Die entwickelten Demokratien der Welt stehen am Abgrund
Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 1
Beginnend mit dieser Ausgabe schreibt der Allensbacher Politologe und Wissenschaftsjournalist Wolfgang J. Koschnick in Telepolis eine Reihe von Artikeln, die sich sehr grundlegend mit der Fundamentalkrise der etablierten Demokratien auseinandersetzt. Die 1. Folge beschreibt und analysiert den Niedergang der entwickelten parlamentarischen Parteiendemokratien. Sie zeigt, dass alle entwickelten Demokratien der Welt in einer Systemkrise gefangen sind, aus der es kein Entrinnen gibt. Das verbreitete Klagen über "die Politiker" und die allgemeine "Politikverdrossenheit" verstellt den Blick dafür, dass alle entwickelten Demokratien in einer fundamentalen Strukturkrise stecken.
Die Demokratie, die Heilige Kuh der modernen Welt, befindet sich in der Krise. Und es ist eine tiefgreifende Krise. Im Namen der Demokratie werden alle Arten von Verbrechen begangen. Aus ihr wurde wenig mehr als ein ausgehöhltes Wort, eine hübsche Schale, jeglichen Inhalts oder Sinns entleert. Sie ist so, wie man sie haben will.
Die Demokratie ist die Hure der freien Welt, bereit, sich nach Wunsch an- und auszuziehen, bereit, die verschiedensten Geschmäcker zufrieden zu stellen. Man nutzt und missbraucht sie nach Belieben. Bis vor kurzem, noch in die 1980er Jahre hinein, schien es so, als könnte die Demokratie tatsächlich ein gewisses Maß an echter sozialer Gerechtigkeit gewährleisten.
Aber moderne Demokratien existieren lange genug, und neoliberale Kapitalisten hatten genug Zeit, um zu lernen, wie man sie untergräbt. Sie verstehen sich meisterlich in der Technik, die Instrumente der Demokratie zu infiltrieren - die "unabhängige" Justiz, die "freie"! Presse, das Parlament - und sie zu ihren Zwecken umzuformen.
Arundhati Roy, indische Schriftstellerin und Globalisierungskritikerin
Die demokratischen Systeme dieser Welt stehen vor tief greifenden Erschütterungen. Wer das als normaler Bürger miterlebt, glaubt mitunter noch, dass in seinem Lande gerade eine besonders unfähige Regierung am Werk ist, dass bei der nächsten Wahl alles anders wird und dass zurzeit zwar eine Krise die nächste jagt, bald aber auch wieder bessere Zeiten kommen…
Doch wer das glaubt, täuscht sich. Die entwickelten Demokratien in aller Welt - von den USA über Europa bis Japan - stehen vor dem gleichen Elend: Zwischen den Völkern und ihren Politikern ist ein tiefer Graben der Entfremdung aufgerissen, die Prozesse der politischen Willensbildung sind völlig erstarrt, die Menschen haben kein Vertrauen mehr in das politische System, in den Parlamenten und den politischen Parteien herrschen Hierarchien, es geht nicht mehr demokratisch zu, die Volksvertretungen nicken Regierungsentscheidungen nur noch ab, wichtige Entscheidungen werden in Hinterstuben getroffen, die politischen Institutionen sind handlungsunfähig, die Politiker taugen nichts, und der Staat ist bis über die Ohren verschuldet.
Die politische Krise ist die Folge einer strukturellen Reformunfähigkeit der Institutionen und ihrer Politiker, einer wachsenden Kluft zwischen den Bürgern und Regierungen, zwischen Wählern und Volksvertretern, zwischen Gesellschaft und Staat. Als Regierungsform stoßen die Demokratien an ihre Grenzen, weil sie nicht mehr leisten, wozu sie da sind: die Interessen aller zu wahren und ihren Völkern ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie dienen nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern nur noch den Interessen einzelner Gruppen.
Längst haben Oligarchien die Herrschaft übernommen
Alle entwickelten Demokratien stehen in einer ähnlichen existenziellen Fundamentalkrise, und weite Teile der Bevölkerung verachten diejenigen, die sie regieren. In der Bevölkerung vieler demokratischer Staaten wächst der Widerstand gegen die Willkür der Repräsentanten, die von vielen nicht länger als Vertreter des Volkes angesehen werden.
