Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS
Eine Sendung des populären Psychologeek im Faktencheck: Ursachen, Erblichkeit, Mode-Diagnose, Albert Einstein hatte ADHS?
"Psychologeek" ist ein Informationsangebot der Psychologin Pia Kabitzsch für "funk", das Content-Netzwerk von ARD und ZDF. Die junge Frau vermittelt darin Wissen über Psychologie, nach eigenen Angaben "unterhaltsam & mit einer Extraportion Liebe". Funk richtet sich vor allem an die 14- bis 29-Jährigen.
Das ist gleichzeitig eine Altersgruppe, in der die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) häufig diagnostiziert wird. ADHS gilt als die häufigste psychische Störung im Kinder- und Jugendalter. Nachdem die Existenz einer Erwachsenen-ADHS lange Zeit umstritten war, wird auch diese Form der Störung nun immer häufiger diagnostiziert.
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk übt man sich gerne in Faktenchecks. Darum will ich jetzt auch einmal der Folge von Psychologeek "AD(H)S - das musst du wissen" auf den Zahn fühlen; mit einer Extraportion Genauigkeit.
Vorab sei gesagt, dass ich Pia Kabitzschs Sendungen über Psychologie durchaus für gelungen halte. Da ADHS heute so oft diagnostiziert wird und für viele Betroffene dann zu jahrelangem Stimulanzienkonsum (z.B. von Ritalin) führt, ist die Darstellung dieses Phänomens aber von besonderer Bedeutung. Denn die Art und Weise, wie man über seine Probleme denkt, beeinflusst auch die Hilfe, die man sich dann vielleicht sucht.
Albert Einstein hatte ADHS?
Gleich am Anfang der Sendung sieht man die Fotos einiger Hollywood-Stars, die angeblich ADHS haben. Inwiefern hier wirkliche klinische Diagnosen vorlagen oder man lapidar von einer Aufmerksamkeitsstörung spricht, wie man heute schnell Menschen als Autisten, Depressive, Schizophrene und so weiter abstempelt, mögen Interessierte selbst recherchieren. Doch ein Beispiel der Psychologin fällt besonders aus der Reihe: der deutsch-amerikanische Physiker Albert Einstein (1879-1955).
Einstein als ADHS-Fall darzustellen, ist nun auf mehrerlei Weise gewagt: Erstens gibt es die Diagnose ADHS erst seit den 1980ern (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Selbst wenn der bekannte Physiker bei einem Psychologen oder Psychiater Hilfe gesucht hätte, hätte er also schon aus formalen Gründen gar nicht diese Störung diagnostiziert bekommen können.
Zu Einsteins Lebenszeit gab es allerdings die Vorform MBD - Minimaler Gehirnschaden (engl. Minimal Brain Damage). Falls die Psychologin dem Physik-Genie einen Hirnschaden diagnostizieren will, spräche das meiner Meinung nach nicht für die Ernsthaftigkeit ihrer Sendung.
Besser keine Ferndiagnosen
Zweitens muss man solche Diagnosen aus der Ferne immer mit Vorsicht genießen. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) hat sich selbst mit der Goldwater-Regel in den 1960ern sogar den ethischen Maßstab gesetzt, keine Ferndiagnosen vorzunehmen, ohne einen "Patienten" selbst untersucht zu haben. Insbesondere soll man ohne Zustimmung der Betroffenen auch nicht in der Öffentlichkeit darüber sprechen.
Die Regel bezieht sich auf den US-Senator und Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater (1909-1998), dem wegen einer diffamierenden Ferndiagnose im Wahlkampf schließlich rund eine halbe Million US-Dollar (nach heutigem Wert) Schadensersatz zugesprochen wurde. Damals wurden Anzeigen geschaltet, Psychiater hielten den Anwärter für das höchste Amt nicht für regierungsfähig.
Jetzt mag man einwenden, dass das mit Albert Einstein und ADHS eher als Witz gemeint ist. Die Sendung erhebt aber selbst den Anspruch, die Zuschauer korrekt über die psychische Störung zu informieren ("ADHS - das solltest du wissen").
