Gehirndoping und Neuroenhancement: Fakten und Mythen
Eine Zusammenfassung nach zwanzig Jahren Forschung
Was ist Gehirndoping/Neuroenhancement überhaupt?
Allgemein meint man damit die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit durch direkte Eingriffe ins Gehirn von gesunden Menschen, beispielsweise mit pharmakologischen Substanzen (Drogen/Medikamente) oder elektrischer Stimulation. Die Bezeichnung "Gehirndoping" zieht den Vergleich zum institutionalisierten Sport, wo bestimmte leistungssteigernde Mittel verboten sind. "Neuroenhancement" (oder auch: "Cognitive Enhancement") wird eher in der wissenschaftlichen Diskussion verwendet. Weiter unten werde ich erklären, warum ich "instrumentellen Substanzkonsum" für die bessere Bezeichnung halte.
In der Diskussion in Wissenschaft wie Medien wurde oft der Eindruck erweckt, es handle sich um einen neuen und zunehmenden Trend. Tatsächlich wurden aber Studienergebnisse zur Verbreitung oft falsch oder einseitig wiedergegeben und Ergebnisse aus den 1960er bis 1980er Jahren gänzlich ignoriert (siehe unten).
Ich verfolge die Diskussion seit über 15 Jahren und veröffentlichte 2005 möglicherweise den ersten deutschsprachigen Artikel zum Thema. Als junger, leistungsorientierter Philosoph und Wissenschaftler sah ich den Trend erst sehr positiv. Aufgrund der vielen Ungereimtheiten in der Berichterstattung und nach einer ersten Sichtung der pharmakologischen Studien (Schleim & Walter, 2007) wurde ich aber skeptisch. Wird hier den Menschen nicht viel zu viel versprochen?
Wie verbreitet ist Gehirndoping/Neuroenhancement?
Zu dieser Frage gab es schon 2011 eine zusammenfassende Arbeit von 28 Einzelstudien (Smith & Farah, 2011). Allerdings streuten deren Ergebnisse zwischen 1,7% und 55%. Das ist ein deutlicher Hinweis auf uneinheitliches Vorgehen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Wie definiert man das Phänomen und wie misst man es anschließend in der Praxis? Darauf scheint jede Forschungsgruppe andere Antworten zu geben.
Erst vor Kurzem erschien eine neue Arbeit, die inzwischen schon 111 Studien zusammenfasst (Faraone et al., 2020). Deren Ergebnisse streuen sogar noch etwas mehr, nämlich zwischen 2,1% und 58,7%. Die Autorinnen und Autoren kritisieren dann auch, dass sie aufgrund der großen Unterschiede der Einzelstudien keine formale Meta-Analyse vornehmen konnten, mit der sich die wissenschaftlichen Resultate auf standardisierte Weise zusammenfassen ließen. 2020 hat sich die Studienlage gegenüber 2011 also nicht wesentlich verbessert.
Die ehrliche Antwort auf die Frage nach der Verbreitung ist daher: Es lässt sich nicht genau sagen.
Wichtige Anhaltspunkte zur Verbreitung
Es gibt aber Anhaltspunkte. So liegen die Ergebnisse der methodisch hochwertigeren Studien, bei denen beispielsweise deutlich mehr Personen (N > 10.000), idealerweise an verschiedenen Orten befragt wurden, meist im einstelligen Prozentbereich. Umgekehrt stammte etwa der Extremwert von 55% von einer nichtrepräsentativen Befragung weniger (N = 307) männlicher Mitglieder von Studentenverbindungen an nur einer nordamerikanischen Universität (DeSantis, Noar & Webb, 2009). Dabei sind gerade junge Männer und Mitglieder solcher Verbindungen für ihren ausufernden Substanzkonsum bekannt.
Das landesweite und repräsentative (N = 102.000) US-amerikanische National Survey on Drug Use and Health 2015-2016 kam demgegenüber zum Ergebnis, dass nur 2,1% der Befragten verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Amphetamin ("Speed") oder Methylphenidat ("Ritalin") ohne Rezept verwendet hatten (Compton et al., 2018). Eine groß angelegte, ländervergleichende Studie fand zudem heraus, dass der Konsum in englischsprachigen Ländern (z.B. Kanada, USA, Vereinigtes Königreich) höher ist als in deutschsprachigen (Deutschland, Österreich, Schweiz; Maier et al., 2018).
In vielen dieser Studien geht es nicht spezifisch um Gehirndoping/Neuroenhancement, sondern um "nichtmedizinischen Konsum" von Stimulanzien und anderen Mitteln. Unter nichtmedizinischen Konsum fallen auch Motivationen wie länger auf Partys feiern, soziale Ängste bzw. Schüchternheit überwinden, abnehmen - einige Mittel reduzieren Hunger - oder schlicht ein "High-Gefühl" zu erleben. Diese wesentlichen Unterschiede werden in vielen Berichten, sowohl in wissenschaftlichen als auch in allgemeinen Medien, aber oft nicht berücksichtigt.
Passend zur Vorstellung von Gehirndoping/Neuroenhancement wurden zwar bessere Konzentration beim Lernen oder länger wach bleiben, um zu studieren, häufig als Gründe für den Konsum genannt. Das könnte aber schlicht die Tatsache widerspiegeln, dass die meisten Befragungen mit Studierenden durchgeführt wurden. Die Studien, die sich ausschließlich mit dem Steigern der geistigen Leistungsfähigkeit beschäftigen, anstatt allgemein nach "nichtmedizinischem Konsum" zu fragen, finden übrigens deutlich geringere Zahlen zur Häufigkeit.