Die Völker der demokratischen Staaten sehen sich von Oligarchien beherrscht, die ihre eigenen, höchst eigennützigen Interessen verfolgen und sich nicht mehr um die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Interessen der Menschen scheren, die sie eigentlich vertreten sollen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik aller entwickelten Demokratien geht in immer stärkerem Maße an den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit vorbei und richtet sich zunehmend gegen die eigene Bevölkerung.
Es mehren sich die Zweifel, ob die herrschenden Demokratien überhaupt noch handlungsfähig sind; denn die eigentliche Krise ist die Krise der repräsentativen Demokratie. Die strukturellen Schwächen dieses Ordnungssystems treten heute so krass hervor wie nie zuvor. Eine erfolgreiche Krisenbewältigung würde einen radikalen Politikwandel erfordern. Das jedoch können auf Wahlerfolge und Machterhalt fixierte, kurzsichtig orientierte politische Parteien systembedingt kaum leisten.
Das erklärt auch, weshalb dringende Reformen unterbleiben und Schulden angehäuft werden. Doch der Reformbedarf ist immens. Bisher haben alle Demokraten stets geglaubt, kein Ordnungssystem sei so fähig, sich selbst zu reformieren, wie die Demokratie. Doch der Zustand der entwickelten Demokratien unserer Zeit lehrt das Gegenteil. Das System ist in totaler Unbeweglichkeit erstarrt. Die Krise der Demokratie ist tatsächlich da.
Viele hoffen noch immer, dass Demokraten mit den Problemen einer Gesellschaft besser fertig werden als Diktatoren. Das läuft auf das Pfeifen im Walde und auf die vage Hoffnung hinaus, dass weiter gut gehen wird, was in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat. Es bliebe dann nur das Vertrauen, dass die demokratischen Institutionen und ihre Repräsentanten alle Probleme doch noch lösen können. Doch genau dieses Vertrauen ist verloren. Denn es sind eben diese Repräsentanten, die alle Probleme selbst geschaffen haben, die sie nun nicht lösen können.
Die demokratischen Systeme dieser Welt sind in wachsendem, wenn auch von Land zu Land sehr unterschiedlichem Maße zu Oligarchien mutiert und stehen vor dem Zusammenbruch. Es kann sich noch viele Jahre hinziehen, bis sie vollständig kollabieren. Aber der Kollaps ist unausweichlich.
Sind Demokratien ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts?
Um dem Kollaps zu entgehen, darf es keine Tabus geben. Auch keine Tabus beim Nachdenken über die Demokratie. Ob es eine Alternative zur Demokratie gibt, die nicht auf Diktatur oder den autoritären Staat hinausläuft, kann man erst wissen, wenn man darüber nachdenkt, ob es eine revolutionär neue, alternative politische Ordnung jenseits der traditionellen repräsentativen Demokratie gibt, die dennoch ein Rechtsstaat bleibt, die Menschen- und Bürgerrechte wahrt und zugleich Lösungen für die demokratisch offensichtlich nicht mehr lösbaren Menschheitsprobleme verheißt.
Das bestehende politische System hat sich überlebt und passt nicht mehr ins 3. Jahrtausend. Es hat die repräsentativen Demokratien der Welt in eine strukturelle Schuldenkrise geführt, aus der es nur mit gutem Willen nach dem Motto "Ab morgen wird gespart" keinen Ausweg gibt. Mit PR-Parolen lassen sich Strukturprobleme nicht lösen.
Die repräsentative Demokratie ist eine Organisationsform des 19. Jahrhunderts. Das war eine demokratische Vertretung unter den Bedingungen gemächlicher Kommunikation, beschwerlichen Reisens, beschränkter Fortbewegungsmöglichkeiten und der Unmöglichkeit, in kurzer Zeit oder gar in Realzeit in politische Vorgänge einzugreifen. So lange darüber hinaus einigermaßen homogene Milieus- das adelige, das bürgerliche, das katholische, das protestantische, das sozialdemokratische - und damit zugleich auch homogenere Interessenlagen bestanden, funktionierte das repräsentative System ganz zufriedenstellend.