Wichtige Fragen über ADHS
"Aber was genau bedeutet das eigentlich, ADHS zu haben? Wie äußert sich das? Und was ist dran an so Mythen wie 'ADHS kommt durch schlechte Erziehung' oder 'Man muss heute nur ein bisschen unruhiger sein und, zack, bekommt man die Diagnose'? Supersuperviele von euch haben sich 'n Video über ADHS von mir gewünscht und ich find' auch, dass es allerhöchste Eisenbahn ist, dass wir da mal so ganz sachlich drüber sprechen. Schließlich ist ADHS die am häufigsten diagnostizierte psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen." Pia Kabitzsch auf Psychologeek
Wo wir sachlich sein wollen: Von psychiatrischen Erkrankungen spricht man besser nicht. Das suggeriert nämlich, es handle sich um eine klar definierte medizinische Entität, deren Ursachen und Auslöser ("Krankheitserreger") man kenne. Das ist bei psychischen Störungen aber nicht der Fall, weswegen man hier eben von Störungen oder auch Syndromen spricht.
Syndrom ist der passende Begriff, wenn man über etwas Diffuses spricht, von dem man eigentlich nicht genau weiß, was es ist. Und die Symptomliste von ADHS lässt zehntausende Varianten zu, die man aus pragmatischen Gründen in drei Formen unterteilt: den Aufmerksamkeitsdefizitstyp, den Hyperaktivitäts- beziehungsweise Impulsivitätstyp und eine Mischform aus beiden.
Denken im Schneckentempo?
Übrigens gibt es Psychologen und Psychiater, die darauf hin arbeiten, einen dritten Typ anzuerkennen: Ursprünglich dachte man an den Namen "Denken im Schneckentempo" (engl. Sluggish Cognitive Tempo, SCT). Kein Scherz: Das Journal of Abnormal Child Psychology widmete dem 2014 eine ganze Sonderausgabe.
Inzwischen plädiert man übrigens dafür, sie "Konzentrationsdefizitstörung" (engl. Concentration Deficit Disorder, CCD) zu nennen. Vielleicht war der alte Name diskriminierend für Schnecken?
Inwiefern die Wissenschaftler, die diese Initiative ins Leben riefen, von der pharmazeutischen Industrie unterstützt wurden, darf jeder selbst recherchieren. Es versteht sich doch von selbst, dass die üblichen Stimulanzien (wie Ritalin & Co.) gegen schneckenhaftes Denken helfen. Wer hätte daran Zweifel?
ADHS und das Schrankproblem
Doch bleiben wir beim Psychologeek: Als Beispiel dafür, was ADHS ist, zeigt die Psychologin einen Ausschnitt aus der Nachbarsendung "reporter". Dort wird eine andere junge Moderatorin besucht, die bei ihrem Kleiderschrank nur vier von sechs Türen montiert habe.
Nun zählt zwar das Unvermögen, bei einer Sache zu bleiben oder eine Aufgabe abzuschließen, zu den offiziellen Symptomen für das Aufmerksamkeitsdefizit. Dass die Frau - über Wochen, Monate oder vielleicht sogar Jahre! - die letzten beiden Schranktüren nicht montiert, dürfte aber wohl eher an fehlender Motivation beziehungsweise Lust liegen als an mangelnder Aufmerksamkeit.
Antriebs-, Interesse- und Lustlosigkeit wären eher Merkmale einer Depression. Doch bevor jemand zum Arzt oder Psychologen rennt, sei gesagt: Solche Erfahrungen gehören nun einmal zum Leben dazu und wir haben sie alle, in kleinerem oder größerem Maße.
Wahrscheinlich hätte schon die Zeit und Aufmerksamkeit für die Fernsehsendung gereicht, den Schrank endlich fertigzustellen. Filme fürs Fernsehen machen ist aber wohl interessanter. Das weist uns auch auf pharmakologische Theorien hin, die die Wirkungsweise der verschriebenen Stimulanzien (eben Methylphenidat in Ritalin oder Amphetamin) mit einer Steigerung der Motivation erklären.