Den besten Hinweis darauf, dass es überhaupt einen Anstieg gab, fanden Forscherinnen und Forscher der amerikanischen Universität von Michigan (McCabe et al., 2014). Sie wiederholten von 2003 bis 2013 sechsmal eine nicht-repräsentative Befragung an derselben Universität. Das brachte für den genannten Zeitraum eine Zunahme des nichtmedizinischen Konsums verschreibungspflichtiger Stimulanzien von 5,4% auf 9,3% zutage. Das bezieht sich, wohlgemerkt, auf minimal einmaligen Konsum im Vorjahr.
Auf Nachfrage verwies mich der Studienleiter auf eine andere Arbeit der Forschungsgruppe, in der die Häufigkeit dieses Verhaltens näher untersucht worden war (Teter et al., 2010). Demnach hatten 82,1% der Konsumenten die Stimulanzien insgesamt weniger als zehnmal genommen.
Fazit zur Verbreitung
Diese und viele weitere Befunde lassen meiner Meinung nach nur den Schluss zu, dass Gehirndoping/Neuroenhancement nie ein Massenphänomen war und noch nicht einmal klar ist, ob es in den letzten 20 Jahren zugenommen hat. Die heutigen Zahlen könnten sogar niedriger zu sein als die von Befragungen aus den 1960er bis 1980er Jahren, die ich an anderer Stelle zusammengefasst habe (Schleim, 2020a; Schleim & Quednow, 2017; 2018).
Beispielhaft sei hier eine Überblicksarbeit von 21 Einzelstudien aus den Jahren 1966 bis 1980 genannt (McAuliffe et al., 1984). In diesen gaben 11% bis 54% der Personen an, schon einmal Amphetamin genommen zu haben, überwiegend mit dem Ziel, länger wach zu bleiben oder besser bei einem Test oder im Sport abzuschneiden. (Methylphenidat/Ritalin war damals noch nicht sehr bekannt.)
Kurz darauf veröffentlichte dieselbe Forschungsgruppe eine detaillierte, jedoch nichtrepräsentative Befragung von (N = 1308) Fachleuten und Studierenden aus den Gesundheitswissenschaften (McAuliffe et al., 1986). Um länger wach zu bleiben, besser zu arbeiten oder besser im Sport zu sein, hatten 16% der befragten Ärztinnen und Ärzte sowie 17% der Medizinstudierenden schon einmal Drogen oder Medikamente genommen. Die Fachleute schätzten, das im Mittel rund 44-mal getan zu haben. Die Studierenden nannten durchschnittlich rund 66 Konsumgelegenheiten.
Das ist deutlich mehr als die genannten Zahlen der amerikanischen Forscher aus dem Jahr 2010 (Teter et al., 2010). Gehirndoping/Neuroenhancement war früher also möglicherweise sogar noch verbreiteter als heute, auch wenn man es noch nicht so nannte.
Übertreibungen in Medien und Wissenschaft
Mit Sicherheit lässt sich indes sagen, dass die Zahlen zur Verbreitung sowohl in den Medien als auch in einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen regelmäßig übertrieben dargestellt wurden (Partridge et al., 2011; Quednow, 2010a; Schleim, 2010).
Beispielsweise wurde schon am Anfang der Diskussion immer wieder eine Studie zitiert, der zufolge 16% der Studierenden Gehirndoping/Neuroenhancement betreiben würden (Babcock & Byrne, 2000). Abgesehen von der niedrigen Qualität der nicht-repräsentativen Befragung, wurde darin ausdrücklich nicht nach einer geistigen Leistungssteigerung gefragt, sondern nach der Verwendung verschiedener Drogen/Medikamente "zum Spaß".
Ein anderer Trick bestand im Verweis auf eine an sich sehr gute, landesweit angelegte Studie an verschiedenen Colleges in den USA mit einer großen Teilnehmerzahl (N = 10.904; McCabe et al., 2005). Unter den 119 untersuchten Bildungseinrichtungen fand sich eine einzige, an der 25% der Studierenden die Frage, ob sie im letzten Jahr mindestens einmal nichtmedizinisch verschreibungspflichtige Stimulanzien konsumiert hätten, mit "ja" beantwortet hatten. Im Vergleich dazu lag der Wert an ganzen 21 Colleges bei 0%. Der Mittelwert aller Befragten betrug 4,1% (für Konsum im letzten Monat übrigens nur 2,1%).
Dennoch berichteten führende Medien und auch führende Persönlichkeiten aus der Forschung immer wieder die 25%, als ob das für alle (amerikanischen) Studierenden gälte. Das ist eine grobe Verzerrung der wissenschaftlichen Evidenzen. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass auch diese Studie nicht speziell das Gehirndoping/Neuroenhancement untersuchte, sondern den breiter gefassten "nichtmedizinischen Konsum". Und damit habe ich nur zwei frappierende Beispiele dafür aufgeführt, wie das Phänomen zu einem dringenden Problem aufgebauscht wurde und immer noch wird.
Die Medien haben freilich ein Interesse an viel Aufmerksamkeit. Aber auch Forscherinnen und Forscher befinden sich in einem Wettbewerb um Forschungsmittel. Wer seine Adressaten davon überzeugen kann, dass sein Problem dringend und gesellschaftlich relevant ist, hat einen Vorsprung vor der Konkurrenz. Dieses strategische Vorgehen birgt meines Erachtens aber das Risiko, dass die Bevölkerung der Wissenschaft nicht mehr glaubt, wenn es um wirklich wichtige Themen geht (man denke an Klimawandel oder Infektionskrankheiten).
Um welche Substanzen/Mittel geht es eigentlich?
