Josef Hefele von Rottenburg Papst Pius IX. einen "Verwirrer der Kirche" nennt (drastischer meint der französische Bischof Maret, er sei ein "wahrer Häretiker"). Charles de Montalembert, der berühmte Wortführer des liberalen Katholizismus in Frankreich, klagt kurz vor seinem Lebensende: Die Ultramontanisten schicken sich an, "die Gerechtigkeit und die Wahrheit, die Vernunft und die Geschichte als Brandopfer dem Götzenbild darzubringen, das sie sich im Vatikan errichtet haben." (Der Papst bescheinigt ihm nach dem Tod postwendend, er sei "verdorben" und als Liberaler ja ohnehin kein richtiger Katholik gewesen.) Bischof Joseph Georg Stroßmayer von Diakovar (Kroatien) schreibt am 8.3.1870 in einem Privatbrief: "Die römischen Kaiser wurden durch einen servilen Senat zum Gott erhoben; heute macht sich jemand selbst zum Gott, und wir sollen es unterschreiben." Dieser Bischof will dann im März 1871 seine Knie "vor dem Baal, vor dem verkörperten Hochmuth" noch immer nicht beugen.
Ausstieg aus der Geschichte fehlbarer Menschen
Der Kontrast zur Religion Jesu von Nazareth, dem Judentum, könnte nicht größer sein. So sehr entsprach das Selbstbewusstsein Jesu dem Glauben Israels, dass er einem kniefälligen Verehrer entgegenhielt: "Was nennst du mich gut? Keiner ist gut, nur einer: Gott." (Markusevangelium 10,18) Spätere Probleme der griechischen Theologen, ob er nun etwa allwissend war oder einen ganz natürlichen Verdauungsapparat besaß, hätte Jesus mit Sicherheit schon in der Wurzel als Gotteslästerung betrachtet. Unfehlbare Sätze hat er nicht definiert. Dergleichen werden fast zweitausend Jahre später erst die exklusiven "Stellvertreter Christi" praktizieren.
In England wiesen noch bis mindestens 1854 Katechismen die Behauptung, römische Katholiken glaubten an eine Unfehlbarkeit des Papstes, als protestantische Verleumdung scharf zurück. Auch der spätere Paderborner Bischof Konrad Martin, 1869/70 einer der wenigen deutschen "Infallibilisten" (Unfehlbarkeitsanhänger), kannte eine besondere päpstliche Unfehlbarkeit in seinen Schriften zunächst nicht. Zur Jahrhundertmitte hin geschieht nun etwas Merkwürdiges. Theologen verändern von Auflage zu Auflage ihre Handbücher und nähern sich schrittweise dieser extremen Idee an. 1799 war sie bereits im Rahmen einer defensiven Kirchenlehre von Mauro Capellari vertreten worden. Dieser besteigt 1831 als Gregor XVI. den Papstthron. Sein Nachfolger Pius IX. spielt lange den Ahnungslosen. Doch bereits am 8. September 1854 erklärt er die "Unbefleckte Empfängnis Mariens" zum Dogma. Das ist unbestritten ein formaler Präzedenzfall und ein Testlauf für die zu diesem Zeitpunkt längst anvisierte Neufassung der päpstlichen Lehrvollmacht. Man kann durchaus auch den Inhalt dieser "Definition" über Maria mit der päpstlichen Unfehlbarkeit in Verbindung zu bringen: Die Kirche ist der reine Schoß, aus dem heraus - unbefleckt von den Niederungen und Irrungen der menschlichen Geschichte - das zeitenlose Dogma klar hervorstrahlt. Die Kirche aber soll im Fall des unfehlbaren Dogmas der Papst allein sein - auch ohne die Gemeinschaft aller Bischöfe.