Und es passt zu den Beschreibungen derjenigen, die sich auch ohne ADHS-Diagnose der Mittel bedienen: Langweilige Aufgaben machen dann mehr Spaß, man überwindet leichter den "inneren Schweinehund".1 Vielleicht trinken Sie aus ähnlichem Grund auch mal eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier oder Wein.
War der Zappelphilipp ein klassischer ADHS-Fall?
Pia Kabitzsch diskutiert dann das Bild des Zappelphilipps (nach dem Kinderbuch von H. Hoffmann aus dem Jahr 1845), das häufig mit ADHS verglichen wird. In einem lesenswerten Fachartikel über die Geschichte der Störung untersuchten Klaus Lange von der Universität Regensburg und Kollegen die Geschichte aus wissenschaftlicher Sicht.2
Die Psychologen ziehen das Fazit, dass man den Zappelphilipp nicht eindeutig als ADHS-Fall ansehen kann. Dazu liefere die Geschichte schlicht zu wenige Anhaltspunkte. Das ist insofern wichtig, als diese Fantasiefigur oft als Beispiel dafür genommen wird, dass es ADHS schon immer gegeben habe. Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich das aber nicht halten.
Interessant ist das aber in dem Zusammenhang, dass die historischen Vorläufer von ADHS oft dazu verwendet wurden, um auffällige Kinder psychologisch-medizinisch zu klassifizieren. Dabei stand ursprünglich nicht so sehr Aufmerksamkeit im Vordergrund, sondern "unmoralisches" Verhalten. Mit anderen Worten: Kinder, die sich nicht so benahmen, wie die Eltern und oder die Gesellschaft es wünschten, wurden dann mit wissenschaftlicher Autorität als "abnormal" erklärt.
Medikamentenkonsum
Wenn man sich jetzt überlegt, wie die Anforderungen an die Aufmerksamkeit mit dem Aufkommen der Informationstechnologie zunahmen, dann versteht man vielleicht, warum ADHS vor den 1990ern kaum diagnostiziert und insbesondere kaum medikamentös behandelt wurde, die Zahlen seitdem aber explodieren. Aber für Psychologeek riecht das wahrscheinlich nach "Mythos".
Doch warum waren in der Vergangenheit so viel weniger Menschen auf die Stimulanzien angewiesen, um im schulischen Umfeld oder bei der Arbeit gut zu funktionieren? Dabei gibt es die Medikamente doch schon seit einer kleinen Ewigkeit (Methylphenidat seit den 1940ern, Amphetamin noch länger).
Wie will man sonst erklären, dass heute beispielsweise in den USA Jahr für Jahr mehr dieser Substanzen produziert werden, als noch in der gesamten Dekade der 1990er?3 Oder dass beispielsweise die Kinder in Großbritannien so gut wie ohne die Mittel auskommen, während man in den Niederlanden oder den USA sehr schnell zum Rezeptblock greift?4 Dänemark und Deutschland liegen übrigens dazwischen.
Was ist ADHS?
Pia Kabitzsch nennt dann noch als typische Beispiele für ADHS, bei einem neuen Job nicht genau zu wissen, was von einem erwartet wird; oder genervt beim Supermarkt in der Schlange zu stehen; oder Schwierigkeiten damit zu haben, darauf zu warten, dass eine andere Person ausgeredet hat.
Tja, wer kennt das nicht? Dass die Vielfalt der Symptome bedeuten könnte, dass man es eben nicht mit einer klar umrissenen medizinischen Erkrankung zu tun hat, darauf kommt die Psychologin allerdings nicht.
Zur Diagnose erklärt die Psychologin dann, dass es die Probleme selbst bei Erwachsenen-ADHS schon vor dem 12. Lebensjahr gegeben haben müsse. Das ist jetzt so festgelegt, ja. Vor einigen Jahren wurde allerdings noch das 7. Lebensjahr als Grenze angesehen. Es gab aber schon immer die Frage, wie gültig so eine feste Altersgrenze überhaupt ist.5
Das verdeutlicht, wie willkürlich solche Kriterien mitunter von Menschen (vor allem: Psychiaterinnen und Psychiatern) festgelegt werden, was sich dann später auf Millionen Kinder und Jugendliche auswirkt. Hierüber informiert uns Psychologeek nicht. Der Hintergrund ist wahrscheinlich, dass man an dem Gedanken festhält, bei ADHS handle es sich um eine "neuronale Entwicklungsstörung", eben eine Gehirnstörung im Kinder- und Jugendalter.