Der Fantasie sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, welche Substanzen oder Mittel die geistige Leistungsfähigkeit steigern könnten. Neben vorläufigen Versuchen mit elektrischen bzw. magnetischen Gehirnstimulationsverfahren wie der transcraniellen Gleichstromstimulation (TDCS) oder transcraniellen Magnetstimulation (TMS) und möglichen Anti-Demenz-Mitteln hat sich die Forschung im Wesentlichen auf die Psychostimulanzien Amphetamin ("Speed"), Methylphenidat ("Ritalin") und das zur Behandlung bestimmter Schlafstörungen verschriebene Modafinil ("Vigil") konzentriert.
Diese Mittel haben Einfluss auf die Verfügbarkeit von Botenstoffen wie Dopamin und Noradrenalin im Gehirn, wobei die Wirkmechanismen - vor allem von Modafinil - noch nicht vollständig verstanden sind. Übrigens wird Amphetamin seit über 100 Jahren, Methylphenidat seit den 1940ern und Modafinil seit den 1970ern erforscht. Alle drei Substanzen stehen im Verdacht, Sucht- und Missbrauchspotenzial zu besitzen und sind darum speziell reguliert, Modafinil allerdings in geringerem Maße als die anderen beiden.
Zu den wissenschaftlichen Studien mit gesunden Versuchspersonen lässt sich allgemein sagen, dass die Gruppengröße oft sehr klein und die Testaufgaben meist eher weltfremd sind, was die Aussagekraft der Ergebnisse schmälert. Zudem sind die Effekte sehr stark von der jeweiligen Dosierung und individuellen Gesundheitsfaktoren abhängig.
Schach spielen für die Wissenschaft
Eine nach meinem Dafürhalten besonders aussagekräftige Studie untersuchte 39 gesunde und männliche Schachspieler im Alter von im Mittel 37,3 Jahren (Franke et al., 2017). Diese sollten an verschiedenen Tagen nach der Gabe von Methylphenidat ("Ritalin"), Modafinil, Koffein oder einem Placebo mehrere Partien gegen einen Schachcomputer spielen, der an das Niveau des jeweiligen Spielers angepasst war. Wichtig ist das Detail, dass die Spielzeit für die Versuchspersonen auf 15 Minuten pro Partie begrenzt war.
Im Ergebnis erzielten die Schachspieler im Mittel 6,3% (Methylphenidat) bis 8,2% (Modafinil) mehr Punkte pro Partie im Vergleich zum Placebo. (Es galt: Verlust = 0, Unentschieden = 0,5 und Gewinn = 1 Punkt.) Diese Unterschiede erreichten allerdings nicht die statistische Signifikanzschwelle. Die Ergebnisse unter Koffein und Methylphenidat ("Ritalin") unterschieden sich so gut wie nicht. Verglichen mit Koffein erzielten die Schachspieler unter Einfluss von Modafinil im Mittel 1,7% mehr Punkte. Auch dieser Unterschied war nicht statistisch signifikant.
Interessant ist, dass sich die Schachspieler unter Einfluss der Wirkstoffe mehr Zeit pro Partie nahmen und damit häufiger wegen Erreichen des Zeitlimits verloren. Sie schafften dann auch 2,1% (Modafinil) bis 2,8% (Methylphenidat) weniger Partien im Vergleich zum Placebo. Die Forscher spekulierten, dass die Versuchspersonen nach Gabe der Wirkstoffe ohne die zeitliche Begrenzung mehr Punkte erzielt hätten. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung der Rahmenbedingungen solcher Versuche.
In der Fachdiskussion wird vermutet, dass die Psychostimulanzien vor allem die Wachheit, Erregung und Motivation der Konsumenten erhöhen und nicht direkt die Intelligenz oder Kreativität (Quednow, 2010b). Die Personen fühlen sich unter Einfluss dieser Mittel also vielleicht schlicht motivierter oder mehr "bei der Sache", um bestimmte - oft auch eher eintönige - Aufgaben zu bewältigen.
Die Studie mit den Schachspielern habe ich hier hervorgehoben, da diese ein vergleichsweise realistisches Szenario untersuchte. In aller Regel verwenden solche Experimente neuropsychologische Tests, die primär entwickelt wurden, um kognitive Defizite psychologisch-psychiatrischer Patientinnen und Patienten zu untersuchen. Bei der Übertragung solcher Testergebnisse in die Lebenswelt gesunder Menschen droht daher ein "klinischer Fehlschluss" (Schleim, 2014). Bloß weil man bei einem solchen Test am Computer ein paar zusätzliche Punkte erzielt, ist man nicht automatisch schlauer oder effizienter beim Arbeiten oder im Studium. Auch nach mehr als 20 Jahren Forschung gibt es hierauf leider keine schlüssige Antwort.
Dennoch will ich den Nutzen der Substanzen nicht gänzlich abstreiten. Bei sehr hohem Wettbewerbsdruck können nämlich auch kleine Unterschiede ausschlaggebend sein, die in solchen Studien nicht die Signifikanzschwelle erreichen. Denken wir etwa an ein Schachturnier, bei dem im Prinzip gleichstarke Spieler aufeinandertreffen. Dann können 1,7% Leistungssteigerung (hier bei Modafinil im Vergleich zu Koffein) entscheiden, wer gewinnt. Bei ungünstigen Rahmenbedingungen, wie dem genannten Zeitlimit, könnte sich ein Wirkstoff aber auch als nachteilig erweisen.
