"Die jungen Muslime heute holen sich die Informationen über ihren Glauben von Shaykh Google!"

Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe über islamisches Recht

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Alle sprechen zwar von Scharia und manchen Auswüchsen des islamischen Rechts wie den harten Strafen, der Diskriminierung der Frauen und den zahllosen Verhaltensvorschriften. Wirklich bekannt ist das vielfältige, uneinheitliche, durch viele Schulen gekennzeichnete islamische Recht hierzulande aber nicht. Prof. Dr. Mathias Rohe, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen-Nürnberg, gilt als einer der besten Kenner des islamischen Rechts in Deutschland. Mit seinem Buch Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart hat er eine umfassende Darstellung des islamischen Rechts vorgelegt.

Wenn die Menschen heute den Begriff Scharia hören, denken viele an drakonische Körperstrafen und ähnliches. Was genau ist Scharia? Ist Scharia das islamische Recht, oder muss man da differenzieren?

Mathias Rohe: Ich denke die Übersetzung als islamisches Recht ist verkürzt. Scharia ist mehr als das, jedenfalls nach dem Verständnis vieler Muslime, die einen weiten Begriff anlegen und die unter Scharia alle religiösen und rechtlichen Normen des Islam verstehen, einschließlich der Methoden, wie man sie zu interpretieren hat. Das wird ein sehr komplexes Gebäude. Das sind Dinge wie Vertragsrecht, wie Fasten, wie Bekenntnis zu dem einen Gott, dann aber auch Strafrecht und ähnliche Dinge mehr.

Es gibt ein engeres Verständnis, das sich mehr auf die problematischen Anteile konzentriert, wie wir sie in der traditionellen Scharia haben, wie etwa diese drakonischen Körperstrafen, wie Ungleichbehandlung der Geschlechter und ähnliche Dinge mehr, wie wir sie auch in der abendländischen Rechtskultur früher kannten.

Wie hat sich das islamische Recht herausgebildet? Auf welche Quellen basiert es?

Mathias Rohe: Über das erste Entstehungsjahrhundert wissen wir herzlich wenig. Erst so ab dem zweiten Jahrhundert bildet sich so allmählich eine strukturierte Rechtswissenschaft heraus. Die stützt sich dann natürlich vor allem erstmal auf den Koran, soweit da überhaupt rechtliche Dinge drinstehen. Das ist sehr wenig dort. Sie stützt sich zunehmend auch auf Überlieferungen des Propheten des Islam Muhammed, wobei da die große Schwierigkeit war und ist, die gefälschten von den echten zu unterscheiden. Die meisten sind nicht echt. Das weiß auch die muslimische Tradition. Daher hat sich hier eine ganze Reihe zusätzlicher Methoden entwickelt: Konsensbeschlüsse der Gelehrten, bei denen sehr fraglich ist, wie die gebildet werden oder wie lange die zu gelten haben, Analogieschlüsse und ähnliche Dinge. Also auch da ein ganz breites Repertoire. Dies hat sich im Wesentlichen im zehnten, elften Jahrhundert herausgebildet und sich dann bis ins 19. Jahrhundert hinein verfestigt, wo wir dann die ersten großen Reformen erleben.

Was für Auswirkungen hatten diese Reformbewegungen auf das islamische Recht?

Mathias Rohe: Es hat sich gründlich, wenn man so will, modernisiert. Viele Gelehrte haben das so empfunden, dass über die Jahrhunderte eine Erstarrung eingetreten ist, dass man dem eigenständigen freien Nachdenken und Interpretieren nicht mehr genügend Raum gelassen hatte, dass dieses eigenständige Interpretieren – das sogenannte Idschtihad – wieder mit neuem Leben erfüllt werden müsse. Und ganz konkret geht es dann sehr häufig um Reformen oder Neuinterpretationen im Sinne von Frauen, also um die Verbesserung von Frauenrechten, die von Kindesrechten und in einem gewissen Umfang auch die der Rechtsstellung von nichtmuslimischen Minderheiten und ähnliches.

Was für eine Relevanz hat das islamische Recht noch heute in der islamischen Welt?

Mathias Rohe: Das ist sehr unterschiedlich. Einige wenige mehrheitlich von Muslimen bewohnte Staaten haben das ganz abgeschafft, die Türkei schon seit über 80 Jahren, auch die Staaten des Balkan. Dann gibt es andere große muslimische Staaten, in denen es das islamische Recht nur in einzelnen Facetten gibt, wie Indonesien, Malaysia, Pakistan, Indien. In vielen Staaten der islamischen Welt haben sich Teile noch gehalten, vor allem im Bereich des Familienrechts, des Personenstandrechts oder des Erbrechts, in einigen wenigen Staaten aber auch diese drakonischen Körperstrafen, die natürlich ganz große Probleme machen.