Gehirnstörung oder nicht?
Wie bereits erwähnt, bestimmte dies schon die frühere Diagnose von MBD. Kurioserweise lässt sich die angebliche Gehirnstörung aber nur im Verhalten feststellen und nicht im Hirn. Den Behandlungserfolg sieht man ebenfalls nur im Verhalten, nicht in den Hirnzellen (Was heißt es, dass psychische Störungen Gehirnstörungen sind?).
Der auch von Pia Kabitzsch kolportierte Standpunkt, Kinder und Jugendliche mit ADHS würden in ihrer Gehirnentwicklung hinterherhinken, lässt sich nicht halten. Die hierzu maßgebliche Studie6 wird auch nicht in ihren Quellen angeführt. Der Vergleich von über 3000 Menschen mit und ohne ADHS-Diagnose ergab nur minimale Unterschiede im Gehirn.
Auch das spricht gegen den Gedanken, Menschen mit und ohne ADHS anhand ihres Gehirns zu unterscheiden. Die Gruppen überschneiden sich zu stark. Alles Andere ist Spekulation oder Wunschdenken. Wenn man MBD als Vorläufer miteinbezieht, dann sucht man jetzt schon seit bald 100 Jahren nach einer überzeugenden neurologischen Erklärung - vergeblich.
Substanzkonsum
Ließe man diesen Gedanken einmal los, könnte man auch zu diesem Ergebnis kommen: ADHS beschreibt ein Missverhältnis zwischen gesellschaftlichen Erwartungen einerseits und der Aufmerksamkeit und/oder des Benehmens eines Individuums andererseits. Dieses Missverhältnis lässt sich durch Anpassung der Erwartungen auf der einen Seite oder durch Training, Psychotherapie und/oder Substanzkonsum auf der anderen Seite beheben.
Da sich ADHS sowieso nicht objektiv feststellen lässt, weder durch einen Blut- oder Gentest, noch durch einen Hirnscan oder Ähnliches, könnte man einfach auf die Probleme der Menschen schauen. Dann käme man ohne psychologisch-medizinisches Brimborium aus und spräche vielleicht schlicht von instrumentellem Substanzkonsum (Die Droge als Instrument).
Viele Menschen besorgen sich ohnehin die Stimulanzien selbst, weil sie lieber keinen diagnostischen Stempel aufgedrückt bekommen wollen. Mit Blick auf die Angst vor Stigmatisierung ist das nachvollziehbar. Wer das positiv sieht, nennt das "Neuroenhancement" oder "Gehirndoping" (Gehirndoping und Neuroenhancement: Fakten und Mythen)
Wie häufig kommt ADHS vor?
Dass laut der Psychologin die Schätzungen für die Häufigkeit der Störung in unterschiedlichen Studien zwischen 2 Prozent und 18 Prozent schwankt - also um den Faktor neun! - scheint in ihr auch keine Zweifel zu wecken. Stellen wir uns einmal vor, man würde sich auf eine Waage stellen und das Ergebnis wäre: "Sie wiegen zwischen 20 und 180kg." Wie lange würde es wohl dauern, bis man so eine Waage als defekt zurückgibt?