Für die allermeisten Menschen dürfte der ohnehin nur potenzielle und geringe Mehrwert das Risiko von Nebenwirkungen nicht aufwiegen. Diese können im Einzelfall erheblich sein, insbesondere beim Vorliegen von Vorerkrankungen (etwa einer womöglich auch unerkannten Herz-Kreislauferkrankung). Wer den Konsum solcher Mittel erwägt, sollte sich besser erst gesundheitlich beraten lassen.
Fazit zur Wirkungsweise
Die in der Forschung bisher im Wesentlichen untersuchten Substanzen zum Gehirndoping/Neuroenhancement sind auf jeden Fall keine Wundermittel. In vielen Situationen dürfte ein ähnlicher Effekt bereits mit dem frei verfügbaren Koffein erreichbar sein. In einer neuen Meta-Analyse haben Forscherinnen und Forscher 47 Einzelstudien zu den Effekten von Amphetamin ("Speed"), Methylphenidat ("Ritalin") und Modafinil auf gesunde Menschen ausgewertet (Roberts et al., 2020). Sie kommen zum folgenden Ergebnis:
Methylphenidat hat von den drei untersuchten Stimulanzien die stärksten Effekte auf das Denken. Die positiven Effekte sind allerdings klein bis moderat und beschränken sich auf das Erinnern, die Hemmungskontrolle und das Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit. […] Amphetamin führt zu keinen Verbesserungen des Denkens und kann wahrscheinlich für die zukünftige Erforschung der sicheren und wirksamen geistigen Leistungssteigerung ausgeschlossen werden. Die Daten für diese Stimulanzien sind bei weitem nicht positiv, wenn wir bedenken, dass die Effekte klein und wahrscheinlich vorübergehend sind, und zwar in Experimenten, die der tatsächlichen Verwendung in der allgemeinen Bevölkerung nicht gut entsprechen.
Roberts et al., 2020, S. 20-21; dt. Übers. S. Schleim
Die Forscherinnen und Forscher weisen auch auf das Risiko von Nebenwirkungen hin, insbesondere bei einer Überdosierung. Dann könne es zu Aufregung, Kopfschmerzen, Schlafproblemen, Zittern, Halluzinationen, Paranoia, Anfällen oder Herz-Kreislaufproblemen kommen.
Abschließend möchte ich auf eine Studie hinweisen, in der pharmakologische mit nicht-pharmakologischen Mitteln zur geistigen Leistungssteigerung verglichen wurden (Caviola & Faber, 2015). Letztere sind computergestütztes Lernen, Schlaf und Sport. Das Fazit lautet:
Wir denken, dass alle der beschriebenen Techniken signifikante vorteilhafte Effekte auf die geistige Leistung haben können. Die Effektgrößen sind jedoch moderat und hängen üblicherweise von individuellen Faktoren und der Situation ab sowie von der psychischen Fähigkeit, um die es geht. […] Wir können schlussfolgern, dass pharmakologisches kognitives Enhancement nicht effektiver ist als nichpharmakologisches kognitives Enhancement.
Caviola & Faber, 2015, S. 1; dt. Übers. S. Schleim
Das heißt, dass sich die ohnehin eher bescheidenen Effekte, die sich vielleicht mit den Substanzen erzielen lassen, wahrscheinlich auch mit nichtpharmakologischen Mitteln erreichen lassen.
Instrumenteller Substanzkonsum
Forscherinnen und Forscher sollten daher aufhören, vom Gehirndoping/Neuroenhancement zu sprechen: Es war und ist kein Massenphänomen, es gab im 21. Jahrhundert wahrscheinlich keinen nennenswerten Anstieg und die Effektivität der Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung ist fraglich (Schleim, 2020a). Die falsche bzw. verfälschende Darstellung in einschlägigen Fachpublikation sowie das Ignorieren älterer Befunde aus den 1960er bis 1980er Jahren stellt zudem die Seriosität der ganzen Debatte infrage.
Zwar gab und gibt es seit Jahrzehnten einen dramatischen Anstieg beim Konsum von Psychostimulanzien wie Amphetamin ("Speed") und Methylphenidat ("Ritalin"). Dieser bezieht sich jedoch auf die medizinische Verwendung, die sowohl von der Definition von Gehirndoping/Neuroenhancement als auch den genannten Studien zur Verbreitung ausgeschlossen ist. Inwiefern neue Störungsbilder wie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), die noch vor ein paar Jahrzehnten kaum jemand kannte, die massenweise Verschreibung rechtfertigen, ist eine Diskussion für sich (Davis, 2020; Schleim 2018a, 2020b).
Was bleibt, ist das Phänomen, dass Menschen (und wohl sogar manche Tierarten) Substanzen verwenden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Christian P. Müller, Professor für Suchtmedizin an der Universitätsklinik Erlangen, spricht daher vom "instrumentellen Substanz- bzw. Drogenkonsum" und unterscheidet neun Zwecke (Müller, 2020; Müller & Schumann, 2011), nämlich: (1) Verbesserung sozialer Interaktionen; (2) erleichtertes Sexualverhalten; (3) Verbesserung kognitiver Leistungen beziehungsweise Verringerung von Ermüdung; (4) Verbesserung der Erholung beziehungsweise der Verarbeitung von Stress; (5) Selbstmedikation psychischer Störungen; (6) Bewusstseinserweiterung; (7) Erleben eines High-Gefühls beziehungsweise Euphorie; (8) Verbesserung der physischen Attraktivität; und schließlich (9) die Verbesserung spiritueller beziehungsweise religiöser Erfahrungen.
Ich denke, diese ließen sich noch einmal auf vier grundlegende Bedürfnisse reduzieren, nämlich: (1) psychische Aktivierung/Steigerung; (2) psychische Dämpfung/Entspannung; (3) neue Erfahrungen; und (4) Körperformung. Zur Befriedigung dieser Bedürfnisse greifen Menschen zu ganz unterschiedlichen Mitteln - und manche eben zu Substanzen wie Drogen/Medikamenten.