Unter den Bedingungen weltweit rasant beschleunigter Kommunikation und der Möglichkeit, rasch und gewissermaßen in Realzeit in alle Prozesse einzugreifen, günstigen und schnellen Reisens und der Auflösung einst homogener Milieus besteht wenigstens technisch die Möglichkeit für alle Bürger, rasch an politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen und in sie einzugreifen.
Das repräsentative System bietet dazu jedoch keinerlei politische Möglichkeit. Es ist schwerfällig, träge und umständlich und löst damit große Frustration bei den Bürgern aus. Sie fühlen sich ausgeschlossen und jeglicher Chance beraubt, ihre eigenen Geschicke und Interessen auch nur zu beeinflussen, geschweige denn in die eigenen Hände zu nehmen. Die repräsentative Demokratie alten Stils schließt ihre Bürger aus allen Entscheidungsprozessen aus.
Vor die Interessen der Bürger haben sich im Zeitalter der repräsentativen Demokratien schwergewichtige, ja schwerfällige und mehr und mehr auch handlungsunfähige Großorganisationen wie politische Parteien, Verbände, Parlamente, Bürokratien und große Konzerne geschoben und über die Bürger erhoben, deren Interessen sie schon lange nicht mehr vertreten und die zunehmend den Interessen der Bürger entgegenstehen. Sie üben politische Herrschaft über die Bürger aus, und die Bürger wenden sich erst einmal nur von ihnen ab. Die wechselseitige Entfremdung kann in Zukunft nur wachsen.
In der alten Welt der jungen Demokratien, gingen aus dem Wettbewerb der politischen Parteien mitunter noch Lösungen hervor. Das System der parlamentarischen Demokratien basiert auf Gegensatz und Antagonismus: hie Regierung, do Opposition. Wenn die einen dafür sind, sind die anderen dagegen. Aus Prinzip und um sich für die nächste Wahl zu profilieren.
Die politischen Parteien sind der größte Klotz am Bein
In eine komplexe und sich rasant entwickelnde Welt passen solche Antagonismen nicht hinein. Sie sind reiner Schwachsinn. Die Welt besteht nicht nur aus Freunden oder Feinden. Es kommt nicht mehr darauf an, entweder dafür oder dagegen zu sein. Gebraucht werden Lösungen, die der Komplexität der Realität angemessen sind.
Die politischen Parteien sind in dieser Welt der größte Klotz am Bein der Demokratie. Sie sind die letzten Dinosaurier, die es geschafft haben, in die Moderne hinein zu überleben. Sie behindern jeden Tag aufs Neue dringend gebrauchte Lösungen und verschärfen so kontinuierlich die Krise der repräsentativen Demokratien. Sie sind Überbleibsel aus einer versunkenen Welt. Und die Parteiendemokratie ist das letzte verbliebene Naturreservat der politischen Dinosaurier in der neuen Zeit.
Da die politischen Parteien programmatisch in nahezu jeder Hinsicht übereinstimmen, so gut wie austauschbar sind und einander bei Bedarf auch mal die Themen klauen - erst war die SPD allein für den Mindestlohn, und die CDU war dagegen; dann übernahm die CDU das Thema, und die SPD weiß nun nicht mehr so recht, ob sie jetzt noch dafür oder dagegen sein soll -, liegt die politische Macht vollständig in den Händen eines Parteienkartells.
Nur nach außen hin tragen die Parteien ab und zu noch Schaukämpfe aus, die inhaltlich keine Alternativen bieten, oder lassen ihre Repräsentanten sich in Talkshows gegenseitig anschreien. Die Wahlkämpfe sind ein reiner Schwindel, der programmatische Verschiedenheit lediglich vortäuscht. Eine Inszenierung von Themen, die sich die Funktionäre der Parteien zusammen mit ihren PR-Beratern ausgewählt haben, weil sie erwarten, mit dem jeweiligen Potpourri an Pseudothemen Wahlen gewinnen zu können.
Auf sie treffen die Worte George Orwells aus "1984" über den Krieg zu:
Es ist das Gleiche wie die Kämpfe zwischen gewissen Wiederkäuern, deren Hörner in einem solchen Winkel gewachsen sind, dass sie einander nicht verletzen können. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Überschuss von Gebrauchsgütern verbraucht, und er hilft, die besondere geistige Atmosphäre aufrechtzuerhalten, die eine hierarchische Gesellschaftsordnung braucht.