Diesen Konflikt löst Psychologeek mit dem Verweis auf eine epidemiologische Studie, die die unterschiedlichen Ergebnisse mit uneinheitlichen Kriterien (wohlgemerkt unter Wissenschaftlern!) zur Feststellung von ADHS erklärt.7 Das spricht nun aber gerade nicht für die Gültigkeit (in Fachsprache: Validität) der Diagnose! Die Frage, ob ADHS eine Modediagnose ist, beantwortet Pia Kabitzsch trotzdem ganz klar negativ:
Dieser Anstieg der Diagnosen kommt höchstwahrscheinlich nicht daher, dass die Diagnose ADHS heute leichtfertiger vergeben wird, sondern daher, dass die Leute heute viel mehr auf dem Schirm haben, dass es ADHS gibt und ADHS deswegen bei Betroffenen häufiger und besser erkannt wird als noch vor einigen Jahren. Und wenn man sich die Zahlen der Betroffenen in der allgemeinen Bevölkerung anschaut, dann fällt auf, dass die Zahl der Diagnosen im Vergleich dazu immer noch ziemlich gering ist. Das heißt, man kann erstens davon ausgehen, dass ADHS heute immer noch unterdiagnostiziert ist, und zweitens, dass die Zahl der Diagnosen auch in den nächsten Jahren immer weiter ansteigen wird. Von einer Modediagnose würd' ich hier also defintiv nicht sprechen.
Pia Kabitzsch auf Psychologeek
Gültigkeit der Diagnosekriterien
Um im Bild mit den Waagen zu bleiben: Nehmen wir an, es gäbe verschiedene Arten von Körperwaagen - die auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kämen. Alle beriefen sich auf die Wissenschaft. Wenn Sie jetzt ins Geschäft gingen, welche würden Sie kaufen?
Die Psychologin müsste hier unterstellen, dass es die eine richtige Waage gibt. Eine ähnliche epidemiologische Arbeit wie die, auf die Kabitzsch sich bezieht, verglich noch mehr Studien (Waagen): 175 an der Zahl.8 Diese Forscher machen es sich einfach und bilden schlicht den Mittelwert: 7,2 Prozent aller Kinder hätten ADHS.
Man weiß also nicht, welche der 175 Waagen das Körpergewicht richtig misst, und einigt sich per Konvention auf die Mitte aller Ergebnisse. (Dabei berücksichtigt man allenfalls noch, mit wie vielen Personen eine Waage jeweils getestet wurde.) Wenn man nun zu der Waage greift, die dem Mittelwert am nächsten kommt, wie sicher könnte man sich dann über deren Messung sein?
Dabei wissen wir aber doch, dass die Diagnosekriterien im Laufe der Zeit aufgeweicht wurden: Erst sollten Kinder vor dem 7., jetzt vor dem 12. Lebensjahr Anzeichen der Störung aufweisen; dabei steht dieses Kriterium überhaupt in Frage. Erst wurde Erwachsenen-ADHS abgelehnt, jetzt wird sie anerkannt. Dazu kommt die mediale Aufmerksamkeit für die Störung. Es ist doch klar, dass dann die Anzahl der Diagnosen steigt!
Ob sie zu oft oder zu selten diagnostiziert wird, kann man nur beantworten, wenn man die gültigen Kriterien für die "echte" ADHS besitzt. Die gibt es aber doch gar nicht und auch die offiziell anerkannten Diagnosekriterien ändern sich im Laufe der Zeit, seit den 1980ern immer wieder.
Therapie
Zur Behandlung der Störung behauptet die Psychologin, dass diese am häufigsten mit Medikamenten geschähe. Worauf sie sich hier bezieht, erschließt sich mir nicht. Wie ich bereits anführte, gilt das beispielsweise für Großbritannien mit ziemlicher Sicherheit nicht. Für Deutschland führt sie eine Publikation im Ärzteblatt an, die jedoch nur von einer zunehmenden Medikation für den Zeitraum von 2009 bis 2014 spricht.9
Tatsächlich reagierte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) - das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen - 2010 sehr kritisch auf den starken Anstieg der Medikamentenverschreibungen gegen ADHS:
Die Verordnungsfähigkeit bestimmter Stimulantien wird aufgrund des Risikos, das vor allem für Kinder und Jugendliche mit der Einnahme dieser Medikamente verbunden ist, künftig noch weiter eingeschränkt, als das bisher der Fall ist.
Der Anstieg der Verschreibungen hörte dann (in Deutschland) erst einmal auf. Zudem sollte erst eine alternative Therapie ausprobiert werden, anstatt gleich zu den - unters Betäubungsmittelgesetz fallenden - Medikamenten zu greifen.