Substanzen und Werte
Der US-amerikanische Psychiater Gerald L. Klerman (1928-1992), Professor an der Harvard-Universität und später Leiter eines wichtigen Drogenpräventionsprogramms unter Präsident Jimmy Carter, schlug hierfür hilfreiche Bezeichnungen vor: "psychotroper Hedonismus" gegenüber "pharmakologischem Calvinismus" (Klerman, 1970, 1972). In Letzterem drücke sich die protestantische Arbeitsethik aus, kurz gesagt: "Ohne Fleiß keinen Preis." In psychotropem Hedonismus äußere sich demgegenüber eine Jetzt-Orientierung: "Warum warten, wenn ich - zur Not mit pharmakologischen Mitteln - meine Bedürfnisse und Ziele jetzt erreichen kann?"
Der renommierte amerikanische Medizinethiker Robert Veatch, heute emeritierter Professor an der Georgetown-Universität in Washington D.C. und Forscher am Kennedy Institute of Ethics, kritisierte damals allerdings Klermans Darstellung als zu einfach (Veatch, 1977). In Anlehnung an Max Webers Analyse der protestantischen Arbeitsmoral (Weber, 1905) kommt er zum Ergebnis, dass Substanzkonsum zur Effizienzsteigerung aus protestantischer Sicht zulässig wäre. Strikt dagegen wären vor allem Vertreter einer Ethik, die sich auf die "Weisheit der Natur" bezieht und künstliche Eingriffe in den Körper kritisch sieht.
Klermanns psychotropem Hedonismus entspricht am ehesten Veachs so genannte "Proteanische Ethik". Diese ist nach dem griechischen Wassergott Proteus benannt, der seine Form ändern konnte. Substanzen werden demnach zum immerwährenden Wandel und zur Anpassung an äußere Anforderungen verwendet. Vertreter dieser Ethik bestreiten die Existenz eines festen Wesenskerns des Menschen. Diese Gedanken aus den 1970ern scheinen heute wie Vorboten von Globalisierung, Wettbewerbsdruck und lebenslangem Lernen.
Klerman und Veatch waren sich aber darin einig, dass sich im Umgang mit Substanzen gesellschaftliche Werte ausdrücken. Werte, die laut Klerman verschiedene gesellschaftliche Gruppen spalten, nämlich Ältere und Jüngere, besser und schlechter Ausgebildete, Ärmere und Reichere, Gruppen mit unterschiedlichem religiösen oder kulturellen Hintergrund (Klerman, 1970). Dabei bemängelte der Psychiater, dass uns ein passendes Wort für den nichtmedizinischen Substanzkonsum fehle:
In unserer Gesellschaft gibt es keine passende Bezeichnung für die Verwendung von Substanzen [im englischen Original: drugs; Anm. S. Schleim], um Genuss oder Leistung zu steigern. […] Die Tatsache, dass wir keine etablierte Nomenklatur für den nicht-therapeutischen Substanzkonsum haben, zeigt für sich schon einen gesellschaftlichen Konflikt an.
Klerman, 1970, S. 316; dt. Übers. S. Schleim
Drogen und Medikamente
Diese Lücke könnte "instrumenteller Substanzkonsum" füllen. Dabei sollte man bedenken, dass die Unterscheidung von Drogen und Medikamenten auf Konventionen beruht (Schleim, 2018b). Als beispielsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal Coca-Blätter nach Europa gebracht wurden, interessierten sich viele Ärzte für die Pflanzenbestandteile, aus denen Kokain gewonnen wird. So gab der Pharmakologe und Militärarzt Theodor Aschenbrandt 1883 bei einem militärischen Manöver Soldaten - übrigens ohne sie darüber zu informieren - "Kokain-Wein" und stellte anschließend deren gesteigerte Fähigkeit fest, mit Hunger, körperlicher Belastung und Müdigkeit umzugehen (Holmstedt & Fredga, 1981).
Dies inspirierte den damals in Wien noch als Arzt tätigen jungen Sigmund Freud (1856-1939) zu eigenen Kokain-Versuchen (Freud, 1884). Sein Vorschlag, mit dem neuen Mittel Opiumsucht zu behandeln, wurde für ihn aber ein öffentliches Desaster: Manche Patienten waren anschließend Opium- und Kokainabhängig, sein Ruf schwer geschädigt. Doch Freuds Kollege, der Augenarzt Carl Koller (1857-1944), schrieb dank der Substanz Medizingeschichte, da ihm dessen betäubende Wirkung aufgefallen war (Bernfeld, 1953). Das erste lokale Anästhetikum war entdeckt und einst gefürchtete Augenoperationen konnten - mit Kokain! - für die Patienten angenehmer durchgeführt werden.
Inzwischen gibt es bessere Betäubungsmittel. Kokain wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts, zusammen mit zahlreichen anderen Substanzen, dämonisiert und im Zuge mehrerer internationaler Verträge verboten. Federführend waren hier die USA mit ihrer puritanischen Moral und - ab den 1970ern unter dem konservativen Präsidenten Richard Nixon - dem "War on Drugs".
Nun verdienen Drogenkartelle daran Milliarden und verbreiten Angst und Schrecken, während eingeborene Gruppen Südamerikas weiterhin Coca-Blätter im Alltag verwenden; instrumentell, könnte man sagen. Wie Müller und andere Forscher anmerken, würde aber nur eine Minderheit der Konsumenten abhängig (Müller, 2020; Müller & Schumann, 2011).