Genau dies ist auf dem I. Vatikanischen Konzil der eigentliche Streitpunkt, denn eine "Unfehlbarkeit der ganzen Kirche" setzen alle Bischöfe voraus. Noch während der Konzilsdebatte kommt 1870 - nicht ohne Zutun des Papstes - ein verschärfendes "ex sese" in die Beschlussvorlage, d.h.: Die "endgültigen Entscheidungen" des Papstes sind "aus sich und nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich". In dieser Form hält der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler die Definition für ein "Verbrechen an der Kirche", von dem er den Papst, zuletzt am 15. Juli 1870 mit Flehen und dreifacher Niederwerfung, abhalten möchte. Der feierlichen Schlussabstimmung bleiben mehr als 100 Konzilsteilnehmer fern. Das Gerücht, dass die zahlreichen Bischöfe der Minorität lediglich den Zeitpunkt des Unfehlbarkeitdogmas für ungünstig betrachtet hätten, wird sich später hartnäckig halten. Es kommt den Betroffenen z.T. auch gelegen, denn so kann ihre Unterwerfung unter die neue Lehre nach außen hin etwas "würdevoller" vonstatten gehen. Bischof Hefele schreibt aber noch am 14.9.1870 an Prof. Döllinger: "Etwas, was an sich nicht wahr ist, für göttlich geoffenbart anerkennen, das thue wer kann, non possum [ich bin dazu außerstande]."
Zu ermitteln wäre noch immer, wie viele Katholiken das Dogma überhaupt "glauben" (obwohl eine Zustimmung der Gesamtkirche ja nicht erforderlich ist). Die römisch-katholische Theologie hat nach dem letzten Konzil mit großer Mehrheit das "ex sese" - also die Unabhängigkeit des "unfehlbaren päpstlichen Lehramtes" von Tradition, Bischofskollegium und Gesamtkirche - durch Interpretation einfach wieder "gestrichen". Nicht dem Papst, so wird betont, sondern seiner Lehrverkündigung gilt die Unfehlbarkeit. Die Zauberformel für einen engen Gegenstandsbereich lautet zudem: "Nur wenn der Papst ex cathedra spricht, handelt es sich um Unfehlbares." Weder die zwischenzeitlich verschärfte Kirchenrechtslage noch der fortdauernde Zwang zur Unwahrhaftigkeit aufgrund vergangener "Unfehlbarkeiten" sind damit aufgelöst, vom sich ausweitenden Strahlkreis der Unfehlbarkeit unter Pius XII. und später Johannes Paul II. ganz zu schweigen.
Spiegel des Rationalismus: Die Auflösung der Glaubenserfahrung im übernatürlichen Lehrsystem
Viele Argumente von Unfehlbarkeitsideologen waren durchaus ganz moderner Art. Angesichts der schnelllebigen Zeit hielt man eine ohne Verzug agierende, schlagkräftige "Wahrheitsinstanz" für erforderlich. Man versprach sich auch eine neue Anziehungskraft gegenüber allen Verunsicherten und Orientierungssuchenden, besonders den Protestanten. Aber war nicht die ganze Geisteshaltung dieser kirchlichen Epoche ein Spiegel dessen, was man bekämpfte? Die auf dem I. Vatikanum - anders als bei den Papstdogmen - einmütig beschlossene - Konstitution "Dei Filius" steht im Zentrum einer Reihe von Lehrurkunden, die als Ganzes vom Siegeszug der thomistischen Neuscholastik, einer Extremform von theologischem Intellektualismus, Zeugnis ablegen. Die Gegner kanzelt man pauschal als "Rationalisten" ab (ohne ihre geschichtlichen, anthropologischen oder psychologischen Fragestellungen überhaupt nachzuvollziehen). Gleichzeitig aber hängt die Konzilsmehrheit selbst an einer ganz dem Kopf zugeordneten Theologie.
Man will das vom Zeitgeist verleugnete "Übernatürliche" wahren. Zu diesem Zweck verteilt man die Angelegenheiten der Theologie mehr oder weniger säuberlich auf ein "natürliches" und ein "übernatürliches" Metier. Wenn von so genannter "natürlicher" Gotteserkenntnis die Rede ist, denkt man im Hintergrund jedoch nicht etwa an "natürliche Lebenserfahrungen von Menschen", sondern vorrangig an Aristoteles. In dessen Gefolge behauptet der als Monopolkirchenlehrer gehandelte Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), man könne mittels der Vernunft aus den irdischen Dingen sicher auf die Existenz einer transzendenten Erstursache, eines ersten unbewegten Bewegers etc. schließen (die meisten Menschen finden dieses logische Induktionsverfahren aber gar nicht so "natürlich" und können an der denkerisch erschlossenen Existenz einer abstrakten "sich selbst verursachenden Erstursache" auch gar nichts Tröstliches finden). Zu diesem ersten Metier gehört übrigens auch noch das "natürliche Sittengesetz", zu dessen verbindlicher Auslegung (z.B. in der Frage der Empfängnisverhütung) die Päpste sich autorisiert sehen.