Die politischen Parteien sind in den entwickelten repräsentativen Demokratien zu Wahlvereinen für den einen oder den anderen Kanzler verkommen, zu dauerhaften Kartellen, die Posten an ihre Mitglieder und Funktionäre verschieben.
Charakteristikum der "politischen Kommunikation" in Wahlkämpfen ist die Dominanz des Trivialen, die gnadenlose Banalisierung der Politik mit albernen Slogans wie "Wir halten zusammen", "Politik mit Herz" oder gar "SPD ist Currywurst" im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf von 2012.
Für die weitgehend austauschbaren Volksparteien haben die ursprünglichen Ziele von Wahlkämpfen - nämlich politische Alternativen aufzuzeigen - völlig an Bedeutung verloren. Die Parteien üben sich stattdessen in einfältiger Polemik gegenüber den politischen Gegnern. Sachfragen spielen in diesen Schlammschlachten keine Rolle mehr. Und das wiederum steigert die Politikverdrossenheit der Wähler.
Wahlkämpfe dienen nicht mehr dazu, die Wähler zwischen Alternativen entscheiden zu lassen. Sie sind nichts als professionell inszenierte Spiele, für die Parteiführungen ausgesuchte politische Themen aufbereitet haben, die sie für die Bevölkerung von PR-Experten auf theatralische Weise in Szene setzen lassen. Wahlen dienen nur noch dazu, den demokratischen Schein zu wahren. Entscheidungen fallen andernorts. Die Demokratie schafft sich ab oder hat sich längst abgeschafft.
Vom Kinderglauben an die Demokratie
Wer religiös erzogen wurde, bewahrt ein Leben lang seine kindlichen Vorstellungen darüber, wer Gott ist, was man tun muss, um sein Wohlgefallen zu erlangen und wie es wohl im Paradies zugeht. Diese kindlichen Vorstellungen bleiben meist mächtiger als alle späteren Einflüsse und Überlegungen des Erwachsenenlebens.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Glauben an die Demokratie. Als Kinder haben wir gelernt, dass alle Macht vom Volke ausgeht, das seine Volksvertreter wählt, die dann im Parlament in großen Debatten darum ringen, Entscheidungen zum Wohle der Allgemeinheit zu treffen, Gesetze verabschieden und auch sonst viel Gutes und politisch Sinnvolles stiften.
Dieses utopische Wolkenkuckucksheim schwebt unserem inneren Auge noch immer vor, wenn wir als Erwachsene an Demokratie denken, obwohl wir inzwischen auch wissen, dass es mit der Wirklichkeit kaum noch etwas zu tun hat. Als Erwachsener macht man ganz andere Erfahrungen, aber der Grundstein, der durch den Kinderglauben gelegt wurde, bleibt unbeschädigt: Etwas Besseres als die Demokratie gibt es nicht.
Eigentlich könnte das Volk Entscheidungen auch selbst treffen und bräuchte gar nicht die Repräsentanten, die an seiner Stelle im Parlament entscheiden, aber in der Weimarer Republik hat das nicht gut funktioniert: Das Volk hat Kommunisten und Nationalsozialisten gewählt. Deshalb entschied man sich dagegen, es noch einmal selbst entscheiden zu lassen. Die Demokratie ist wohl das letzte und strengste Tabu unserer Zeit. Daran darf keiner rühren. Demokratie ist ein Wert an und für sich und das Maß aller Dinge. Man muss ihn nicht begründen. Man muss nur sagen, dass man dafür ist. Wer gegen die Demokratie ist, disqualifiziert sich selber als Rechter, als Verfassungsfeind, als Neonazi oder auch einfach nur als schlechter Mensch.
Gegen die Demokratie gibt es einfach nichts zu sagen. Da muss auch der kritischste Kritiker schweigen. Im äußersten Fall darf er vielleicht noch zaghaft andeuten, dass diese Demokratie keine wahre Demokratie ist und das Volk noch nicht genug einbezogen hat. Aber auch da muss er seine Worte genau abwägen, um ja nichts Falsches zu sagen.