Eine gesellschaftliche Perspektive
Wer Drogen und Medikamente strikt trennt, tut dies wahrscheinlich aufgrund einer Werthaltung: Substanzkonsum ist schlecht, sofern damit nicht ein medizinisches Leiden gelindert wird. Allerdings konfrontiert uns diese Unterscheidung mit einer Doppelmoral unserer Gesellschaft.
Einerseits wird mit Alkohol und Tabak liberal umgegangen und werden durch die zunehmenden Diagnosen diffus definierter psychischer Störungen - führende Epidemiologen halten inzwischen schon fast die Hälfte unserer Gesellschaft für "psychisch gestört" (Wittchen et al., 2011) - psychopharmakologische Medikamentenverschreibungen immer normaler. Beispielsweise seien hier Kinder und Jugendliche erwähnt, die Amphetamin ("Speed") oder Methylphenidat ("Ritalin") verschrieben bekommen, um besser in der Schule oder im Studium zu funktionieren. Besorgen sich Personen aber andererseits dieselben Mittel auf eigene Faust, aus denselben Gründen oder um mehr Spaß beim Feiern zu haben, begehen sie eine Straftat (Schleim, 2018b).
Es sei daran erinnert, dass die heutigen "Volkskrankheiten" ADHS, Depressionen oder soziale Phobie noch vor wenigen Jahrzehnten sehr selten diagnostiziert wurden: Depressionen waren kaum bekannt, bevor sie in den 1960ern und 1970ern umdefiniert wurden; soziale Phobie kannte vor Ende der 1990er kaum jemand (Davis, 2020). Die Bezeichnung "ADHS" wurde überhaupt erst 1987 formalisiert und das Störungsbild wird erst seit den 1990ern verstärkt diagnostiziert (Schleim, 2018a). Es ist heute üblicher geworden, Abweichungen von der sozialen Norm und Härten des Lebens als biochemisches Problem im Gehirn zu deuten (Davis, 2020). Dann ist es naheliegend, diese vermehrt mit Substanzen zu behandeln.
Der Konsum von Antidepressiva und Stimulanzien, von Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln hat so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Dabei werden auch Menschen abhängig, die diese Mittel auf Rezept erhalten. Zusammen mit dem, was wir heute noch "Drogenmissbrauch" oder schlicht Alkohol- und Zigarettenkonsum nennen, setzen viele auf Substanzen, um ihr Leben zu bewältigen und ihre Ziele zu erreichen. Eine übergreifende Bezeichnung hierfür wäre "instrumenteller Substanzkonsum". Das würde auch wissenschaftlichen Initiativen entgegenkommen, die sich für eine vernünftigere und vor allem konsistentere Drogenpolitik einsetzen (z.B. Nutt et al., 2010).
Die Rede vom "Gehirndoping" oder "Neuroenhancement" hingegen hat keinen Mehrwert. Weder ist das Phänomen neu in den frühen 2000ern entstanden, wie es Vertreterinnen und Vertreter der "Neuroethik" oft behaupten, noch sind die Mittel "Intelligenzpillen". Passend zu Forschungsergebnissen zu den Motiven des Konsums sind es vielmehr Motivations- und Durchhaltepillen (Faraone et al., 2020; Quednow, 2010b; Vrecko, 2013). Zur Erforschung der sozialen Ursachen empfehle ich das heute allgegenwärtige Erfolgs-, Leistungs- und Optimierungsdenken stärker in den Fokus zu nehmen.
Häufig gestellte Fragen
Wo fängt Neuroenhancement eigentlich an? Ist Schokolade essen oder Kaffee trinken dann nicht auch schon Enhancement?
Warum ist die Antwort hierauf wichtig? Ich plädiere ja erst einmal dafür, besser vom instrumentellen Substanzkonsum als vom Gehirndoping/Neuroenhancement zu sprechen. Gemäß den neun Kategorien Prof. Müllers oder den von mir unterschiedenen vier Bedürfnissen fällt in der Tat sehr viel unter instrumentellen Konsum.
Darin sehe ich aber erst einmal einen Vorteil: Es geht dann nämlich nicht mehr um einen prinzipiellen, sondern einen fließenden Unterschied. Mit Blick darauf, dass viele Menschen (und wohl sogar manche Tiere) Substanzen instrumentell verwenden, vermeiden wir so eine Stigmatisierung oder gar Kriminalisierung gewöhnlichen Verhaltens.
Wenn Sie sich dennoch daran stören, womöglich selbst Gehirndoping/Neuroenhancement bzw. instrumentellen Konsum zu betreiben, dann können Sie sich fragen, an welchen Ihrer Werte das liegt. Wie verhalten Sie sich beispielsweise zu den Werten, die von den Professoren Klerman oder Veatch beschrieben wurden? Woher stammen Ihre Überzeugungen?
Ist instrumenteller Substanzkonsum dann gar kein ethisches Problem?
Im liberalen Rechtsstaat haben wir uns (unter anderem) auf zwei grundlegende Dinge geeinigt: Erstens ist erlaubt, was nicht explizit verboten ist. Zweitens endet die eigene Freiheit an der Freiheit der Anderen.
Gleichzeitig liegt aber das Risiko von Gruppenzwang und sozialem Anpassungsdruck auf der Hand: Wenn in einem Bereich zum Beispiel so viele Konkurrentinnen und Konkurrenten Stimulanzien wie Amphetamin ("Speed") verwenden, dass das von einem selbst auch verlangt wird, ist das ein Problem. Damit riskiert man nämlich nicht nur Nebenwirkungen und Sucht, sondern übertritt man auch das Gesetz (sofern man keinen Arzt findet, der einem dieses oder ähnliche Mittel verschreibt). Manche (mich eingeschlossen) dürften das auch als Eingriff in die persönliche Integrität erfahren.