Die übernatürlichen Dinge sind nun allerdings im Gegensatz dazu "strikte Geheimnisse" und uns auf "natürliche Weise" nicht zugänglich, denn Thomas von Aquin sieht den Himmel als "einen für die menschliche Natur fremden Ort" an. Über das "Übernatürliche" lehrt das I. Vatikanum entsprechend: "Mit göttlichem und katholischen Glauben ist also all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche in feierlichem Entscheid oder durch gewöhnliche und allgemeine Lehrverkündigung als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird." Das ist der springende Punkt: Nur wenn man das "Übernatürliche" im Grunde als ein Lehrsystem oder Depot von übernatürlichen Satz-Wahrheiten missversteht, macht eine päpstliche Satz-Unfehlbarkeit überhaupt Sinn. In der Welt der bösen Rationalisten kommt ein "übernatürlicher Gott" nicht vor. Aber in der Welt der römischen Schultheologen ist Gott - außerhalb kirchenamtlicher Vermittlungen - genauso abwesend. Letztlich läuft alles darauf hinaus, dass die Getauften gehorsam annehmen, was ihnen das unfehlbare Lehramt der Kirche (in exakten Formeln) als zu "glauben" vorlegt. Mit dieser Pflicht hat man 1870 geradewegs die Notwendigkeit des neuen Papstdogmas begründet. Da man von den Gläubigen ja unbedingten "Glaubensgehorsam" einfordere, schulde man ihnen förmlich einen obersten unfehlbaren "Glaubenslehrer" der Kirche (zumal in einer Zeit solcher Umbrüche).
Die ganze Richtung - Unfehlbarkeit und dazu passende Scholastik - verfolgte gerade nicht das, was nach Ansicht des (später alt-katholischen) Philosophen Friedrich Michelis das Grunderfordernis der Zeit gewesen wäre: die Subjektwerdung aller Glieder der Kirche. Und leider, so muss man hinzufügen, verhinderte sie, dass zuallererst auch die Theologen Subjekte unter dem Vorzeichen eines befreienden Glaubens werden konnten. Den Protestanten warf man vor, die heilsnotwendige Zustimmung zu einer Summe von Glaubenssätzen durch "bloßes Vertrauen" zu ersetzen. Die Quelle des Glaubens ist für einen römischen Katholiken nicht im eigenen Herzen zu suchen, sondern im Einheitskatechismus. Schon der Traditionalist Louis Graf de Bonald (1754-1840) hatte gegen die Aufklärer postuliert: "An die Stelle der Autorität der Evidenz hat die Evidenz der Autorität zu treten."
Universaljurisdiktion: Päpstliche Allgewalt über die ganze Kirche
Angesichts der biblischen Befunde muss nun nicht minder die Behandlung der Machtfrage auf dem I. Vatikanum befremden. Einen Herrscher, der als König neben dem einen Gott von Menschen Gefolgschaft verlangt, so etwas sollte es im Stämmebund Israels ursprünglich überhaupt nicht geben. Die einstigen Sklaven waren nicht deshalb aus Ägypten befreit worden, um im Gelobten Land erneut unter das Joch eines Herrschers zu gelangen (vgl. Richter 9,7-21; 1 Samuelbuch 8,5-22). Das werden die Propheten des Ersten Testaments nie vergessen. In seinem Spottlied auf den König von Babel singt Jesaja: "Ach, du bist vom Himmel gefallen, du strahlende Sonne der Morgenröte... Du aber hattest in deinem Herzen gedacht: Ich ersteige den Himmel; dort oben stelle ich meinen Thron auf, über den Sternen Gottes." (Jesaja 14,12f.) Ezechiel stimmt über den prunkvollen König von Tyrus schon zu Lebzeiten eine Totenklage an: "Doch du bist nur ein Mensch und kein Gott, obwohl du im Herzen geglaubt hast, dass du wie Gott bist." (Ezechiel 28,2) So spricht man von Herrschern in jener Tradition, auf deren Hintergrund Jesus die "Mächtigen dieser Welt" entlarvt (Markusevangelium 10,42ff) und Maria Gott preist, der die Mächtigen vom Thron stürzt (Lukasevangelium 1,52).