Es existieren im Islam vier große Rechtsschulen. Sind diese noch vorhanden oder haben sie sich im Laufe der Modernisierung mehr oder weniger aufgelöst?

Mathias Rohe: Im Rechtsbereich haben sich diese weitgehend aufgelöst, weil es für zulässig erachtet wurde, dass man mehr und mehr auch aus den Meinungen anderer Rechtsschulen geschöpft und diese Meinung um Gesetz gemacht hat, so dass wir zum Beispiel in Ägypten eine Mischform von shafiitischem, hanefitischem und malekitischem Recht haben. In einigen Staaten ist es noch so, dass man dann, wenn es keine bestimmten Gesetze gibt, auf die Ansichten einer bestimmten Rechtsschule zurückgreifen soll. Aber insgesamt muss man sagen, dass sich diese Schulen stärker im religiösen Bereich erhalten haben, wo es zum Beispiel Unterschiede gibt, wie man sich beispielsweise beim Gebet ganz genau körperlich verhalten soll, während sie im Rechtsbereich eigentlich weitgehend ihre Bedeutung eingebüßt haben.

Wenn man sich die heutigen islamistischen Ideologen anschaut, die etwa Terror als legitimes Mittel ansehen, dann lehnen die Rechtsschulen dies als unerlaubte Neuerung ab. Kann eine Ablehnung der traditionellen Rechtsschulen zu solch einer Radikalisierung führen?

Mathias Rohe: Manche der Traditionellen, die Gewalt sehr stark ablehnen, sagen, gerade sie seien der Garant dafür, dass die Religion nicht aus dem Ruder läuft. Ich glaube allerdings nicht an diese stabilisierende Wirkung irgendwelcher Schulen im Moment. Woher holen die Radikalen ihre Ansichten? Woher holt eine junge Muslimin, ein junger Muslim heute die Informationen, wenn sie irgendetwas über ihren Glauben wissen wollen? Shaykh Google! Also man geht ins Internet. Man guckt, was man da für Botschaften findet. Und da gibt es keine Websites irgendwelcher Rechtsschulen, sondern vielleicht von irgendwelchen charismatischen Figuren, von irgendwelchen Exzentrikern, Extremisten oder Reformern. Da kann man sich das ganze Repertoire holen. Die Globalisierung hat auch vor dem Islam nicht Halt gemacht, und es ist noch völlig unausgelotet, wohin eigentlich in dieser Hinsicht die Reise gehen wird.

Was für eine Rolle spielt das islamische Recht für die in Deutschland lebenden Muslime?

Mathias Rohe: Es kann eine Rolle spielen, soweit das deutsche Recht das vorschreibt oder zumindest zulässt. Eins muss klar sein – man hat verbreitete Ängste vor einer Islamisierung Europas oder Deutschlands, diese Ängste sind aus Rechtssicht vollkommen unbegründet, denn es gilt alleine deutsches Recht in Deutschland. Es ist ein internationaler Grundsatz, dass das nationale Recht gilt. Aber das deutsche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass wir ausländisches Recht, sei es nun französisches oder jordanisches oder brasilianisches Recht, in bestimmten Fällen privater Beziehungen anerkennen, bei denen wir davon ausgehen, dass die Menschen unter der Geltung fremden Rechts ihre Verhältnisse geordnet, eine Ehe geschlossen, zwanzig Jahre gelebt, Ehegüter und ähnliches mehr erworben haben, und dass sie dann, wenn sie nach Deutschland kommen, nicht auf einmal deutschem Familienrecht unterliegen sollen, das sie inhaltlich vielleicht gar nicht kennen und das ihre Erwartungen enttäuschen würde. Also in diesen Fällen ist unser Recht der Auffassung, dass die Anderen näher dran sind, weswegen wir dieses fremde Recht annehmen.