Für Systemkrisen sind nicht "die Politiker" verantwortlich
Das hat schwer wiegende Konsequenzen: Wenn es in der Politik drunter und drüber geht, und das Volk sich schlecht regiert fühlt, macht es "die Politiker" verantwortlich und nicht das demokratische System, aus dem diese hervorgehen und in dem sie gedeihen. Wenn systembedingte Katastrophen den Alltag beherrschen, wird krampfhaft nach Erklärungen und nach Sündenböcken gesucht: das Finanzkapital, die Spekulanten, die Banken, die Staatsanleihen. Aber das demokratische System bleibt sakrosankt. Unantastbar.
Das ist für die Demokratien selbst eine schwere Bürde; denn wer sich Denkverbote auferlegt, setzt dem Nachdenken über Zusammenhänge enge Grenzen. Zu enge Grenzen. Er sagt sich selbst: Bis hierhin und nicht weiter darfst Du denken. Doch was, wenn die Wahrheit im Bereich des verbotenen Denkens liegt? Die bleibt dem Bewahrer des Tabus dann auf ewig verschlossen.
Die endgültige Konsequenz wagen viele Menschen auch heute noch nicht zu Ende zu denken; denn die lautet: Der jämmerliche Zustand der Politik unserer Zeit ist die Folge des Niedergangs des demokratischen Systems. Er ist ein Systemfehler, der nicht zu kurieren ist, wenn man sich weiter weigert, ihn als solchen zu erkennen. Ob man ihn kurieren kann, wenn man ihn erkennt, ist auch alles andere als sicher. Denn wenn es ein veritabler Systemfehler ist, dann liegt er definitionsgemäß im System. Kurieren lassen sich dann vielleicht ein paar Symptome, sodass sich das Siechtum des Patienten verlängern lässt. Aber der Fehler im System lässt sich dadurch nicht aus der Welt schaffen.
Es ist allerdings auch leicht nachzuempfinden, weshalb sich viele dagegen sträuben, die Krisen der Gegenwart als Systemkrisen der Demokratie zu erkennen. Demokratie ist untrennbar verknüpft mit der Achtung und Verteidigung von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechten. Das macht sie so kostbar. Und niemand kann sich deren Abschaffung wünschen. Doch darum geht es auch gar nicht.
Die Systemkrise der Demokratie spielt sich auf einem ganz anderen Feld ab: den Mechanismen und Apparaturen der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Die Dauerkrise der konsolidierten Demokratien hat zur Herausbildung einer von der Bevölkerung losgelösten politischen Kaste geführt, die ihr eigenes Wohl mit dem Gemeinwohl identifiziert und der die Interessen und das Wohlergehen der Bevölkerung weitgehend gleichgültig sind. Die Krise der entwickelten Demokratien ist eine Krise des politischen Willensbildungsapparats. Und diese Krise hat inzwischen eine Eigendynamik entfaltet, in der sich das System gegen die eigene Bevölkerung wendet und ihr in stets wachsendem Maße Schaden zufügt.
Aus Politikverdrossenheit ist Volkszorn geworden
Es gehört heute zum guten Ton, über "die Politiker" und "die Politik" zu schimpfen und beiden Versagen auf ganzer Linie vorzuwerfen. Nicht nur an Stammtischen. Übrigens keine spezifisch deutsche Form der Folklore. In den meisten entwickelten Demokratien klingt die Klage ziemlich ähnlich.
Deshalb hat es keinen Zweck, in den allgemeinen Klagegesang über Politiker und ihre Unfähigkeit einzustimmen. Das geht am Kern des Problems vorbei. Denn es fragt sich doch, welche tieferen Ursachen die verbreitete Unzufriedenheit mit einem eigentlich doch so idealen und unübertrefflichen System und seinen führenden Repräsentanten hat. Schließlich sind die Bevölkerungen der westlichen Demokratien nicht einfach nur schlecht gelaunt.
Wie konnte es nur dazu kommen, dass der Philosoph Jürgen Habermas - ein Meister der distinguierten Diktion und Verfasser von Büchern, die kaum jemand versteht - fast wie am deutschen Biertisch proletet? "Ich beschimpfe die politischen Parteien. Unsere Politiker sind längst unfähig, überhaupt etwas anderes zu wollen, als das nächste Mal gewählt zu werden, überhaupt irgendwelche Inhalte zu haben, irgendwelche Überzeugungen."