Einstmals stritten die Jünger, "wer unter ihnen der Größte sei" (Lukas 18,22-26). Da hat Jesus sie an die mit Wohltäter-Namen verzierten Machtverhältnisse des Römischen Imperiums erinnert und festgestellt: "Ihr dagegen nicht so!" Alle sind Geschwister, und keiner unter diesen darf - so Jesu ausdrückliche Weisung - sich "Lehrer" oder "Vater" nennen lassen (Matthäus 23, 8-12). Von diesem Zeugnis ist in der Römischen Kirche als Illusion nur ein nebulöser "mystischer Leib Christi" übrig geblieben. Ansonsten hat Entscheidungsmacht das Zeugnis ersetzt. Wer aber die Macht hat, dessen Überlieferung kann "Gottes Wort" einfach außer Kraft setzen (vgl. Markus 7,13; Matthäus 15,3). Nunmehr gibt es den exklusiven "Stellvertreter Christi", das alleroberste Lehramt und sogar - wie soll man es fassen - den "Heiligen Vater" an der Kirchenspitze.
Am Anfang der Überhebung im zweiten Jahrtausend steht das "Dictatus Papae" von Papst Gregor VII. (1073-1085), das Manifest einer hierokratischen Ära:
Dass allein der römische Papst mit Recht "universal" genannt wird. … Dass er allein Bischöfe absetzen und wieder einsetzen kann. … Dass wir mit von ihm Exkommunizierten unter anderem nicht in demselben Haus bleiben dürfen. … Dass alle Fürsten nur des Papstes Füße küssen. … Dass in den Kirchen allein sein Name genannt wird. … Dass sein Urteilsspruch von niemandem widerrufen werden darf und er selbst als einziger die Urteile aller widerrufen kann. … Dass die römische Kirche niemals in Irrtum verfallen ist … Dass der römische Bischof, falls er kanonisch eingesetzt ist, durch die Verdienste des heiligen Petrus unzweifelhaft heilig wird …
Dies ist also das "geistliche Imperium Romanum" (Hans Küng) aus Papst-Sicht. Die Bischöfe freilich werden (wie die Ostkirche) die Dinge noch sehr lange anders sehen als Gregor VII. und das auch in Konzilsbeschlüssen dokumentieren.
800 Jahre später ist in der Konstitution "Pastor aeternus" des I. Vatikanums von Bischöfen allerdings fast gar nicht mehr die Rede. Dafür wird die neu definierte päpstliche Unfehlbarkeit durch einen unbegrenzten Jurisdiktionsprimat ergänzt, der allgemein viel weniger im Bewusstsein ist als diese. Er bedeutet bezogen auf den "Fürst aller Apostel" eine direkte und vollständige Allgewalt in alle Ebenen der Weltkirche hinein. Der Papst wird zum alleinigen und obersten Gesetzgeber, Leiter und Richter in allen kirchlichen Fragen. Für die bischöflichen "Mitbrüder" folgt daraus, wie Kardinalstaatssekretär Jacobini am 13.4.1885 dem Nuntius in Madrid mitteilt, "dass der Papst immer und bei jeder Gelegenheit in allen Angelegenheiten jeder Diözese autoritativ eingreifen kann, und dass die Bischöfe in allen Angelegenheiten, in die der Papst eingreift, zu gehorchen und seinen Entscheidungen sich zu unterwerfen verpflichtet sind." Nun versteht man wohl, warum der Mainzer Bischof Ketteler die Konzilsväter am 23.5.1870 gebeten hatte, zu zeigen, "dass es in der Kirche keine willkürliche, gesetzlose und absolutistische Gewalt gibt …". Schon das von französischen Bischöfen eingebrachte Modell der Kirche als "konstitutioneller Monarchie" galt zu diesem Zeitpunkt als Ketzerei.
