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Experten aus Verhaltenswissenschaften und Psychiatrie schlagen neue Richtlinien zum Umgang mit ADHS vor und plädieren für eine veränderte Sichtweise
Bereits vor einigen Monaten haben Experten von der Uniklinik Leiden und der Universität Utrecht – darunter der Kinder- und Jugendpsychiater Branko van Hulst und die Professorin für Neurowissenschaften Sarah Durston – eine Namensänderung vorgeschlagen: Man solle "Störung" aus dem Wortungetüm Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) streichen. Warum?
Einerseits suggeriere das Wort "Störung", dass man die Ursachen kenne. Andererseits provoziere so eine sprachliche Kategorie Tautologien der Form: "Er ist impulsiv, denn er hat ADHS." Oder: "Sie ist wegen ihrer ADHS oft abgelenkt." Dabei ist es schlicht so: Experten nennen seit den 1980er-Jahren Probleme wie Impulsivität und Aufmerksamkeitsmangel ADHS.
Zum Vergleich: In der Wissenschaft formalisiert man Armut oft als "niedrigen sozioökonomischen Status" (englisch: SES). Arme Menschen haben also einen niedrigen SES. Wer jetzt sagt, "Sie sind arm wegen ihres niedrigen SES", produziert wieder eine Tautologie, die sich wie ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang anhört. Dabei wurde Armut schlicht so definiert:
Ein ernster und oft übersehener Nebeneffekt dieser Praxis ist jedoch, dass solche Namen implizit eine Kausalität nahelegen. Die Begriffe, die wir zur Klassifikation verwenden, beziehen sich auf Störungen, die Symptome verursachen. Diese Begriffe legen also nahe, dass wir die Ursachen der Probleme verstehen. Das ist aber nicht der Fall.
van Hulst, Werkhoven & Durston; Übers. d. A.
Individualisierung von Problemen
Außerdem, so die niederländischen Forscher, verorte die Kategorie ADHS das Problem im individuellen Kind. Das könne dazu führen, den Kontext zu übersehen, in dem dieses Kind aufwächst: beispielsweise in Armut, einer Scheidung oder mit Schlafproblemen.
Die gerade erschienenen Richtlinien eines niederländischen Gremiums mit über 20 beteiligten Personen, darunter Ärzte, Eltern, Lehrer und Wissenschaftler, gehen weiter in der Tiefe. Begleitet von vier Professorinnen und Professoren aus Genetik, Hirnforschung, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Pädagogik wurden Berichte über ADHS aus Wissenschaft und Medien kritisch überprüft.
Laura Batstra, die ich bereits interviewte, war eine von ihnen.
Laut den Fachleuten und Eltern, die sich seit 2018 zu Gesprächen trafen, geht in Berichten über ADHS vieles schief. Beispielsweise würden Ergebnisse aus Gruppenvergleichen auf einzelne Personen übertragen. Wenn die Gruppen stark überlappen, führt das aber zu einem statistischen Fehler.
Ergebnisse von Signifikanztests würden verabsolutiert; dabei prüften diese nur, dass die Resultate nicht zufällig sind. Und auch die Ergebnisse von genetischen oder neurowissenschaftlichen Studien würden oft missverständlich präsentiert. Aus der Zusammenfassung der Richtlinien:
ADHS ist eine Klassifikation, die Verhalten beschreibt. Die Verhaltensweisen, die zu dieser Klassifikation führen können, haben verschiedene Gründe und Ursachen. Wir nennen ADHS oft ein 'multifaktorielles' Problem, weil sowohl die Veranlagung als auch bestimmte Elemente aus der Umgebung - die sogenannten 'Faktoren' - auf viele Weisen miteinander zusammenhängen können. Dabei ist die Mischung dieser Faktoren für jeden mit diesen Verhaltensweisen anders.
Und spezifisch zur biomedizinischen Sichtweise auf ADHS fahren sie fort:
Obwohl in den letzten Jahrzehnten der biomedizinische Blick auf ADHS dominierte, nimmt die Aufmerksamkeit für Umgebungsfaktoren und auch die gesellschaftlichen Normen und Kontexte zu - warum finden wir bestimmte Verhaltensweisen störend? Dennoch ist die Aufklärung hierüber oft noch einseitig oder verwirrend.
Expertengremium, S. 3; Übers. d. A.
Auch dieses Gremium warnt davor, Definitionen mit Erklärungen zu verwechseln: "Wenn wir Konzentrationsprobleme, Hyperaktivität und Impulsivität ADHS nennen, haben wir die Verhaltensweisen aber noch nicht erklärt." Dennoch fänden sich in den Medien, Informationsmaterial für Patientinnen und Patienten sowie wissenschaftlichen Publikationen oft verwirrende Aussagen wie "ADHS beeinflusst Leistungen in der Schule und am Arbeitsplatz, das psychologische Funktionieren und soziale Fähigkeiten" oder "ADHS ist nie eine Entschuldigung für unangepasstes Verhalten, kann dafür aber eine Erklärung sein."