Nein, Ihr Kind ist nicht krank!

Seite 2: Biologisches Modell in der Kritik

In zwei Kapiteln beschäftigen sich die Expertinnen und Experten insbesondere mit den Ergebnissen der Hirnforschung und Genetik. Bei Letzterer kritisieren sie beispielsweise die Verbreitung von hohen Erblichkeitsschätzungen wie "ADHS ist zu 50 bis 80 Prozent erblich". Diese würden nicht bedeuten, dass die Umgebung nur einen kleinen Einfluss auf das Verhalten habe. Zur Veranschaulichung formulieren sie ein Beispiel:

Stellen wir uns eine Bevölkerungsgruppe vor, der guter Leseunterricht angeboten wird. Dann werden die Unterschiede bei den Lesefähigkeiten, die es dann noch gibt, vor allem erblich bedingt sein. Und dann ist die Erblichkeitsschätzung der Lesefähigkeiten hoch. Das bedeutet aber nicht, dass der Leseunterricht keinen Effekt auf die Lesefähigkeiten hat. Im Gegenteil: Der Unterricht – also ein Umgebungsfaktor – hat sehr wohl Einfluss gehabt, wodurch die erblichen Faktoren eine größere Chance bekommen, sich auszudrücken.

Frei übersetzt; d. A.

Oder allgemeiner gesagt: Je gleichförmiger eine Umgebung, desto stärker sind die Unterschiede, die es dann noch gibt, erblich bedingt. Was auch sonst? Das ist es, was das so oft verbreitete Erblichkeitsmaß ausdrückt. Damit steht Erblichkeit aber gerade nicht im Gegensatz zu Umwelteinflüssen, wie es meist verstanden wird. Im Gegenteil ist die Erblichkeitsschätzung selbst ein Ausdruck von Umwelteinflüssen.

Das Gremium verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Überblicksarbeit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Anita Thapar von der Cardiff University im Vereinigten Königreich, die mit ihren Kollegen schrieb:

Schwierige soziale und familiäre Umstände wie niedrige Bildung der Eltern, soziale Klasse, Armut, Mobbing, schlechte Erziehung, Misshandlung und Zerwürfnisse in Familien hängen mit ADHS zusammen. Allerdings haben die verwendeten Studiendesigns bisher nicht zeigen können, dass dies die definitiven Ursachen von ADHS sind.

Thapar und Kollegen; Übersetzung d. A.

Der größte bekannte Faktor ist laut dem niederländischen Gremium aber das Alter bei der Einschulung. Über viele Länder hinweg sei inzwischen bestätigt, dass die jüngsten Kinder in Schulklassen mit höchster Wahrscheinlichkeit die Diagnose ADHS bekommen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür sei bis zu doppelt so hoch.

Konkrete Empfehlungen

Die Richtlinien beruhen auf Beispielen aus dem niederländischen und englischen Sprachraum. Aus eigener Erfahrung kann ich aber bestätigen, dass die Probleme im deutschsprachigen Raum ganz ähnlich sind. Daher sollte man auch hier die konkreten Empfehlungen der Eltern, Lehrer und Wissenschaftler einmal überdenken:

ADHS sollte nicht mehr als Störung oder Krankheit beschrieben werden, sondern als ein Problem. "Es gibt keine biologischen Tests für ADHS. Sie ist bis auf Weiteres nicht in den Gehirnen oder Genen von Individuen feststellbar…" Die Verhaltensweisen, die mit der Klassifikation ADHS beschrieben werden, kämen bei allen Kindern und Erwachsenen in kleinerem oder größerem Ausmaß vor.

Man solle auch besser nicht mehr von "Symptomen" oder "Diagnosen" sprechen, da diese Wörter wiederum auf Störungen oder Krankheiten deuten. Konsequenterweise seien die Menschen dann auch keine "Patienten", sondern allenfalls "Klienten". Der einseitigen Darstellung biologischer Faktoren solle man die wissenschaftlich belegten gesellschaftlichen Faktoren - insbesondere die Familien-, Kindergarten- und Schulsituation - entgegenstellen.

Mein Erklärungsversuch

Diese neuen Berichte über ADHS sind für mich selbst nur "Symptom" einer tieferen Krise von Psychologie und Psychiatrie auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite. Seit den 1980er-Jahren haben die Möglichkeiten der Lebenswissenschaften, vor allem wegen neuer Verfahren der Genetik und Bildgebung, enorm zugenommen.

Die 1990er wurden dann vom damaligen US-Präsidenten George H. W. Bush zur "Dekade des Gehirns" aufgerufen. Gleichzeitig startete das Humangenomprojekt. 2001 wurde dessen Erfolg gefeiert. Tatsächlich dauerte die Arbeit wohl noch 20 Jahre länger, bis in dieses Jahr. 2004 erschien das deutschsprachige Manifest führender Hirnforscher. Zurzeit läuft noch das Humangehirnprojekt.

Diese neuen Verfahren haben eines gemeinsam: Sie zielen alle aufs Individuum. Das passt hervorragend in die neue politische Leitkultur, die wir nun oft "Neoliberalismus" nennen: Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen (Margaret Thatcher). Jeder ist seines Glückes Schmied. Das macht aber nicht nur die Erfolge, sondern auch das Scheitern zur Frage individueller Verantwortlichkeit.

Die biologischen Verfahren – Gentests und Hirnscans – untersuchen individuelle Variabilität. Damit dekontextualisieren sie den Menschen: Geschichte, Familie, Umgebung und Institutionen verschwinden hinter den körperlichen Mustern. Dabei sind die Effekte, die die Lebenswissenschaften wirklich finden, in aller Regel äußerst klein.

Das hindert Wissenschaftler und Journalisten aber nicht daran, sie zu verabsolutieren. Alles sei biologisch erklär- und behandelbar. Falls jemand doch einmal kritisch nachfragt, bekommt man keine besseren Daten, sondern nur ein Versprechen: Den Rest werde man in zukünftiger Forschung schon finden. Das geht nun schon seit Jahrzehnten so.