Nicht mehr das Band der zur Freiheit berufenen Gemeinschaft der Getauften betrachtet man in Rom als Fundament der Einheit, sondern: den päpstlichen Primat. An sich hätte nach der Säkularisation z.B. das altkirchliche Bischofswahlrecht von unten wiederhergestellt werden können. Doch das primatstrunkene Rom marschiert - bis heute - in die genaue Gegenrichtung (wir werden dies z.B. bei der nächsten Neubesetzung des Kölner Bischofsstuhls wieder überprüfen können). Seit 1870 ist das absolute Papsttum auch in zwei Kirchenrechtsbüchern beim Wort genommen worden. Der Papst kann letztlich nach Gutdünken entscheiden, ob er sich mit irgendjemandem berät oder nicht. Die lateinische Kirche hat somit ein großes Problem. Einer bestimmt alles, und er bestimmt auch diejenigen, über die er zu bestimmen hat und die ihm zu gehorchen haben.
Dabei hatte es dem Papstamt zur Zeit des I. Vatikanums an Macht wahrlich nicht gefehlt. Ausgerechnet der schüchterne und romtreue Kölner Erzbischof Melchers regte am 19.1.1870 an, "gerade in der gegenwärtigen Stunde, wo, anders als früher, die Einheit mit dem Zentrum … so stark sei, wie niemals vorher in der Geschichte, könne man … mit Nutzen der Kirche einen Dezentralisierungsprozess einleiten". Eine kluge Wortmeldung. Die kirchliche Rhetorik gefällt sich darin, staatliche Machtanmaßung, Zentralismus und Totalitarismus anzuprangern. Bis heute jedoch lehrt Rom das Prinzip der Subsidiarität (u.a. Selbständigkeit der Kleinräume) immer nur den anderen. Im eigenen Innenraum kann man, so wie die Dinge stehen, es gar nicht wahr werden lassen.
Transformation des Papst-Königtums?
Waren die neuen Definitionen von 1870 nun Waffen, mit denen der letzte "Papa Rè" (Papst-König) seinen noch verbliebenen Kirchenstaat nach zwei Wiedereroberungen (1849/1859) besser - nämlich unfehlbar und allgewaltig - zu verteidigen dachte, oder waren sie Entschädigungen der Vorsehung für den dann im September 1870 erfolgten endgültigen Verlust des Kirchenstaates? Die Angelegenheit galt wirklich als Glaubensfrage. Der Enzyklika "Quanta cura" von 1864 hatte Pius IX. eine Verurteilungsliste von Irrtümern beifügen lassen, die kein einziges gutes Haar an der Moderne ließ und den römischen Realitätsverlust zur Norm erklärte. Diesem sogenannten "Syllabus" zufolge durfte niemand einem möglichen Verlust des Kirchenstaates etwas Gutes abgewinnen bzw. darin eine Chance für die Kirche sehen (das "Eintreten für die Aufgabe der weltlichen Herrschaft des Papst" stand schon seit 1862 unter schwerer kirchlicher Strafandrohung).
Vielmehr, so auch sonst die offizielle Doktrin, galt die weltliche Herrschaft für die Ausübung des päpstlichen Amtes als unerlässlich. Gebannt wurden "alle, die darauf bestehen, dass die Kirche nicht Gewalt üben dürfe". Zum Herrschaftsalltag von Pius IX. gehörten Militärberatungen, Soldatensegnungen und Polizeieinsätze. Der autoritäre Kirchenstaat war nicht nur bei Demokraten verhasst. 1868 ordnete der Papst die öffentliche Enthauptung von zwei Revolutionären an. Die letzte Hinrichtung im Kirchenstaat erfolgte zwei Tage vor dessen Ende (man erinnere sich: in den ersten drei Jahrhunderten der Christenheit durfte kein Getaufter ein Amt annehmen, in dem er als Entscheidungsträger oder Ausführender an der Tötung von Menschen mitzuwirken hatte. Sonst galt er wegen seiner "Lästerung Christi" augenblicklich als exkommuniziert).
Als Fazit können wir an dieser Stelle schon festhalten: Auf dem I. Vatikanischen Konzil wurde 1870 eine Grundentscheidung für das Kirchenmodell "Kriegsschiff" getroffen. In einem 2. Teil("Katholizismus und Freiheit") sollen die historischen Weichenstellungen und Folgen, die damit verbunden sind, beleuchtet werden.
Teil 2: Katholizismus und Freiheit