Aber auch das hat eine Grenze in der ordre publique, das heißt, wenn das Ergebnis der Anwendung dieses fremden Rechts mit unseren Rechtsvorstellungen so über Kreuz liegt, dass es für uns unerträglich wäre, dann sagen wir, wir sind nicht bereit, diese fremden Normen in diesem Fall anzuwenden, d.h. wir behalten uns auch da die Souveränität vor, uns zu entscheiden, ob und wie weit wir diese fremden Normen anwenden. Dazu kommt noch das so genannte dispositive Recht, das Bürgerliches Recht, also beispielsweise um die Möglichkeit, selbst Verträge gestalten zu können. Mittlerweile gibt es islamische Investments und ähnliche Dinge mehr, das ist rechtlich gesehen zulässig. Es gibt Ökobanking, es gibt christliche Investments, warum soll es keine islamische Investments geben? Wenn das seriös betrieben wird, die Leute nicht über den Tisch gezogen werden, was leider manchmal auch vorkommt, dann ist das zulässig, auch wiederum im Rahmen des deutschen Rechts.

Was sagt das islamische Recht über die Muslime aus, die in einer nichtmuslimischen Rechtsordnung leben?

Mathias Rohe: Es gibt eine 1000 Jahre alte Tradition im islamischen Recht, die so ungefähr besagt, dass der Muslim, der sich im nichtislamischen Ausland aufhält, die dortigen Gesetze respektieren und einhalten muss, wenn er dort genug Sicherheit hat und seinen Glauben nicht aufgeben muss. Wenn er unter Bedrohung kommt, dann soll er wieder auswandern. Nach dieser alten Lehre ist es also eine Pflicht des ordentlichen Muslims, die Gesetze einzuhalten, nicht nur weil dies verlangt wird, sondern auch aus seinen religiösen Gründen.

Man muss allerdings auch sagen, dass diese alte Lehre aus einer Zeit stammt, in der sich die Lager oft feindselig gegenüber standen. Man ahnt darin den Geist dieser Konfrontation, die von beiden Seiten bestand. Deswegen sagen sehr viele Gelehrte heute, das sei ein veraltetes Konzept. Das steht auch nicht im Koran, sondern das haben die Juristen so entwickelt. Sie sagen, heute leben wir alle auf einer Erde und nicht mehr in zwei verschiedenen Lagern. Deswegen sei es auch wichtig, dass sich die Menschen als Staatsbürger in den Staaten engagieren, in denen sie leben, egal ob sie Muslime, Juden, Christen, Atheisten oder was auch immer sind. Sie sollten das als gemeinsame Aufgabe ansehen. D.h. im Grunde sehen sie auch Länder wie Deutschland oder Frankreich als islamische Länder an, weil man dort nämlich auch die Religion des Islam im Rahmen der Religionsfreiheit frei praktizieren kann .

Oft wird das islamische Recht insgesamt als veraltet dargestellt. Gibt es überhaupt moderne Ansätze?

Mathias Rohe: Die gibt es durchaus. Wenn wir uns heute das Szenario des islamischen Rechts anschauen, zum Beispiel im Familienrecht oder Erbrecht - das ist der Bereich, in dem islamische Traditionen noch am stärksten vorhanden sind -, dann erkennen wir immense Unterschiede etwa zwischen Marokko und Tunesien auf der einen und Saudi-Arabien und anderen sehr traditionellen Staaten auf der anderen Seite, obwohl die alle von sich sagen, dass sie auf der Basis der Scharia, der islamischen Normenlehre, ihre Normen geschaffen hätten. Woher kommt das? Nun, weil die Quellen unterschiedlich gelesen werden.

Wer sich sehr stark an den Wortlaut eines Korantextes orientiert, der wird beispielsweise diese patriarchalische Grundstruktur im Geschlechterverhältnis beibehalten. Wer – wie andere Gelehrte das tun – eine dynamische Lektüre bevorzugt, wer nach Sinn und Zweck dieser Regelungen fragt, der wird sagen, die Antwort des 7. Jahrhunderts kann eine andere sein als eine im 21. Jahrhundert, und prüft dann, welche Erfordernisse im 21. Jahrhundert bestehen. Der Islam hat in seiner Geschichte einigen Erfolg gehabt, weil und soweit es ihm gelungen ist, sich an die jeweiligen örtlichen und zeitlichen Verhältnisse auch anzupassen. Ein gewisser Kernbestand des Glaubens ist unantastbar, also das Bekenntnis zu dem einen Gott und die fünf Säulen, aber in allen anderen Bereichen gibt es ein sehr hohes Maß an Flexibilität. Das hat es gegeben und gibt es auch nach wie vor. Von daher muss man schon sagen, das Bild ist sehr bunt geworden.

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