Um über das missmutige Geschimpfe auf Biertischniveau hinauszugelangen, bedarf es einer sorgfältigen Analyse: Wie konnte es dazu kommen, dass die Völker nahezu aller etablierten Demokratien mit der "Volksherrschaft" in ihren Ländern so gründlich unzufrieden sind? Welche Entwicklungen haben dazu geführt? Warum glauben am Ende die Völker der Welt nicht mehr daran, dass sie selbst es sind, die über sich herrschen? Warum fühlen sie sich von fremden Interessen beherrscht?
Vor einigen Jahren noch konnten die Politiker den Unmut der Bevölkerung mit dem Totschlagargument abbügeln, das sei "Politikverdrossenheit" und deshalb strikt abzulehnen. Doch der Begriff der Politikverdrossenheit führt in die Irre, suggeriert er doch, die Verdrossenheit der Leute sei die Quelle des Problems. "Die öffentliche Geringschätzung der Politik untergräbt die Fundamente der Demokratie", sprach 2004 die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann. Das Gegenteil ist wahr: Die Politik hat das Vertrauen der Bevölkerung untergraben und missachtet. Verdrossenheit ist keine Stimmungsschwankung der Bevölkerung. Es ist die Reaktion auf die Missachtung des allgemeinen Wohls durch die gewählten Repräsentanten und ihre Politik.
Oft halfen sich die Regierungen dann noch mit ein bisschen Propaganda gegen Politikverdrossenheit, die darauf zielte, die frohe Botschaft vom fabelhaften Funktionieren der Demokratie "‘rüberzubringen" und das Problem durch Kommunikation von oben nach unten aus der Welt zu schaffen. Auch dies ein kreuzabsurdes Paradigma: Die Herrschenden bringen das einfältige Volk mit Hilfe von Propaganda und allerlei PR-Kunststückchen wieder dazu, den Glauben an seine eigene Herrschaft zu bewahren. Geht’s noch bizarrer?
Doch heute ist selbst das nicht mehr möglich; denn die Fundamentalkrise des politischen Systems ist weiter vorangeschritten. Die Bürger würden antworten: "Wir sind politikverdrossen, weil die Politiker aller politischen Parteien uns dafür tausende von guten Gründen liefern. Nicht die Verdrossenheit ist das Problem, sondern eine Politik, die nur Verdruss bereitet."
Es ist kein Zufall, dass die demokratischen Systeme in aller Welt ein politisches Personal rekrutieren, das die Bevölkerungen dieser Länder zur Verzweiflung treibt. Tatsächlich gleichen sich die Ausdrucksformen der Politikverachtung in allen Ländern. Die Völker aller demokratischen Länder verachten ihre Politiker. Sie haben schlechte Erfahrungen mit ihnen und trauen ihnen - parteienübergreifend - nicht mehr über den Weg. Kaum noch jemand glaubt mehr daran, dass Politiker die Interessen des Volks wirklich vertreten.
Politik ohne Gemeinwohlperspektive
Die Politik hat mit dem Gemeinwohl nichts mehr zu tun. Vielmehr sind alle davon überzeugt, dass Politiker ihr eigenes Süppchen kochen. Politische Beobachter gehen heute davon aus, dass sich in den etablierten Demokratien eine vom Volk weitgehend losgelöste Kaste von Politikern gebildet hat ("die politische Klasse" ), die in einer eigenen Welt betriebsamer Geschäftigkeit und hochtrabender Herablassung lebt und die sich immer unverhüllter gegen das Volk wendet, es jedoch auf gar keinen Fall repräsentiert.
Es mag durchaus sein, dass diese Kaste sich nicht als solche empfindet. Sie hat dennoch deutliche Züge einer Kaste und sie wird vor allem von der breiten Bevölkerung und anderen politischen Beobachtern als solche wahrgenommen.
Die politische Kaste in entwickelten Demokratien unterscheidet sich markant von den Kasten im hinduistischen Indien, die ein geschlossenes System darstellen, aus dem es so gut wie kein Entrinnen gibt. Die politische Kaste der Demokratien ist nach oben und unten offen. Man wird nicht in sie hineingeboren, der Zugang ist einigermaßen offen, und man hat keine Verweilgarantie, wenn man erst einmal in sie aufgestiegen ist.