Neueste und repräsentative Zahlen von Versicherten zeigen, dass sich die Zahl der Medikamentenverschreibungen in Deutschland tatsächlich seit 2012 in etwa stabilisiert hat: Bei Kindern und Jugendlichen nahm sie ab; bei Erwachsenen nahm sie zu, jedoch auf einem niedrigeren Niveau.1 Letzteres ist zu erwarten, wenn man weiß, dass Erwachsenen-ADHS lange Zeit umstritten war.
Auf die genannte Entscheidung des G-BA verweist noch heute noch das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Informationsseite über ADHS. Darauf werden übrigens kein einziges Mal Gehirne, Gene oder die Neurowissenschaften erwähnt. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht.
Im Ergebnis erklärt das Ministerium: "Die Behandlung von ADHS stützt sich heute auf mehrere Säulen: Individuell kombiniert werden nach Aufklärung und Beratung aller Betroffenen eine Psychotherapie, z.B. Verhaltenstherapie des Kindes, Eltern- und Lehrertraining sowie im Einzelfall auch eine medikamentöse Therapie." Auch das stellt die Aussage von Psychologeek in Frage.
Natürlich fallen Psychotherapeutinnen und -therapeuten nicht vom Himmel, während man Pillen und Tabletten in Fabriken herstellen kann. Wenn man ADHS also immer häufiger diagnostiziert, wie Pia Kabitzsch es vorhersagt, dann wird es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Medikamentenverschreibungen kommen müssen.
Ursachen von ADHS
Besprechen wir zum Schluss noch die Ursachen. Die Psychologin vertritt hier eine sehr biologische Sichtweise und behauptet:
Wie ADHS ganz genau entsteht, das weiß man bisher noch nicht. Was man aber weiß ist, dass die Gene 'ne entscheidende Rolle spielen. Man sagt hier sogar, dass ADHS eine der 'erblichsten' psychischen Erkrankungen überhaupt ist. Das Risiko, auch zu erkranken, wenn ADHS in der Familie ist, ist hier also besonders hoch.
Pia Kabitzsch auf Psychologeek
Kurze Anmerkung: Familien haben es so an sich, gemeinsame Lebensumstände zu haben. Häufigeres Auftreten innerhalb familiärer Strukturen ist also für sich genommen noch kein Hinweis auf Erblichkeit. Wer beispielsweise seine Kinder schlägt, weil er als Kind selbst geschlagen wurde, könnte das aufgrund einer erblichen Veranlagung zu Impulsivität und Aggressivität tun - oder schlicht, weil er oder sie das als "normal" erfahren hat. Im Alten Testament galt das sogar als guter Erziehungsstil (Sprüche Salomons, Kapitel 13, Vers 24), was schließlich auch kulturelle Faktoren verdeutlicht.
Neben genetischen Einflüssen erwähnt Kabitzsch noch Komplikationen während der Schwangerschaft. Effekte durch die Erziehung hält sie eher für unwahrscheinlich: "Dass ADHS dadurch kommt, dass man zuhause zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, schlecht erzogen wurde oder zu viel Fernsehen geschaut hat, das ist aber definitiv ein Mythos."
Zwillingspaare
Machen wir einen kurzen Selbstversuch, bevor ich Ihnen konkrete Zahlen einer großangelegten Studie nenne: Die Erblichkeit von ADHS wird auf 60 bis 90 Prozent geschätzt. Nehmen wir jetzt einmal an, man hätte 100 eineiige Zwillingspaare, also Paare von jeweils zwei genetisch identischen Geschwistern. Von jeweils einem der Zwillinge weiß man, dass er oder sie eine ADHS-Diagnose hat. Bei wie vielen der anderen Zwillinge könnte man dann ebenfalls diese Diagnose erwarten?
Mit der Information, die Ihnen Kabitzsch gab und der geschätzten Erblichkeit von 60 bis 90 Prozent könnten sie jetzt annehmen, dass also 60 bis 90 der verbleibenden 100 eineiigen Zwillinge ebenfalls eine ADHS-Diagnose haben.