In erster Linie sehe ich die politischen Parteien, aber auch die Gewerkschaften, Arbeits- und Sozialmedizin in der Verantwortung, für gesunde Lern- und Arbeitsbedingungen zu sorgen, die den Leistungsdruck in Grenzen halten. Schon bei einer früheren Amphetamin-Epidemie in den USA war der Druck zum Beispiel auf Fernfahrer sehr hoch, pro Tag immer längere Fahrten abzulegen und Müdigkeit mit Stimulanzien zu unterdrücken (Rasmussen, 2008). Das dürfte auf Dauer wohl weder für die Fernfahrer, noch für die Verkehrssicherheit gut gewesen sein.
Dass heute häufig von Burn-Out gesprochen wird und immer mehr Menschen wegen psychischer Probleme in Vorruhestand gehen, hat wohl seine Gründe. Psychologisch-soziologische Studien sind hier wichtig (z.B. Neckel & Wagner, 2013), um auf deren Grundlage eine gesunde Arbeits- und Lebenswelt zu erhalten oder, wo nötig, wiederherzustellen. Niemand sollte gezwungen oder auch nur genötigt werden, Substanzen instrumentell zu verwenden, um sein Leben zu verwirklichen.
Welche Auswirkungen hat Ihre Sichtweise auf die Drogenpolitik? Sollten Ihrer Meinung nach alle Drogen legalisiert werden?
Ich war und bin selbst eher zurückhaltend beim Substanzkonsum: Ich sehe die Mittel - einschließlich Medikamente - als letzten Ausweg, wenn nichts Anderes hilft. Ich habe auch im Bekanntenkreis mitangesehen, dass bestimmte Substanzen (vor allem Alkohol und Tabak) Menschen nicht guttun können. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen sich seit vielen Jahren für eine rationalere und konsistentere Drogenpolitik ein (Nutt et al. 2010).
Die Drogenpolitik ist stark in Traditionen und Vorurteilen verwurzelt. Das konservative Lager verwendete das Substanzverbot zudem oft zur Unterdrückung von Randgruppen: Man wollte in der Vergangenheit Afroamerikaner, Hippies oder Arbeitsmigranten aus China und Südamerika ("Hispanos") nicht mehr im Land haben beziehungsweise lehnte deren Wertesystem ab? Also kriminalisierte man Substanzen, die bei diesen Gruppen beliebt waren (etwa Haschisch, Opium und LSD). Unter Führung der USA schlossen sich im 20. Jahrhundert viele Länder der Verbotspolitik an.
Besonders perfide Züge nimmt das bei der Unterdrückung armer Menschen an: Diese konsumieren vielleicht schlicht verbotene Substanzen, um die Erfahrung sozialer Ausgrenzung besser zu ertragen. Wenn sie dann von der Polizei ertappt werden, drohen harte Strafen, die sie noch weiter in die Existenznot treiben. Es entsteht ein Teufelskreis. Von der Mehrheitsgesellschaft werden sie dann schnell als "Asoziale", "Junkies" und so weiter abgestempelt und weiter ausgegrenzt, obwohl sie für ihre benachteiligte Ausgangslage oft gar nichts können.
Noch im 19. Jahrhundert waren Staaten die größten "Drogendealer", man denke zum Beispiel an die Opiumkriege der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich gegen China. Die heutige Drogenpolitik steckt voller Widersprüche. Ich denke nicht, dass eine radikale Legalisierung alle Probleme löst. Ein liberalerer Ansatz würde aber wahrscheinlich viel unnötiges Leid und unnötige Kriminalität verringern.
Man sollte auch bedenken, dass Verbote und Strafen das schärfste Schwert des Rechtsstaats sind. Das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit erfordert aber die Wahl des mildesten wirksamen Mittels.
Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der an Gehirndoping/Neuroenhancement interessiert ist?
Durch meine Analyse sollte deutlich geworden sein, dass man von den Mitteln keine Wunder erwarten darf. Für mich ist es ein wichtiges Kriterium, ob man mit dem instrumentellen Substanzkonsum eine kurzzeitige Phase von Stress beziehungsweise Motivation- und Lustlosigkeit überwinden will oder ob es um einen permanenten Konsum geht.
Im letzteren Fall würde ich überlegen, ob die Situation zu einem passt: Ist das Studium oder der Arbeitsplatz wirklich das Richtige für jemanden, wenn man es dort nur mit Substanzkonsum aushält? Geht es eher um das allgemeine Funktionieren im Leben, dann sollte man einen Termin beim Coach, Psychotherapeuten oder Psychiater erwägen.
Manche (mich eingeschlossen) denken, dass man alles alleine lösen müsste. Das kann natürlich für ein hohes Maß an Selbstständigkeit sprechen. Wenn einem an der Lösung eines aktuellen Problems liegt, dann sollte man aber auch nach effektiveren Möglichkeiten Ausschau halten. Und dabei können einem Andere (auch Freunde oder in der Familie) Möglichkeiten aufzeigen, auf die man selbst nicht so schnell kommt.
Würde sich Ihre Beurteilung ändern, wenn wirksamere Mittel verfügbar wären?
Menschen verwenden Substanzen zum Erreichen bestimmter Ziele. Die oben erwähnte Ethik der "Weisheit der Natur" scheint unnatürliche Eingriffe erst einmal abzulehnen. Doch was ist eigentlich noch "natürlich"? Und was, wenn es um in der Natur vorkommende Substanzen geht? Oder um therapeutische Eingriffe zur Behandlung einer Krankheit?