Aber die wirtschaftlichen, sozialen und natürlich auch politischen Interessen ihrer Angehörigen sind weitgehend identisch und unterscheiden sich deutlich von denen der restlichen Bevölkerung. Es hat sich eine Schicht der politischen Herrschaft herausgebildet, die in vielerlei Hinsicht wieder den herrschenden Schichten vordemokratischer Systeme ähnelt.
Waren die Demokratien in ihrer Pionierzeit noch politische Systeme der Gleichberechtigten, so hat sich im Verlauf vieler Jahrzehnte in allen repräsentativen Demokratien eine dauerhafte Herrschaft der politischen Kaste als institutionalisierte Form von Über- und Unterordnung etabliert.
Die gewissermaßen urdemokratische Gesellschaft der Gleichen und vor allem Gleichberechtigten, die miteinander in einer horizontalen Sozialbeziehung standen, mutierte im Verlauf vieler Jahrzehnte zur Gesellschaft der Ungleichen und vor allem Ungleichberechtigten, die in einer vertikalen Sozialbeziehung zueinander stehen.
Das grassierende Misstrauen großer Teile der Bevölkerung kommt nicht von ungefähr; denn diese Kaste hat sich in etablierten demokratischen Systemen komfortabel eingerichtet. Nur sind die sozialen Prozesse, durch die sie ihre politische Herrschaft errichten und verfestigen konnte, wesentlich diffiziler als die relativ grobschlächtigen Prozesse, durch die Herrschaft in vordemokratischen System entstand und bestand.
Die in praktisch allen etablierten Demokratien herrschende und sich kontinuierlich weiter ausbreitende Politikverachtung kann nur Gründe haben, die im System der etablierten Demokratien selbst ruhen. Das System "repräsentative Demokratie" selbst hat die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. Und wenn sich die Verantwortungsträger weiter gegen die Erkenntnis wehren, dass der Niedergang der Herrschaftsform "Demokratie" bereits in vollem Gange ist, dann wird das Ende der Demokratie unvermeidlich sein und gewissermaßen über Nacht über alle hineinbrechen.
Götterdämmerung der Demokratie
Die griechischen Philosophen der Antike unterschieden zwei Erscheinungsformen der Demokratie: die Timokratie und die Ochlokratie. Einfach gesprochen war die Timokratie die Herrschaft der Guten und die Ochlokratie die Herrschaft der Schlechten. Und die Timokratie galt als die gutartige Form der Volksherrschaft, die Ochlokratie als ihre Entartung. Aber es war dennoch auch eine Form der Demokratie, eben die Demokratie des Niedergangs.
Hinter der Unterscheidung stand ein zirkuläres Verständnis der Weltläufe: Jede Gesellschaftsform und jede Organisationsform hat eine Zeit der Blüte und eine Zeit des Niedergangs. Der Blütezeit folgt die Zeit des Niedergangs und des Verfalls. Das ist nicht die Vorstellung: Mal läuft alles gut, mal läuft es nicht so gut. Vielmehr die Erkenntnis, dass den Zeiten der Hochblüte zwangsläufig und unvermeidlich die Zeit des Niedergangs folgt.
Das Unterscheidungsmerkmal war die Orientierung des Systems am Gemeinwohl. Dahinter stand und steht die Vorstellung, dass die Demokratie anfangs reibungslos und zum Nutzen aller funktioniert und sich im Verlauf vieler Jahre die Strukturen so sehr verfestigen und verhärten, dass am Ende eine kleine Gruppe von Herrschenden sich nur noch um die eigenen Interessen kümmert und das Gemeinwohl vernachlässigt.
So sah der griechische Historiker Polybios (200-120 vor Christus) die Demokratie als höchste Form der Herrschaft und die Ochlokratie als ihre Zerfallsform an, in der Eigennutz und Habsucht der schlechten Herrscher an die Stelle der Sorge um das Gemeinwohl getreten sind. Er bezeichnete als "Ochlokratie" - Pöbelherrschaft - die negative Variante der Volksherrschaft und als positive Variante die "Demokratie". In der antiken Staatsphilosophie drückte sich in dem Begriff allerdings eine hochmütige Herablassung der Besitzenden über die untersten und besitzlosen Klassen aus.