Gemäß der größten mir bekannten Studie mit knapp 60.000 schwedischen Zwillingen 1 wären es aber gerade einmal 22 (bei den Frauen) bis 39 (bei den Männern). Wie kann das sein?
Erinnern wir uns noch einmal an die Waagen: Wenn die Ihnen anzeigt, dass Sie 60 bis 90kg schwer sind - immer noch ein Unterschied von satten 50 Prozent! -, dann bringen Sie sie zurück ins Geschäft. Keinesfalls sollten Sie aus so einem Ergebnis die Notwendigkeit einer Diät ableiten.
Missverständnis Erblichkeit
Leider haben viele - auch viele Psychologen und Psychiater - missverstanden, dass man mit dem, was Genetiker als "Erblichkeit" (engl. heritability) definierten, zum großen Teil Umwelteinflüsse misst, also gerade keine genetische Determinierung. Sonst wäre die Schwankungsbreite von 60 bis 90 Prozent und die Zunahme der Diagnosen auch äußerst fragwürdig.
Die sogenannte Konkordanzrate (Übereinstimmungsrate), die ich gerade zitiert habe, konnte ich innerhalb weniger Sekunden über eine Internet-Suchmaschine finden. Es ist also keine höhere Magie. Wenn man den Anspruch erhebt, "mal so ganz sachlich" über ADHS zu sprechen (Zitat Pia Kabitzsch), dann sollte man sich diese Mühe schon machen.
Und bei der zitierten schwedischen Studie gab es 90 männliche und 49 weibliche Zwillingspaare, bei denen mindestens ein Zwilling die ADHS-Diagnose hatte. In 35 beziehungsweise 11 hatte der andere dann auch die Diagnose (konkordante Paare), in 55 beziehungsweise 38 aber nicht (diskonkordante Paare). So kommt man auf die 39 beziehungsweise 22 Prozent.
Das ist deutlich höher als bei den zweieiigen Zwillingen: 7 (Frauen) bis 9 Prozent (Männer). Wie so oft, spielen die Gene natürlich eine Rolle. Wir sind eben Körperwesen. Und Schwangerschaftskomplikationen könnten natürlich auch eine Rolle spielen, wie Pia Kabitzsch anmerkt.
Aufgrund dieser Daten lässt sich aber der Einfluss von Erziehungsfaktoren sicher nicht ausschließen. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf mein Interview mit der Entwicklungspsychologin, Pädagogikprofessorin und Mutter von sechs Kindern Laura Batstra verwiesen, die auf ADHS spezialisiert ist ("Die Kinder werden zum Problem erklärt").
Was ist nun der größte Faktor?
Die Sichtweise, die Pia Kabitzsch als wissenschaftlichen Konsens darstellt, ist oft irreführend oder sogar ins Gegenteil verdreht. Die angebliche Sicherheit, mit der die Psychologin in der Öffentlichkeit auftritt, gibt es beim Thema ADHS gar nicht.
Im Gegenteil sprechen neuere Forschungsergebnisse dafür, Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsprobleme zu demedikalisieren, also wieder aus dem Bereich von Psychiatrie und klinischer Psychologie herauszuholen (Nein, Ihr Kind ist nicht krank!). Wenn man der Psychologin zuhört, scheint es stattdessen völlig klar, ADHS als Krankheit aufzufassen und dann mit Medikamenten zu behandeln.
Mit wenig Rechercheaufwand hätte sie feststellen können, was den größten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose hat: das Alter der Kinder bei der Einschulung.1 Dieser Effekt ist in den Daten von über 15 Millionen Kindern bestätigt und auch für Deutschland seit Jahren belegt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS).
Problem Einschulung
Nehmen wir einmal an, der Einschulungsstichtag wäre der 30. Juni jedes Jahres. Kinder, die bis dahin sechs Jahre alt geworden sind, müssten nach den Sommerferien in die Schule. Dann wäre ein Kind, das erst am 30. Juni oder kurz davor seinen sechsten Geburtstag hat, in der Schulklasse rund ein Jahr jünger als ein Kind, das erst am 1. Juli oder kurz danach Geburtstag hat (und folglich ein Jahr später in die Schule kommt).
