Nein, Ihr Kind ist nicht krank!

Seite 3: Falsches Menschenbild

Nein, das materialistisch-reduktionistische Menschenbild muss nun als hinreichend widerlegt angesehen werden. Die menschliche Subjektivität, individuelle und gesellschaftliche Probleme lassen sich in aller Regel nicht biologisch fassen, schon gar nicht molekularbiologisch. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprangen erst auf den Gen-, dann auf den Neurozug auf. Denn dort gab (und gibt) es ja das meiste Geld.

Im Hyperwettbewerb um die einflussreichen Stellen gibt das den Ausschlag: Wer die meisten Mittel einwerben, die teuersten Maschinen, das meiste Personal anstellen kann, der hat die längste Publikationsliste. Das diene angeblich der Bestenauslese; in Wirklichkeit führt es zu Opportunismus und Anpassung. Das zeigen die Forschungsdaten nun mehr als deutlich.

Dabei finden die wichtigsten Entscheidungen – wer den Zuschlag für Fördermittel, wer die begrenzten Publikationsplätze, wer die seltenen Professuren bekommt – hinter verschlossenen Türen statt. Sie sind meist nicht einmal hinterher öffentlich einsehbar. Würden Gerichte so arbeiten, dann nennen wir das wohl "Totalitarismus".

Umgang mit Kritikern

Bei alldem verdienen die Hersteller der teuren Maschinen und natürlich die pharmakologische Industrie Milliarden. Zu welcher Markt- und Lobbymacht das führt, können wir wahrscheinlich nicht einmal erahnen. Kritiker wie der angesehene Psychiatrieprofessor David Healy, die schon in den 1990ern auf die zweifelhaften Praktiken hinwiesen, bekamen Steine in den Weg gelegt.

Schließlich verklagte Healy die Universität Toronto (Kanada) – mit Erfolg. Diese hatte seine Berufung auf einen einflussreichen Lehrstuhl im letzten Moment zurückgezogen. Zuvor hatte der Psychiater auf Probleme mit dem Antidepressivum Prozac (Fluoxetin) hingewiesen, das vom Pharmariesen Eli Lilly vertrieben wird; und Eli Lilly ist wiederum Spender der Universität Toronto.

Noch viele Jahre später berichtete die hier erwähnte Laura Batstra von Einschüchterungsversuchen und Druck auf ihre Vorgesetzten an der Universität. Sie hatte es gewagt, das vorherrschende biologische Modell in der Psychiatrie und insbesondere die Medikamentenverschreibungen für ADHS zu kritisieren. Und darauf basieren eben die Karrieren führender Psychiater und die Profite einflussreicher Firmen.

Ich selbst bekomme in Reaktion auf meine Kritik selten guten Argumente – sondern hin und wieder schlechte Gutachten von Kollegen, die sich hinter ihrer Anonymität verstecken. Es ist aber Fakt, dass die neuen Berichte bestätigen, was ich seit Jahren schreibe: zum Beispiel 2016 über die politische Komponente der Individualisierung, 2017 über den Effekt der Einschulung auf ADHS-Problematik, der auch in Deutschland nachgewiesen ist, oder die auffälligen Missverständnisse zur Erblichkeit.

"Aber die Medikamente wirken doch!", rufen jetzt vielleicht ein paar Betroffene. Nun ja – bei ADHS geht es um Substanzen, die andere als Partydroge verwenden (z.B. Speed/Amphetamin). Ich kann mir vorstellen, dass damit langweilige Arbeiten interessanter erscheinen. Und ich esse auch mal ein Stück Schokolade oder trinke eine Tasse Kaffee, wenn ich keine Lust mehr habe.

Vergessen wir nicht, dass die Unterscheidung von Genussmitteln, Medikamenten und Drogen eine soziale Konvention ist.

Systemsicht

Man sollte aber auch dieses Problem nicht zu sehr individualisieren, sondern im Kontext und System betrachten: Dieses System erwartet von Medizinern, Therapeuten und Wissenschaftlern mit Karriereambitionen schier Unmögliches. Da kommt es zu "strategischen Anpassungserscheinungen".

Bevor man mit dem Finger auf andere zeigt, sollte man sich fragen, wie man sich selbst unter diesen Bedingungen verhalten würde.

Die gute Nachricht ist aber, dass diese Systemregeln von Menschen gemacht – und deshalb auch revidierbar sind. Weniger Märchen über Exzellenz und Bestenauslese; mehr feste und unabhängige Stellen in Forschung und Wissenschaft. Den letzteren Schritt haben die Niederlande gerade vollzogen. Wann folgt das große Nachbarland im Osten?

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog Menschen-Bilder des Autors.