Grundsätzlich herrschte in der antiken Staatstheorie die Vorstellung, dass jede am Gemeinwohl orientierte Herrschaftsform ein entartetes, nur an den Interessen der Herrschenden orientiertes Gegenstück habe: Diese Analogie gilt heute mehr denn je. Und wir sind Zeitzeugen einer Entartung der modernen Demokratie, die sich immer stärker an den Interessen der politisch Herrschenden und immer weniger an den Interessen des beherrschten - und angeblich ja herrschenden - Volks orientiert.
Der Wandel von der am Gemeinwohl orientierten zur vorwiegend an Herrschaftsinteressen orientierten Politik ist ein schleichender Prozess, der für alle demokratischen Systeme charakteristisch ist und seinen Höhepunkt noch längst nicht erreicht hat. Er wird sich in künftigen Jahren noch weiter verschärfen. Das ist der Grund, weshalb große Teile der Bevölkerung aus allen Schichten sich zunehmend von der Politik abwenden: Sie empfinden deutlich, dass die herrschenden Politiker und die herrschende Politik nicht länger Diener des Gemeinwohls sind.
Vorerst ist dies noch ein sehr diffuser Unmut, der sich auf "die Politiker" und "die Politik" fokussiert. Doch das sind nur Metaphern für den tiefer gehenden Niedergang der Demokratie, den zu erkennen der alte Kinderglaube an die unendlich vielen Vorzüge der Demokratie einstweilen noch verhindert. Dass die Demokratie in eine Phase eingetreten ist, in der sich ochlokratische Oligarchien bilden, die andere Interessen als die der allgemeinen Bevölkerung vertreten, mögen sich viele noch nicht eingestehen. Es würde die Grundlagen unseres politischen Systems erschüttern; denn es liefe auf die Bankrotterklärung für das demokratische System hinaus.
Dabei ist die grassierende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den Politikern ja eigentlich viel absurder. Als ob urplötzlich - wie aus dem Nichts - sich in einem eigentlich ja hervorragend funktionierenden, idealen Gemeinwesen lauter politische Taugenichtse breit machen.
Natürlich hat es mit dem System zu tun, wenn aus ihm ein politisches Personal hervorgeht, das bei der breiten Bevölkerung nichts als Unzufriedenheit, Unmut, nackten Zorn und kaum noch zähmbare Wut auslöst. Und weil das eine bittere Konsequenz des Systems ist, ist es auch weltfremd anzunehmen, man brauche nur die eine oder andere Wahl abzuwarten, und schon werde wieder eine neue Generation von Politikern das Heft in die Hand nehmen. Genau dies hoffen viele Leute schon seit Jahrzehnten vergebens. Doch das Elend hat kein Ende.
Es kommt auch nicht mehr auf die "richtige" Partei an. Die Parteien gleichen einander und vertreten ihre eigenen Interessen, die sich deutlich von denen der Allgemeinheit unterscheiden und im Wesentlichen darin bestehen, ihre eigene Herrschaft und die Versorgung ihres politischen Personals dauerhaft zu garantieren.
Die heutigen Ochlokratien sind der vorläufige Endstand von Verfestigungs- und Verkrustungsprozessen, die aus der besonderen Form der Rekrutierung des politischen Personals in modernen Demokratien resultieren. Für Soziologen sind solche Verkrustungen gar nicht so rätselhaft. Für sie ist auch klar, dass solche Prozesse nur schwer oder auch gar nicht umzukehren sind. Man wird sich darauf einrichten müssen, dass die Verhältnisse in den ochlokratischen Demokratien nicht besser werden können. Der Niedergang hat seine eigene Dynamik - und die kennt nur eine Richtung: abwärts. Es besteht also wenig Hoffnung auf bessere Zeiten.
Teil 2: Die Demokratie frisst ihre Kinder.
Teil 2 wird sich mit dem Niedergang der repräsentativen Demokratie beschäftigen und beschreiben, dass sich die Repräsentanten in den entwickelten demokratischen Systemen immer weiter von denen entfernt haben, sie repräsentieren sollten und vielleicht sogar einmal repräsentiert haben.