In Deutschland lässt sich das aufgrund der regionalen Unterschiede und auch der Verschiebung der Stichtage in den letzten Jahren sehr gut überprüfen. Und, siehe da: Der Versorgungsatlas berichtete schon 2015, dass die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose um den Stichtag herum um rund 20 Prozent steigt! Die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Medikation wird mit rund 26 Prozent sogar noch größer!
Was beispielsweise die Stiftung Warentest (letzte Aktualisierung am 15.8.2021) über die Ursachen von ADHS schreibt, steht im Einklang mit meiner Darstellung und widerspricht dem populären Psychologeek diametral:
ADHS ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, sondern vielschichtig. Die Ursachen für ADHS liegen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene. Es kann auch eine genetische Anlage geben, die zu Störungen im Stoffwechsel des Nervenbotenstoffs Dopamin führt. Auch Nikotin-, Alkohol- oder Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft wird mit einer späteren Erkrankung des Kindes in Verbindung gebracht. Darüber hinaus scheint es eine Rolle zu spielen, ob das Kind zu früh geboren wurde oder in der frühen Kindheit eine schwere Hirnerkrankung gehabt hat.
Oft liegt die Verhaltensauffälligkeit in familiären Schwierigkeiten oder seelischer Überforderung begründet. Ist das Kind von Menschen umgeben, die es ablehnen, bedrohen und bestrafen, verfestigen sich auffällige Verhaltensweisen eher, als wenn es sich geliebt, unterstützt und geborgen fühlen kann.
Stiftung Warentest: ADHS
Den bedeutenden Einschulungseffekt könnte man hier ergänzen. Wer über eine Medikamentenverschreibung für sich selbst oder seine Kinder nachdenkt, findet dort auch eine ausgewogene Übersicht über Wirkungen und Nebenwirkungen von Methylphenidat.
Fazit
Nach all dem Gerede über Gene und Gehirne, nach ausschließlicher Huldigung des Neuro-Kults von Pia Kabitzsch und vielen anderen, ist eine soziale Maßnahme der größte bisher bestimmte Faktor einer ADHS-Diagnose: nämlich wie alt ein Kind bei der Einschulung im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und -Schülern ist. Und das wird politisch festgelegt.
Natürlich sind Körper und Verhalten dieser Kinder (im Mittel) weniger entwickelt. Aber schlicht darum, weil sie jünger sind, nicht krank! Diesen Stempel drückt ihnen unser bürokratisches Gesundheitssystem auf, aufgrund fadenscheiniger wissenschaftlicher Begründungen. Und so war es bisher immer in der Geschichte von ADHS und ihrer Vorläufer.
Damit wird nicht bestritten, dass es Menschen mit gravierenden Aufmerksamkeits- und Impulsivitätsproblemen gibt. Und natürlich hängen diese Fähigkeiten mit unserem Nervensystem zusammen. Doch wann solche Unterschiede als Störung gelten, das entscheiden gesellschaftliche Institutionen (hier: vor allem Psychiaterinnen und Psychiater). Diese Dimension fehlt bei Pia Kabitzsch völlig.
Mein Standpunkt ist nicht ideologisch: Sobald es aussagekräftigere Daten gibt, ändere ich ihn. Man sucht ja nun aber schon bald seit 100 Jahren nach Unterschieden in den Gehirnen und Genen verhaltensauffälliger Kinder, seit über 30 Jahren unter dem Namen ADHS. Diese Effekte sind stets sehr klein, oft widersprüchlich. Das sind schlicht Tatsachen.
Psychologin Kabitzsch und ihr Psychologeek vertritt nach meiner Ansicht ein einseitiges, verzerrtes, in Teilen widerlegtes und lange überholtes Bild der Problematik. Gerade dann, wenn Sie den Anspruch vertritt, sachlich über ADHS zu informieren, sollte sie diese Sendung besser zurückziehen.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.
Fußnoten
[1] z.B. Vrecko, 2013
[5] z.B. Applegate et al., 1997; Asherson & Agnew-Blais, 2019
[10] Grimmsmann & Himmel, 2021
[11] Larsson et al., 2015
[12] Whitely et al., 2019