Ich halte es für schwierig, ein prinzipielles Gegenargument zu entwickeln, das für alle gilt (während ich mir vielleicht selbst ein Glas Wein einschenke, um mich besser zu entspannen). Wichtig scheint mir, wer die Ziele definiert. Heute leben wir in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft. Viele Menschen leiden unter dem Optimierungsdruck. Manche verinnerlichen diesen vielleicht so sehr, dass ihnen nicht mehr auffällt, wie er ihnen gesellschaftlich auferlegt wird.
Wenn man Optimierung mit Substanzen betreibt, sehe ich aber zwei prinzipielle Einwände, selbst dann, wenn diese keine Nebenwirkungen haben (was eine sehr unrealistische Annahme ist). Hierüber schrieb ich schon früher (Schleim, 2011). Erstens stellt sich auf der optimierten Ebene wieder die Frage nach der Optimierung: Wenn man mit 100% Leistungsniveau unzufrieden ist, warum sollte man mit 110% plötzlich zufrieden sein und nicht wieder 10% mehr haben wollen?
Zweitens trifft man diese Entscheidung nicht im isolierten Raum, sondern im Wettbewerb mit Anderen. Diese würden gemäß dem Optimierungsdenken natürlich auch Substanzen verwenden, um ihre Ziele zu erreichen. Entweder verwenden dann viele die Mittel und geht der individuelle Vorteil verloren - oder man hindert die Anderen daran, zum Beispiel durch hohe Preise, und verringert so die Chancengleichheit.
Der erste Gedanke zeigt, dass man durch Gehirndoping/Neuroenhancement wahrscheinlich nicht glücklicher wird. Im Übrigen ist das auch ein Kennzeichen der protestantischen Arbeitsethik und des Kapitalismus, dass das erreichte Niveau nie genug ist (Weber, 1905). Der zweite Gedanke legt nahe, dass es entweder auf ein Nullsummenspiel hinausläuft oder auf eine noch ungerechtere Welt.
Gegen den Punkt mit dem Nullsummenspiel wird manchmal eingewendet, dass das zwar aus individueller Sicht im Vergleich zu anderen gelten würde, die Menschheit als Ganze aber auf einem höheren Niveau ankäme. Das ist ein sehr idealistisches Argument und blendet aus, dass wir auch ohne Substanzen immer klüger und effizienter werden - und doch (oder gerade deshalb) immer mehr Ressourcen verbrauchen und die Natur immer weiter zerstören.
Viele Missstände sind menschengemacht und ihre Ursachen könnten ebenso von Menschenhand beseitigt werden. Dass sich das durch neue Pillen oder Gehirnstimulation auf einmal ändern würde, ist angesichts der technologischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte völlig unplausibel. Selbstreflexion, ethisches Handeln und ethische Institutionen scheinen mir der einzige Ausweg aus dem Dilemma zu sein.
Hierzu kann man die Menschen aber nicht zwingen. Ich versuche aber, sie mit Argumenten zu überzeugen. Das sind meine Mittel als Philosoph und Wissenschaftler.
Wer betreibt eigentlich Neuroenhancement/Gehirndoping?
Wie beschrieben, definieren die Studien zur Verbreitung das untersuchte Phänomen sehr unterschiedlich. Zum nichtmedizinischen Konsum von Stimulanzien lässt sich aber sagen: Die meisten Personen sind männlichen Geschlechts, 18 bis 25 Jahre alt, und haben mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechte Noten, traumatische Kindheitserfahrungen und konsumieren ebenfalls Alkohol sowie andere Drogen (Faraone et al., 2020).
Was wäre Ihrer Meinung nach das schlimmste Szenario beim Neuroenhancement/Gehirndoping?
Stellen wir uns einmal vor, der Trend würde sich durchsetzen: Immer mehr Menschen würden immer mehr Substanzen konsumieren, um ihre geistige Leistungsfähigkeit zu steigern. So würde der Druck auf andere Personen zunehmen, es auch zu tun. Nach einer kurzen Zeit, in der die Vorreiter des Gehirndopings einen Vorsprung hätten, würde sich die Leistung aller wahrscheinlich wieder angleichen. Das heißt, man hätte mehr oder weniger dieselbe Situation, nur würden viele Menschen jetzt Zeit und Geld ins Neuroenhancement investieren und ein Gesundheitsrisiko in Kauf nehmen.
Dann würden die Vorreiter wahrscheinlich zu neueren, weniger erprobteren und riskanteren Mitteln greifen. Schließlich wollten sie sich ja von den Anderen absetzen. Und das Spiel würde wieder von vorne anfangen. Es käme zu einer Art "Wettrüsten". Im Sport hat es das übrigens schon gegeben - und Menschen sind dort sogar an Dopingmitteln gestorben, weil sie immer größere Risiken eingingen, um zu gewinnen. Tatsächlich wäre die Menschheit mit Neuroenhancement/Gehirndoping also in einem schlechteren Zustand, als wenn man damit erst gar nicht anfinge.
Unter welchen Umständen würden Sie zum Neuroenhancement/Gehirndoping greifen?
Ich kann mir aus heutiger Sicht keine Umstände vorstellen, unter denen ich es machen würde. Meiner Meinung nach braucht unsere Gesellschaft (und die Natur, die unter ihr leidet) nicht immer mehr Leistung, sondern mehr Besinnung und Entspannung. Genau deshalb bin ich Yogalehrer geworden.
Hinweis zum Interessenkonflikt: Von den im Text besprochenen Substanzen konsumiere ich nur Alkohol, Koffein und (bis 9. Juni 1999) Tabak.
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